Meine Woche auf der Alp

Heidi kann warten

Die Alp
Leben in der Berghütte - wie gut kommen Leute aus der Stadt hier zurecht? © Kai Adler
Von Kai Adler  · 01.10.2017
Das Leben auf der Alp ist einfach, die Arbeit hart, der Kontakt zur Natur unmittelbar. Was macht das mit einer verwöhnten Städterin? Ein Selbstversuch.
"So, Üerli, sag mir einfach, was ich machen soll!"
Üerli drückt mir einen Stock in die Hand. Ich stelle mich vor den Kuhstall, aus dem er die Tiere zu treiben versucht.
"Wenn du so stehst, gehen die, die haben Angst vor dir."
"Ach, so, die haben Angst vor mir. Ich hab Angst vor denen, aber ich glaube, das ahnen die nicht."
Ich laufe seitlich, versuche, die Kühe in die richtige Richtung zu lenken, indem ich vorsichtig auf sie zugehe. Üerli schüttelt den Kopf und macht eine wegwerfende Handbewegung. Er tritt einem Tier, das sich meinen Aufforderungen widersetzt, energisch in die Seite.
Ich habe kapiert: Mit den großen Tieren muss ich energischer sein! Leichter gesagt als getan. Die sind fast so groß wie ich mit meinen 1,80 Meter, ich habe Schiss. Endlich bewegen sie sich dann doch den steinigen Weg hinunter.

Kein Handyklingeln, kein Stress?

Es ist mein erster Tag auf der Alp. Als Freiwillige habe ich mich bei der Schweizer Caritas gemeldet, um eine Woche auf einem Bergbetrieb zu helfen. Wie viele, die sich für einen solchen Arbeitseinsatz melden, habe auch ich noch nie Kühe gesennt oder Misthaufen gekehrt. Ich bin eine Stadtpflanze. Doch mich treibt die Vorstellung von einer alternativen Arbeits- und Lebensweise. Acht Tage auf der Alp, in 2000 Meter Höhe, stelle ich mir zwar hart aber eben auch erfüllend vor. Ohne Handyklingeln, ohne Stress, ohne den ganzen Luxus, den auch ich irgendwie für selbstverständlich halte - dafür in unmittelbarer Nähe zur Natur.
Doch zunächst kann ich die Natur nur erahnen. Spät nachts, es ist stockdunkel, fahre ich mit Lilian Walthard im Auto hinauf auf 2000 Meter Höhe, auf jene Alp, die sie zusammen mit ihrem Mann Hans-Üerli in den Berner Oberalpen betreibt.
Lilian Walthard ist eine zierliche Frau, die mit ihren 58 Jahren jünger wirkt, als sie ist. Es ist nach elf Uhr abends, als wir zur Alp aufbrechen. Von 800 auf 2000 Höhenmeter.
Ein Crescendo von Glockengeläut weckt mich am nächsten Morgen. Der Ruß, den ich nachts nur erahnte, liegt in dicker Schicht über Wänden und Boden und bedeckt die alten Polstermöbel, die neben meinem Zimmer lagern. Auch im Bad ist alles rußig. Von unten quillt eine neue Wolke dicker, schwarzer Rauch hinauf. Unten wirft Lilian Holzscheite über eine offene Feuerstelle. Ein großer Kupferkessel, gefüllt mit Milch, hängt darüber. Nein, sie kann mich gerade nicht gebrauchen. Ich gehe in den Stall. Dort ist ihr Mann Üerli damit beschäftigt, die Kühe zu melken.

Von Städterinnen hält Üerli nichts

Üerli ist ein kräftiger Mann, mit weißen Haaren und Bart. Sein gesamtes Leben über hat der 68Jährige auf dem Bauernhof verbracht, seit seiner Kindheit hat er jeden Sommer hier auf der Alp gearbeitet, die früher von seinen Eltern bewirtschaftet wurde. Mit aufgeschnalltem Melkhocker geht Üerli nun ruhig zwischen den Kühen umher und macht deutlich, was er von mir, der Städterin, hält: Gar nichts. Ich müsse erst sein Vertrauen gewinnen, hatte Lilian mir abends gesagt.
Zuhause hätte ich schon längst die zweite Tasse starken Espresso in der Hand und fände langsam in den Tag. Hier gehe ich erst einmal in die Küche, um aus dem Rahm vom Vortag die Butter für das Frühstück zu schlagen.
Wenig später sitzen wir vor der Hütte, frühstücken. Lilian ist sehr bemüht, Üerli grummelt. Um uns herum grasen die Kühe. Dahinter, öffnen sich die Berge, majestätisch. Felswände, spärlich von Gras bewachsen, ragen steil in den Himmel und reißen dann, wie mit einem Rasiermesser geschnitten, plötzlich ab.
Nach dem Frühstück geht es ans Misten. Eigentlich Männersache. Doch nach Schulterverletzungen und einem Schlaganfall kann Hans-Üerli diese schwere Arbeit nicht mehr ausüben. Deshalb hatte seine Frau über die Caritas nach freiwilligen Helfern gesucht. Solchen wie mir, die einmal den Alltag eines Alpbetriebes kennen lernen, sich hier oben ausprobieren wollen, die nach einer anderen, ihnen fremden Lebensweise, suchen. Es meldeten sich ausschließlich Frauen - typisch, denke ich: Wir sind einfach neugieriger!

