Meisterliches Geschichtsbuch

Rezensiert von Wilhelm von Sternburg · 24.08.2007
Sie sterben aus, die Zeugen eines schrecklichen Jahrhunderts, der Zeit des zweiten Dreißigjährigen Krieges, der Europa zwischen 1914 und 1945 heimsuchte. Ihre in Büchern, Artikeln, Film- und Tonaufzeichnungen festgehaltenen Erinnerungen aber bleiben unverzichtbare Dokumente des Falls der abendländischen Hochkultur in die Barbarei.
Die Historiker haben in zahllosen Studien die Jahre vor und nach dem Ersten Weltkrieg, des Nationalsozialismus und des Bolschewismus oder des Kalten Krieges zwischen den beiden Supermächten beschrieben und analysiert, uns deutlich gemacht, wohin politische Blindheit, ideologische Verführung und maßloser Nationalismus die Völker Europas, insbesondere das mächtige Land in der Mitte des Kontinents, geführt haben. Was all diese Ereignisse aber wirklich für die Miterlebenden bedeutet haben, das lässt sich auf besondere Weise spüren in den persönlichen Erinnerungen der Überlebenden. Die Schrecken des Schützengrabens und der Bombennächte, der Konzentrations- und Straflager, des alltäglichen Terrors und der Bürgerkriege, des Hungers und der Massenvertreibungen – erst die Aufzeichnungen der Entkommenen lassen uns ahnen, zu welch ungeheuerlichen Taten der Mensch fähig ist.

Nun hat Fritz Stern, der große amerikanische Historiker, seine Memoiren vorgelegt. Es ist ein meisterliches Geschichtsbuch geworden. Denn Stern erzählt nicht nur sein Leben, das auf eine jahrzehntelange, glanzvolle akademische Karriere zurückblicken kann, sondern er stellt es auf faszinierende Weise in das Flussbett der Geschichte seiner Zeit. Schon der Titel - "Fünf Deutschland und ein Leben" – deutet an, dass es sich dabei vor allem um die Geschichte des Landes handelt, in dem er geboren und aus dem der Zwölfjährige 1938 vertrieben wurde.

Die Geburtsstadt ist Breslau, wo seine Familie seit Generationen lebte. Dort wächst Stern im bildungsbürgerlichen Milieu einer deutschen Akademikerfamilie auf. Urgroßvater, Großvater und Vater sind erfolgreiche Mediziner. Nicht nur begabte Ärzte, sondern auch forschende und lehrende Hochschuldozenten. Die Mutter – selten in dieser Zeit – hat studiert, schreibt später Bücher über Kinderpädagogik und leitet Reformkindergärten. Bis die deutsche Welt vollends dem Wahn des Antisemitismus verfällt, spielt der jüdische Ursprung der konvertierten Familie Stern in ihrem Alltagsleben kaum eine Rolle. Assimilierte, hoch gebildete, sich zutiefst der deutschen Kultur zugehörig fühlende Menschen sind es. Der Chemie-Nobelpreisträger Fritz Haber ist ein wichtiger Freund der Familie, es gibt private oder berufliche Beziehungen zu bedeutenden Naturwissenschaftlern – etwa Albert Einstein – und Ärzten – etwa Ferdinand Sauerbruch. In der heilen, selbstgewissen Vorkriegswelt des deutschen Bürgertums wächst Fritz Stern auf. Die Kultur nicht die Religion bestimmt das Leben der Familie.

"Meine Urgroßeltern und Großeltern teilten ganz und gar diese ´Kulturreligion`, die sie auf eine selbstverständliche Weise mit Nichtjuden verband. Ich vermute, dass sie ihre deutsche Lyrik weit besser kannten als ihre hebräischen Psalmen; gegenüber jüdischen Ritualen und Bräuchen empfanden sie eine peinliche Fremdheit. Und wie rasch sich dieser Wandel vollzogen hatte! Innerhalb von nur zwei bis drei Generationen hatten die deutschen Juden ihren eigenen Dialekt, das Judendeutsch, eine Abart des Jiddischen, aufgegeben und waren gänzlich deutschsprachig geworden – vermutlich mit gelegentlichen Rückgriffen auf das eine oder andere jiddische Wort, wenn sie etwas nicht ausdrücken konnten."

Schon die europäische Urkatastrophe, der Erste Weltkrieg, greift tief in das Leben der Sterns ein. Der Vater erlebt ihn als überzeugter deutscher Patriot und kehrt als Leutnant in das Zivilleben zurück. Im Gefolge der Hyperinflation von 1923 verlieren die Sterns einen großen Teil ihres Vermögens. Die Republik erliegt ihren Gegnern und bald wachsen die lebensbedrohenden Zeichen für die deutschen Juden. Erst seine Isoliertheit auf einem Breslauer Gymnasium - er ist der einzige jüdische Schüler in seiner Klasse - macht Fritz Stern sein Judentum bewusst.

"Ich war ab April 1936 über zwei Jahre am Maria-Magdalena-Gymnasium, und mit jedem Halbjahr wurde es unangenehmer, wuchs mein Gefühl des Ausgeschlossenseins. Die meisten Klassenkameraden waren in der Hitler-Jugend, und an besonderen Tagen – beispielsweise am Führergeburtstag – erschienen sie in Uniformen. Auch ohne Uniformen ließen sie einen spüren, dass sie auf Deutschland und den Nationalsozialismus stolz waren und sich freuten, einer Gemeinschaft anzugehören. Gelegentlich war ich Zielscheibe verbaler und - auf dem Schulhof – physischer Attacken. … Die Schule war schon anstrengend genug, und durch das hinzukommende Ausgeschlossensein und die Bedrohung wurde es noch schlimmer."

