Ménage à trois auf Schwedisch

27.12.2006
Das Setting dieses Romans von 1895 ist bekannt: ein haltloser junger Mann, der Tag träumend durch sein Leben stolpert, und zwei junge Mädchen, die hingabesüchtig ihre Zukunft aufs Spiel setzen. Doch wie Hjalmar Söderberg, der bei Erscheinen dieses Erstlings gerade 26 war, das umsetzt, hat seine Geschichte in Schweden zu einem Klassiker gemacht.
Er ist gerade 20 geworden und hat die erste große Hürde seines Lebens genommen. Nach dem erfolgreichen Medizinexamen gönnt er sich zum ersten Mal eine kleine Auszeit. Tomas Weber, der junge Mann aus guter Familie, hat glänzende Aussichten und vor allem eine große Wirkung auf junge Damen. Gleichzeitig verliebt er sich in das Ladenmädchen Ellen und die Gymnasiastin Märta, und mit beiden zugleich treibt er sein erotisches Spiel. Tändelnd zieht er durch die Tage, seine Hauptbeschäftigung ist der Müßiggang, er leiht sich da und dort Geld, bis er in die Fänge eines Wucherers gerät.

"Sie wollen geliebt werden, aber sie fürchten nichts so wie die Liebe", heißt es über ihn und seinesgleichen. "Sie haben Abenteuer, doch die Leidenschaft meiden sie. Verantwortung können sie nicht übernehmen, für gar nichts, weder für das, was sie tun, noch für das, was sie unterlassen."

Das Thema von der Verführung kennt man aus der zeitgenössischen Literatur, aus Schnitzlers "Liebelei" etwa. Auch die Figuren sind bekannt: der haltlose junge Mann, der tagträumend durch sein Leben stolpert, die jungen Mädchen, die hingabesüchtig ihre Zukunft aufs Spiel setzen und am Ende als gefallene Mädchen einem ungewissen Schicksal entgegensehen, die stillen Ehefrauen, die jahraus, jahrein an der Seite ihrer Gatten verdämmern und andere, die ihr Glück in einer heimlichen, flüchtigen Affäre suchen. Die Enge und Provinzialität einer Stadt, in der jeder jeden beaufsichtigt, die Spießbürgerlichkeit, die nicht vorgesehene Autonomie der Frau in ihrem Konventionskorsett, das mögliche tragische Ende der Hauptfigur.

Der Schwede Hjalmar Söderberg war 26, als 1895 sein erster Roman "Verirrungen" erschien. Stilistisch ist er dem Fin de Siècle verpflichtet. Mit impressionistisch hingetupften Skizzen und Dialogen entwirft er Stimmungen, Orte, Personen und komplexe Situationen. Wenig gemein hat er mit den schwedischen Autoren, die gleichzeitig mit ihm in den 1890er Jahren debütierten und von denen Selma Lagerlöf die bekannteste wurde. Dort herrscht ein weltflüchtiger Naturalismus vor, den man bei ihm zum Glück nicht findet, dafür aber gesellschaftskritische Passagen, die sich auf die Institution der Ehe, auf Bigotterie und Doppelmoral beziehen.

Wie in seinen späteren, autobiographisch eingefärbten Romanen "Martin Bircks Jugend" ( 1898), "Doktor Glas" (1905) und "Das ernsthafte Spiel" (1912) erzählt er in "Verirrungen" die Geschichte eines jungen Mannes als kurz gefasstes Drama einer Entwicklung. Dabei verzichtet er konsequent auf einen direkten Autorenkommentar. Nie doziert er, nie zensiert er. Was ganz unbeschwert und scheinbar oberflächlich daherkommt, ist genau choreographiert.