Fitnessprogramm inmitten von Kuhscheiße

Wie all meine Vorgängerinnen habe auch ich noch nie zuvor einen Stall ausgemistet. Schaufel für Schaufel werfe ich auf die Schubkarre, die Üerli für mich dann über eine Leiter hinauf auf einen großen Misthaufen balanciert. Schnell wird mir klar: Ich muss meine Kraft gut einteilen. Schweiß läuft mir hinunter. Bald konzentriere ich mich nur noch auf Wurf- und Hebeltechniken, denke nicht mehr an das Ende meines Tuns sondern gehe Schritt für Schritt beziehungsweise Haufen für Haufen vor. Auch den Stier, der als einziger im Stall geblieben ist, und vor dem ich großen Respekt habe, vergesse ich über mein Tun. Mein Kopf ist leer gefegt, mein Körper arbeitet wie von selbst. Der Rücken schmerzt und auch die Seiten - ein merkwürdiges, tranceartiges Fitnessprogramm inmitten von Kuhscheiße und beißendem Ammoniakgeruch.
Das Bergpanorama im Berner Oberland
Das Bergpanorama im Berner Oberland© Kai Adler
Als ich fertig bin, weiß ich nicht, wieviel Zeit vergangen ist, ich trete hinaus in die Sonne, setze mich an die nahe Kuhtränke und atme den Geruch von Stall, der sich mit dem nach Brennholz und frischem Gras mischt und ich denke: So riecht also Glück.
Seit 25 Jahren verbringt Lilian die Sommer auf der Alp. Ihre drei Söhne und die Tochter haben einen Teil ihrer Kindheit hier zugebracht. Als Lilian vergangenes Jahr wegen der Erkrankung ihres Mannes den Alpbetrieb ganz übernehmen musste, landete alle Verantwortung bei ihr.

Arm aber glücklich

Wie es für sie, den Betrieb, die Tiere, weitergehen sollte, war für das Ehepaar lange Zeit unklar.Eine Rente hat Lilian nicht und von den Alterseinkünften ihres Mannes könnten sie nicht überleben, sagt sie. Nein, sie hätten nichts. Und dabei wirkt sie so glücklich. Überhaupt: Das Wort Glück höre ich hier oft. So nebenbei. Wie selten es sonst verwendet wird! Dabei haben wir doch alles. Und leben ständig im Konjunktiv, arbeiten ewig an unserer Selbstoptimierung, sind dabei allerhöchstens mal zufrieden, denn irgendwie geht es ja immer noch besser. Lilian hingegen kann sich nicht vorstellen, jemals irgendetwas anderes zu tun. Sie sagt von sich, sie sei glücklich mit ihrer Arbeit, ihrem Leben - und hofft, dass der Betrieb noch immer genug abwirft, damit auch sie im Alter davon leben können - wenn ihr Sohn das möchte.
Um mit Lilian zu käsen, muss ich früh aufstehen; von nebenan, wo Üerli frühmorgens melkt, wird die frische Milch direkt hinüber in Lilians Käseküche, in ihren riesigen Kupferkessel vor dem Feuer, geleitet. Lilians Käseküche mit den großen Eimern, Bottichen, Kupferkesseln und Milchkübeln erscheint mir wie ein großes, mittelalterliches Labor.
"Das ist dick genug, jetzt ziehe ich die ganze Galerte rum und fische noch Teile raus, die sich setzen, am Boden. Das nehme ich noch weg. Das ist der Schluck. Das ist so eine Spezialität mit Rahm zusammen. Da kommen welche hoch und wollen extra Schluck und Rahm."

