"Mein Gott, dein Gott, kein Gott"

Von Matthias Bertsch · 07.07.2012
Interreligiöse Bildung ist an den meisten Kitas nach wie vor ein Fremdwort. Das ist das Ergebnis einer Studie, die Religionspädagogen von der Uni Tübingen in Stuttgart vorgestellt haben. Unter dem Motto "Mein Gott, dein Gott – kein Gott" diskutierten die Forscher auf einer Tagung nicht nur mit Erziehern und Politikern über Anforderungen an interreligiöse und interkulturelle Bildung im Vorschulbereich. Sie stellten auch Kitas aus ganz Deutschland vor, die aus ihrer Sicht schon heute ein Vorbild in Sachen Zusammenleben der Kulturen und Religionen sind.
Wer an einem friedlichen Zusammenleben der Kulturen und Religionen in Deutschland interessiert ist, darf nicht warten, bis Kinder in die Schule kommen, davon ist Albert Biesinger überzeugt. Der katholische Religionspädagoge aus Tübingen hält interkulturelle und interreligiöse Bildung bereits in den Kindertagesstätten für unverzichtbar:

"Die Gefühle von Vorurteilen, Ablehnungen, Ausgrenzungen, die sind blöd oder die sind gut, die entstehen ganz früh bei Kindern; und deshalb bin ich der Meinung, wer es mit Kindern gut meint, muss ganz früh mit ihnen da in einen Kommunikationsprozess gehen, dass sie lernen, sich gegenseitig zu verständigen, dass sie auch lernen: Der Mustafa betet so oder die Ayse isst kein Schweinefleisch. Oder das muslimische Kind lernt dann: die Michaela, die feiert Weihnachten, ganz tolle Sachen zu Hause, haben wir nicht, aber wir haben dafür Ramadan oder das Zuckerfest."

In der Kita "Komsu" in Berlin-Kreuzberg werden Ramadan und das Zuckerfest schon lange genauso selbstverständlich gefeiert wie Weihnachten und Ostern. Auch dass es kein Schweinefleisch gibt, versteht sich hier, wo seit Jahrzehnten auch viele Zuwanderer aus der Türkei und deren Kinder zu Hause sind, von selbst, erklärt Kita-Leiter Gerd Ammann:

"Komsu heißt Nachbar und ist türkisch, das heißt also Nachbarschaftskita. Wir beziehen uns in erster Linie auf unsere Nachbarschaft. Das ist eigentlich die Grundaussage, und die zweite Grundaussage ist natürlich dieses demonstrative: Wir sind zweisprachig: deutsch-türkisch und praktizieren interkulturelle Erziehung."

Grundsätzlich gilt: In jeder Gruppe gibt es eine Erzieherin mit deutschem und eine mit türkischem Hintergrund. Fließend Deutsch sprechen sie beide, schließlich ist Deutsch die gemeinsame Sprache, in der sich alle verständigen können, doch die türkisch-stämmigen Erzieherinnen können den Kindern, die zu Hause türkisch sprechen, in ihrer Muttersprache begegnen.

Gerd Ammann: "Das führt dazu, dass die Kinder mit türkischem Hintergrund verstanden werden und verstehen und einfach auch ihr Selbstwertgefühl gesteigert wird, dass man das Gefühl hat, man wird als Person mit der jeweiligen Kultur wahrgenommen und ernst genommen."

Ein Gefühl, das auch für die türkischen Eltern und Erzieherinnen eine wichtige Rolle spielt. Birsen Yesil arbeitet seit sechs Jahren bei Komsu:

"Ich hab das erste Mal bei meinem Sohn gesehen, als er in die Kita kam, da hatte er auch ne türkische Erzieherin gehabt, und das hat mich sehr gereizt, wie er beidsprachig aufgewachsen ist, und bei Komsu hab ich das gesehen, das ist noch intensiver, viel schöner, mit anderen Kulturen, nicht nur die türkischen und die deutschen, wie sind die Kinder, wie sind die Eltern, das hat mich interessiert."

Doch obwohl Komsu von den Tübinger Religionspädagogen als Beispiel für vorbildliche interreligiöse und interkulturelle pädagogische Arbeit ausgezeichnet worden ist, erfüllt die deutsch-türkische Kita ein zentrales Kriterium der Forscher nicht: den Anspruch auf religiöse Erziehung. Weihnachten wird zwar genauso gefeiert wie das islamische Zuckerfest, doch in beiden Fällen stehe der kulturelle und nicht der religiöse Aspekt der Tradition im Vordergrund, betont Gerd Ammann:

"Wir möchten hier keine religiöse Erziehung vermitteln, hier bei Komsu, und die Religion ist eigentlich eher so die Privatsache der einzelnen Leute, das ist schon common sense."