Kurz vor den Pogromen vom 9. November 1938 gelingt den Sterns die lebensrettende Flucht. Die Vereinigten Staaten von Amerika werden zur neuen Heimat. Die persönlichen Erlebnisse in Deutschland, die immer noch schwer nachvollziehbare Geschichte einer hochkultivierten Gesellschaft, die mit der menschlichen Zivilisation bricht, prägen Sterns Leben und Denken. Amerika aber wird zur lebenslangen Liebe.

Stern entwirft parallel zur Schilderung seiner Breslauer Jugend und seines Lebens an den Universitäten Amerikas ein gelungenes Panaroma der historischen Entwicklungen, die die eigene Existenz so einschneidend bestimmt haben. Eine gelungene Dramaturgie dieses Buches ist das. Für den Leser entsteht so ein spannendes und zumindest für die Jahre bis 1945 überaus deprimierendes Bild von Deutschland. Das Kaiserreich und Weimar, das Dritte Reich und die beiden Nachkriegsdeutschland, die dann in einer geschichtlichen Glückssekunde wieder zusammenfinden – der Fachwissenschaftler Fritz Stern ist da in seinem Element. Was er als Historiker beschreibt ist nicht neu, aber die sehr persönliche Perspektive, aus der hier erzählt wird, gibt manchen überraschenden Einblick in die Verwerfungen der deutschen Gesellschaft.

<im_39973>Fritz Stern: Fünf Deutschland und ein Leben</im_39973>"Jahrzehnte der Forschung und Erfahrung haben mich zu der Überzeugung gebracht, dass die deutschen Wege ins Verderben, einschließlich des Nationalsozialismus, weder zufällig noch unausweichlich waren. Der Nationalsozialismus hatte tiefe Wurzeln, und dennoch hätte man seinen Aufstieg verhindern können. Ich wurde hineingeboren in eine Welt, die sich vor dem Absturz in eine vermeidbare Katastrophe befand. Und ich bin zu der Einsicht gelangt, dass kein Land immun ist gegen die Versuchungen solcher pseudo-religiösen repressiven Bewegungen, wie ihnen Deutschland erlag. Die Zerbrechlichkeit der Freiheit ist die einfachste und tiefste Lehre aus meinem Leben und aus meiner Arbeit."

Freiheit – das ist ein Schlüsselbegriff in Sterns Denken. Das Erleben der deutschen Diktatur bleibt unvergessen, ist zweifellos eine der Wurzeln, die ihn zu einem unbedingten, leidenschaftlichen Liberalen werden lassen. Auch davon zeugen seine Erinnerungen. Als Amerikaner kämpft er gegen die machtpolitischen Auswüchse einer Großmacht, die Tod und Schrecken in Vietnam oder aktuell in der arabischen Welt verbreiten. In Anzeigenkampagnen und zahlreichen öffentlichen Auftritten geißelt er den Vietnamkrieg, Georg W. Bush ist für ihn ein "Verleumder des Liberalismus", für die radikalen, sich autoritär gebärdenden Auswüchse der Studentenbewegungen Ende der sechziger Jahre an den deutschen und amerikanischen Universitäten findet er harsche Worte der Ablehnung.

"Meine politische Einstellung war die eines kritischen Liberalen, den das Leben und die Literatur davon überzeugt hatten, dass die Freiheit das höchste Gut und dass staatsbürgerliche Mitwirkung eine Pflicht und zugleich ein Privileg ist. Mein Leben spielte sich ganz und gar in den Vereinigten Staaten ab, aber meine Bindung an Europa und meine Wissbegierde gegenüber Europa blieben eine starke innere Triebkraft."

Der Weg zurück in die deutsche Welt ist ihm nicht leicht gefallen. Aber das Land seiner Herkunft gerät dann doch in das Zentrum seiner historischen Arbeiten. Sie befassen sich mit Bismarck und seinem Bankier Bleichröder, mit dem modernen Totalitarismus, mit vielen großen Gestalten aus der deutschen Wissenschaft und der deutschen Politik. In Deutschland hat er Lebensfreundschaften geschlossen – mit dem bedeutenden Soziologen Ralf Dahrendorf beispielsweise oder der einstigen Zeit-Chefin Gräfin Dönhoff. Hier ist er bald vielfach geehrt worden, Ehrendoktorwürden, der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der Leser seiner Erinnerungen erfährt von diesem schwierigen Weg, der ihn nicht mit der deutschen Vergangenheit, aber wohl doch mit der deutschen Gegenwart versöhnt hat. Jedenfalls deuten dies die letzten Sätze seines Buches an, in denen er von der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Breslauer Universität berichtet.

"Es war schon immer mein Wunsch gewesen, gegenüber jenem Teil meiner Vergangenheit, die mich mit meinen Eltern und ihrer Welt verband, bevor sie zerstört wurde, fair und loyal zu sein, das, was daran in Ordnung war, zu ehren und ihre Zerstörung zu verstehen. Ich war zurückgekehrt an den Ort meines Ursprungs. Ich war angekommen in einer Welt, die mich geformt hatte. Ich fühlte, das war gut so, fühle es noch immer."

Fritz Stern: Fünf Deutschland und ein Leben - Erinnerungen
C. H. Beck Verlag, München 2007