Aufwändige Käsepflege

Die Masse in Lilians Käsekübel hat sich inzwischen in eine Art körnigen Hüttenkäse verwandelt. Neben den großen, vier bis fünf Kilogramm schweren Alpkäsen, stellt Lilian auch kleinere, so genannte Mutschlis her. Alle Käse müssen nach der Pressung in Salzwasser gebadet und danach mehrfach am Tag gewendet und mit Salzlauge eingerieben, die Ränder müssen immer wieder abgeschnitten werden. Käsepflege ist eine aufwendige Arbeit. Lilian verbringt jeden Tag damit. Und verdient daran wenig. Aber so denkt hier oben niemand außer mir. Lilian verkauft ihre Käse vor allem in der Region und auf Alpfesten. Exportiert wird er nicht.
Spätnachmittags werden die Kühe, die ich morgens über den Bach getrieben habe, wieder in den Stall geholt. Ich staune, wie weit die Tiere gelaufen sind. Es ist steil, die Luft dünn und die Wiesen huckelig. Doch Lilian und auch die großen Kühe hüpfen im Verhältnis zu mir leichtfüßig über die Wiesen. Ich stolpere hinterher. Trete in Löcher zwischen Huckeln, die versteckt zwischen Alpblumen liegen. Knicke um, laufe weiter, versuche immer im Zickzack, die Tiere einzutreiben. Üerli würde wieder mal den Kopf über mich schütteln. Die Viecher zeigen sich jedoch wenig beeindruckt von mir, offenbar fehlt mir jegliche Autorität - ganz im Gegensatz zu Lilian. Besonders eine Kuh geht statt zur Herde immer weiter den steilen Hang hinauf. Ich klettere dem schweren Tier hinterher, drohe mit dem Stock, rufe, suche Halt. Es klettert weiter, immer nach oben. Um nicht den Berg hinunter zu fallen, halte ich mich an einem Grasbüschel fest und ziehe mich zu dem Tier hinauf. Gemächlich dreht es den Kopf, kaut, schaut mich an. Aus Mitleid? Oder Spott? Blöde Kuh!
Trotz allem: Die Tiere, deren Schnaufen mich in den Schlaf begleitet, deren Glockengeläut mich morgens weckt und deren Stall ich täglich säubere, die ich nachmittags von der Weide hole, sind mir nicht mehr so fremd wie am Anfang. Für Lilian und Üerli sind sie weit mehr als ihr Broterwerb.

Volksfest am Fernsehschirm

Zwei der drei benachbarten Sennerfamilien kommen am Sonntagnachmittag zum Fernsehen vorbei. Lilian und Üerli sind die einzigen mit Stromanschluss und einem Gerät. Unten im Dorf findet seit einer Woche das große Unspunnenfest statt, ein traditionelles Alpenhirtenfest, das im schweizerischen Interlaken seit 1805 alljährlich gefeiert wird. Ein Großereignis. Doch die Älpler können selbst nicht dabei sein, die Tiere wollen auch an diesem Sonntag versorgt, die Milch will zu Käse verarbeitet werden. Immerhin bleibt der Nachmittag, um wenigsten medial dabei zu sein, schließlich wird heute der große Schwinget-Wettkampf übertragen. Schwingen oder Hosenlupfen ist neben Steinewerfen Schweizer Nationalsport. Alle schauen gebannt auf den Bildschirm, wo schwere Männer in sackähnlichen Hosen eine Art Ringerwettkampf vollführen. Auch die fünfzehnjährige Tochter einer Älplerfamilie ist gekommen.
"Wir haben keinen Fernseher und auch kein Internet und auch schlechten Empfang, aber das ist ganz normal so. Die Hütte ist auch sehr einfach eingerichtet. Ich würde eigentlich auch gar nicht Fernsehen schauen, weil das ist gar nicht interessant."
Ich staune. Fünfzehnjährige Mädchen, die ich kenne, haben meist andere Interessen. Julia kommt mir sehr selbstbestimmt vor. Ich sage ihr das. Sie lacht.
"Also ich bin sehr gern auch hier. Wenn man hier einfach aufwächst, da ist man dann bodenständig und einfach aufgewachsen und schätzt die Sachen so."
Auch ich weiß hier mehr als sonst meinen alltäglichen Luxus zu schätzen: Die warme Dusche, die saubere Wohnung - zuhause. Ich sehne mich danach und bewundere Julia dafür, dass sie so viel freier von solchen Bequemlichkeiten ist, als ich es bin. Sie verbringt jeden Sommer auf der Alp, sogar eine Lehrerin kommt extra herauf, um sie und ihre elfjährige Schwester während der drei Bergmonate auf der Alp zu unterrichten.
Ich finde Julia auf ihre Art sehr stark. Sie ist so ganz anders, als Mädchen, die ich sonst in ihrem Alter kenne. Selbstbestimmter, freier. Sie scheint sich so gar nicht um Moden und Zeitgeist zu scheren. Beeindruckend. Ich hingegen fühle mich an diesem Tag sehr fremd hier. Hosenlupfen, Volksfeste? - ist mir ebenso fremd wie die Geschlechteraufteilung hier.

