Meister des Phantastischen Realismus

21.06.2007
Der jüdisch-kolumbianische Schriftsteller Memo Anjel, Jahrgang 1954, Professor für soziale Kommunikation in seiner Heimatstadt Medellin, wurde erstmalig 2005 ins Deutsche übersetzt. Sein Roman "Das meschuggene Jahr" sorgte für so großes Aufsehen, dass ihn der DAAD für ein Jahr als Gast nach Berlin einlud; in dieser Zeit sind gleich zwei Bände mit Erzählungen entstanden.
Die 14 Geschichten des Bandes "Das Fenster zum Meer" spielen tatsächlich meist entweder am Meer, in Hafenstädten oder an Flüssen wie am Amazonas oder am deutschen Main:

"Ich war vom Wasser und der Sünde umgeben, ... vom immer Neuen und Alten."

Der Leser unternimmt eine Reise um die Welt, erlebt Kolumbien, Argentinien, Deutschland, Paris, Algerien, dann eine Reise durch die Zeit von den 30er Jahren bis in die Jetztzeit und drittens eine Reise durch verschiedene Kulturen, durch die eigene jüdische des Autors, durch die mediterrane, die lateinamerikanische und auch durch die deutsche.

Die Geschichten des Erzählbandes "Das Fenster zum Meer" verzaubern den Lesern, versetzen ihn in eine Art Trance: prall, sinnlich, voller Tango-Musik, voller Farben und Gerüche von Parfüms, von heißer Schokolade, von überreifen Papayas. Oft sind es surreale Geschichten - Anjel ist ein Meister des so genannten "Phantastischen Realismus"; da werden Männer von betrogenen Frauen verhext, da gibt es einen Mörder, der sich selbst umbringt, einen Vorleser, der sich Romane ausdenkt, weil er gar nicht lesen kann, eine Frau, die sich in einen Geige spielenden Schatten verliebt und Krabben, die eine Stadt überfallen.

Und regelmäßig, wenn Anjel den Leser in Trance versetzt hat, weckt er ihn wieder auf, mit vollkommen überraschenden Wendungen, mit Sex oder mit einem sehr schrillen wie auch feinen und philosophischen Humor.

In Anjels anderem Erzählband "Geschichten vom Fenstersims" taucht das Meer hingegen nur ein einziges Mal auf, und zwar vergleicht Anjel die Stadt Berlin mit einem "stürmischen Meer", denn Berlin ist ausnahmslos das Hauptthema dieser 33 Geschichten. Im Vergleich zu jenen in "Das Fenster zum Meer" sind diese deutlich kürzer und nicht so vordergründig prächtig sondern spartanischer, geraffter, tragen mehr Werkstatt-Charakter; man erahnt die 700 Seiten Tagebuch, die Anjel während seines einen Jahres in Berlin geschrieben hat.

Was aber an diesen Geschichten fasziniert, ist: Memo Anjel schreibt hier geradezu losgelöst, was schwarzen Humor, sexuelle Phantasien, philosophische Betrachtungen und surreale Motive betrifft. Da fliegen auch mal Menschen durch die Straßen wie auf einem Chagall-Bild, und die Stimmung ähnelt der in dem Film "Der Himmel über Berlin". "Geschichten vom Fenstersims" ist auf jeden Fall eine der schönsten Liebeserklärungen an Berlin, die je geschrieben wurde.

Als Einstiegsdroge sei dem Leser "Das Fenster zum Meer" empfohlen mit seinen perfekten Geschichten, die Sonne und Exotik atmen, beste Unterhaltung bieten und trotzdem so tief(sinnig) wie das Meer sind, ein Zaubermittel gegen schlechte Laune. Aber Anjel macht süchtig, also wird der Leser nicht umhin können, sich auch die ebenso verzaubernden Berliner "Geschichten vom Fenstersims" kaufen zu müssen.

Rezensiert von Lutz Bunk

Memo Anjel: "Das Fenster zum Meer"
Übersetzt von Peter Schultze-Kraft
Rotpunktverlag 2007
163 Seiten, 18.90 Euro

"Geschichten vom Fenstersims"
Übersetzt von Juana und Tobias Burghardt
Matthes und Seitz Verlag, Berlin 2007
157 Seiten, 16.80 Euro