Mein Vorfahre und die Queen

21.09.2012
Im Atelier eines Malers in Auckland blickt ein alter Maori während einer Porträtsitzung zurück auf ein bewegtes Leben. Zusammen mit anderen Häuptlingen war er 1863 zum ersten Mal in London, ist Zug gefahren und hat Schnee gesehen. Paula Morris - selbst Halb-Maori - erzählt eine fast wahre Geschichte.
Paratenes beste Zeiten liegen hinter ihm. Gerade versucht die englische Krone dem Rangatira, dem Maori-Häuptling, seine Heimatinsel Hauturu streitig zu machen. Im Atelier eines Malers in Auckland blickt der alte Mann jetzt während einer Porträtsitzung zurück auf ein bewegtes Leben. Unter anderem reiste er 1863 mit einer Gruppe anderer Häuptlinge nach England. Zum ersten Mal im Leben sehen die Maori Schnee, fahren Zug, besuchen Fabriken und werden von der Queen empfangen. Doch so sehr sie den Prunk und Reichtum bewundern, so sehr schockiert sie die Armut, die Ungleichheit und der Dreck.

Es ist diese – fast wahre! - Geschichte, die Paula Morris in "Rangatira" erzählt: die Reise einer Gruppe stolzer Häuptlinge und Krieger vom anderen Ende der Welt ins Dickens’sche London und das England der industriellen Revolution. Morris, 1965 in Auckland geboren, ist selbst Halb-Maori und gehört wie Paratene dem Stamm der Ngati Wai an. Als die Autorin in einem Bildband des Malers Gottfried Lindauer über das Porträt ihres Vorfahren stolperte, begann sie zu recherchieren.

Mit "Rangatira" liegt Morris im Trend. Kaum ein neuseeländischer Autor, der derzeit nicht auf historische Stoffe zurückgreift, ganz egal ob es sich um literarische Schwergewichte wie Witi Ihimaera handelt oder Nachwuchstalente wie Eleanor Catton. Im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals in Berlin versuchte sich Maori-Geschichtenerzähler Joe Harawira gerade erst an einer Erklärung: "Wir greifen nach der Vergangenheit, um die Gegenwart zu verfestigen – und auf die Zukunft vorbereitet zu sein."

Immer wieder kehrt "Rangatira" zur Szene im Atelier des Künstlers in Auckland zurück. Seit ein Fotograf ihm für eine Aufnahme einen traditionellen Umhang falsch um die Schultern gelegt und ihm eine Pfauenfeder hinters Ohr gesteckt hat, ist Paratene misstrauisch, wenn ein Europäer ein Porträt von ihm anfertigen will. Doch Gottfried Lindauer scheint vertrauenswürdig, und so lässt Paratene sich nicht nur von ihm zeichnen, sondern unterhält sich mit ihm auch über sein Leben – und erklärt ihm unter anderem, wie es die Maori mit Sklaverei und Kannibalismus hielten.

Auch Lindauer ist eine historische Figur. 1839 als Bohumir Lindaur in Pilsen geboren, emigrierte er 1874 nach Neuseeland und machte sich dort als Porträtmaler von Maori-Häuptlingen einen Namen. Heute hängt Lindauers Bild von Paratene in der Auckland Art Gallery. Ob die beiden Männer sich jedoch tatsächlich begegnet sind, ist nicht belegt. Manches in "Rangatira" ist wahr, manches stimmt vielleicht, anderes ist schlicht erfunden. Paula Morris stützt sich in ihrem Roman weitgehend auf Paratenes Memoiren und andere historische Dokumente. Doch gleichzeitig vertritt sie Ansicht: "Romanautoren sind Lügner im Dienste einer größeren Wahrheit".

Einfach zu lesen ist das zunächst nicht. Die ersten Seiten des Buchs, voller Maori-Namen und -Stammesbezeichnungen, lassen den deutschen Leser eher verwirrt zurück. Weist man Morris darauf hin, zieht sie sich auf die Rolle ihres literarischen Erzählers zurück: Dem alten Häuptling Paratene sei das herzlich egal. Schließlich schreibe er für sich und seine Nachkommen. Und hat man sich an Wharepapa, Wiremu Pou, Ngahuia und all die anderen Namen gewöhnt, bleibt die eindrucksvolle Geschichte eines kulturellen Austauschs zwischen Neuseeland und England, der nicht selten an eine Schulabschlussfahrt einer Horde 18-Jähriger erinnert. Frauengeschichten und Alkoholgenuss inklusive.

Besprochen von Marten Hahn

Paula Morris: Rangatira
Aus dem Englischen von Marion Hertle
Walde+Graf, Berlin 2012
304 Seiten, 22,95 Euro