Ist das Leben hier frei oder ist die Zeit einfach nur stehen geblieben?

Am nächsten Tag ist Lilian ins Dorf gefahren, um ihre Mutter im Krankenhaus zu besuchen. Mir bleibt, ihre Aufgaben, mit Ausnahme des Käsens, zu erledigen. Auch für Üerli soll ich kochen. Ein Mann, der nicht kochen kann? Zwar weiß ich inzwischen, wie ich miste, die Kühe austreibe, wie ich den Käse pflegen muss, aber der Berg Arbeit lastet auf mir. Ich brate Koteletts für Üerli und freue mich, als sie ihm schmecken. Wie zu Zeiten meiner Großmutter, denke ich. Ich schaue aus dem Küchenfenster. Die Abendsonne lässt die Gipfel der gegenüberliegenden Berge in einem kräftigen Rotorange glühen.
Ist das Leben hier wirklich so frei? Oder ist die Zeit einfach nur stehen geblieben? Ich lege mich auf die Holzbank draußen und schlafe vor Erschöpfung ein.
Zwei Tage später, an meinem letzten Tag hier oben, der Alpabtrieb. Der Stier ist als erster dran, er wird mit einem Transporter nach unten gefahren, dann geht es los. Emilie, die Bäuerin, die hilft, hat schon viele Alpabtriebe erlebt. Auch wenn sie selbst nur im Tal wirtschaftet, zieht es sie immer wieder hier hinauf.
Zügigen Schrittes laufen wir hinter den Tieren her. Über Nacht ist Nebel aufgezogen und es regnet unablässig. Das Wetter werde immer extremer, die Wechsel abrupter, meint Emilie, auch die Gletscher schmelzen - eine Folge des Klimawandels, den sie hier unmittelbar erfahren.
"Vor drei Jahren war bei uns am Berg ein Bergsturz und das haben auch gemerkt die Tiere, die sind auch weggelaufen vorher. Die haben die Vibrationen gemerkt im Boden. Da waren vier Kühe weggelaufen vor dem Sturz. Die haben das gemerkt, die Menschen haben das nicht gemerkt. Und da soll noch jemand sagen Dumme Kuh!"
Es ist merkwürdig, wieder ins Tal hinab zu steigen. Seltsam schwer fühlt sich die Luft hier an. Ich merke, wie wohltuend es ist, wieder Bäume zu sehen. Nachdem die Tiere auf die Weide gelassen sind, fahren wir, inzwischen klatschnass, noch einmal mit dem Auto nach oben - ich muss meinen Rucksack holen.

Zurück zu den modernen Annehmlichkeiten

Ich stehe unter dem Dach der Hütte, der Nebel, hat sich etwas verzogen, so dass ich ein letztes Mal auf die Bergkette schauen kann, vor deren Kulisse ich jeden Morgen gefrühstückt habe. Inzwischen hat sich der Regen in einen Wolkensturz verwandelt. Morgen schon wird es schneien. Der Sommer ist zu Ende.
Ich freue mich, in mein bekanntes Leben zurück zu kehren mit all seinen modernen Annehmlichkeiten - allen voran nicht täglich körperlich schuften zu müssen und eine heiße Dusche in einem sauberen Bad zu haben. Und gleichzeitig fühle ich Abschied. Es ist seltsam still hier. Das Schnaufen der Kühe und der Klang ihrer Glocken wird mir fehlen und ich mag ihn so gar nicht gegen Handyklingeln und Verkehrslärm eintauschen. Die Sperrigkeit der Menschen hier ist mir genauso ans Herz gewachsen wie die sanften, störrischen Rindviecher und ich sehne mich überhaupt nicht nach der eitlen Betriebsamkeit der Stadt.
Auch wenn das hier oben nicht meine Welt ist: Sie rückt meinen eigenen Alltag, die Wichtigkeit und Dringlichkeiten der Dinge - oder das, was ich dafür halte - in Relation. Ich bin froh, dass es sie gibt.

Hören Sie hier auch Kai Adlers Abschied von der Alp:
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