In der Dinnerszene, die an Gorkis "Sommergäste" erinnert oder an Tschechows Abendgesellschaften im "Kirschgarten", entfalten sich die Gespräche nur scheinbar zufällig, in unaufgeregtem Parlando plätschern sie vor sich hin. Doch jedes der dort angesprochenen Themen taucht später wieder auf und bekommt so seine romantragende Bedeutung. Nur wenn man sich an die dort kurz erwähnte sentimentale Verbindung zwischen Konsul Arvidson und Tomas‘ Mutter erinnert, versteht man, warum der Konsul später zu Tomas‘ heimlichem Wohltäter wird und dessen Schulden bezahlt.

Auch die immer wiederkehrenden, symbolisch aufgeladenen Farben nutzt Söderberg, um eine eigentümlich dichte Atmosphäre herzustellen. Grün und Blau etwa sind die Töne der sommerlichen Leidenschaft, Grau und Weiß die der Melancholie, wenn kurz vor Jahresende sich die Ausweglosigkeit andeutet, in die der jugendliche Held sich verstrickt hat.

Söderberg spricht uns sofort an, so unmittelbar, als verhandle er unsere eigene Sache. Dabei ist das Schicksal des Tomas Weber und seiner beiden Geliebten, so sehr es bewegt, fast Beiwerk, die Figuren, so plastisch sie dem Leser entgegentreten, beinahe Staffage gegenüber dem Stil und der Kompositionsfertigkeit Söderbergs.

Seine Modernität beruht auf der geschickten Verbindung sehr verschiedener Kunstformen. Wie in einem Drama treten nacheinander die Figuren auf, die Haupt- und Nebenpersonen, Freunde des Helden, Eltern und Widersacher. Auch die vielen, nur kurz angerissenen, meist lakonischen Dialoge, klingen, als entstammten sie einem Bühnenstück. Söderberg setzt aber auch filmische Mittel ein, als erwiese er dem soeben erfundenen Medium seine Reverenz. Da gibt es immer wieder Brüche im Erzählfluss. Beeindruckend ist Söderbergs mit leichter Hand geführter Perspektivwechsel, der nie aufgesetzt oder bloß artistisch wirkt.

Da er ausführliche Psychologisierungen meidet, den Seelenzustand seiner Figuren lieber in ihren Gedanken und Handlungen lesbar macht, erhöht sich die Intensität seiner Szenen. Ob ein Schiff über die Schären gleitet oder durch die Straßen Stockholms flaniert wird, ob ein Gang durch den Schlosspark ins Märchenhafte abgleitet oder ein Mädchen vor Stucks Bild "Die Sünde" Reißaus nimmt, alles hat Farbe, Atmosphäre und steht dem Leser mit enormer Unmittelbarkeit vor Augen. Söderberg gelingt es, die bürgerliche Sphäre genau, mitunter bizarr und komisch wiederzugeben, ohne doch die einzelnen Personen einfach dem Spott auszuliefern. Eine gewisse Sympathie ist spürbar mit diesen unfreien Menschen, die nicht aus Bösartigkeit böse sind.

Aus dem informativen Nachwort Joachim Schiedermaiers lässt sich manches über das Schicksal des Außenseiters Hjalmar Söderberg erfahren, der als kämpferischer Feuilletonist und Autor zwar international gefeiert wurde, sich aber mit 40 Jahren aus Schweden absetzte, weil ihm seine Antibürgerlichkeit dort immer wieder zum Ärgernis wurde.

Erstaunlich ist, dass der stimmungsvolle Roman des schwedischen Klassikers mehr als 110 Jahre brauchte, bis er seinen Weg nach Deutschland gefunden hat. Den Vergleich mit den kürzlich wiederentdeckten Romanen des Dänen Hermann Bang etwa, fabelhaften Panoramen der Gesellschaft um die letzte Jahrhundertwende, braucht er nicht zu scheuen.

Rezensiert von Edelgard Abenstein

Hjalmar Söderberg, Verirrungen.
Aus dem Schwedischen von Verena Reichel.
Piper-Verlag. 204 Seiten, 16 Euro 90