Eine Haltung, die in städtischen Kitas weit verbreitet ist, so die Dezernentin des Baden-Württembergischen Städtetages, Agnes Christner:

"Für die kommunalen Kindertagesstätten steht in der Tat die religiöse Begleitung nicht im Vordergrund. Natürlich spielen religiöse Fragen ne Rolle in der alltäglichen Kindergartenarbeit, aber es ist eben nicht die Hauptaufgabe und von daher schon eher als Teil der interkulturellen Bildung verstanden und umgesetzt."

Für die Tübinger Forscher ist das nicht ausreichend. Sie fordern, dass das Thema "Gott und Religion" in allen Kitas – egal ob kommunal oder konfessionell – zum Bildungsauftrag gehören sollte. Kinder hätten ein Recht auf Gott, so der evangelische Religionspädagoge Friedrich Schweitzer:

"Dazu gehört aber auch, dass sie entsprechende Anregungen in der Einrichtung finden, Bilderbücher etwa oder dass sie Symbole finden, die sie zu solchen Fragen anregen. Weil man kann nicht immer nur warten, bis Kinder von sich aus solche Fragen stellen, sondern man muss ihnen die Chance geben, diese Fragen zu stellen."

Ein Anspruch, den die kirchlichen Kindergärten - bundesweit rund 50 Prozent der Kindertagesstätten – schon heute verwirklichen. Doch auch für die konfessionellen Kitas gilt: Kinder aus zugewanderten Familien mit einem nicht-christlichem Religionshintergrund sind längst keine kleine Minderheit mehr. In manchen Kitas stellen sie sogar die Mehrheit der Kinder. Wie eine interreligiöse Bildung, die alle Religionen gleichwertig behandelt, aussehen soll, bleibt aber eine schwierige Frage.

Erzieherin 1: "Es ist natürlich dieser Spagat zwischen 'ich habe die richtige Religion', nämlich das Christentum, und auf der anderen Seite 'ich bin aber offen und ganz tolerant allen anderen Einflüssen, die kommen' bringt mich als Erzieherin auch immer wieder an meine Grenzen: Was kann ich noch sagen, was kann ich vertreten, was kann ich Kindern abverlangen oder nicht. Also das sind schon Sachen, die einen zum Nachdenken anregen. Wir haben jetzt aufgehört zu sagen: 'Wir falten die Hände', sondern 'jeder hält die Hände zum Gebet', weil bei uns die muslimischen Kinder nicht die Hände falten, wie es so traditionell hier im christlichen Umfeld ist, sondern die haben sie offen und halten sie gen Himmel."

Die evangelische Erzieherin, die in einer Einrichtung im Großraum Stuttgart arbeitet, in der jedes zweite Kind aus einer muslimischen Familie stammt, will ihren Namen lieber nicht nennen – genau wie ihre Kollegin. Zu viel Offenheit gegenüber muslimischen Kindern könnte ihnen schließlich Probleme mit ihrem kirchlichen Arbeitgeber bereiten.

Erzieherin 2: "Ist natürlich auch von unserer Seite viel Unsicherheit da: Was dürfen wir sagen, was dürfen wir zulassen. Ist es okay, wenn wir von Allah sprechen oder müssen wir immer von Gott sprechen, wer hat jetzt die Welt erschaffen - um mal so ganz banale Themen, die von den Kindern kommen, anzusprechen. Wie weit lassen wir was zu, dürfen wir das zulassen, kommen wir da in Konflikt mit unserem Träger - das sind schon auch für uns viele Fragen, die im Team überlegt werden müssen, wo man sein eigenes Bild finden muss."

Und noch eine Frage beschäftigt die Erzieherinnen immer wieder. Wie gehen wir eigentlich mit jenen – christlichen – Eltern um, denen die religiöse Vielfalt in ihrer Kita zu weit geht?

Erzieherin 2: "Das stößt schon bei manchen Eltern auch auf Widerspruch, weil sie Sorge haben, dass dadurch die eigene Tradition noch mehr verloren geht und eben diese Überfremdung da - ist ein blödes Wort, aber das drückt es eigentlich am besten aus - dass das dann auch noch überhand nimmt: Immer werden da Rücksichten genommen, die eigene Kultur, denk ich, letztendlich ist glaube ich, die Angst, dass die dann verloren geht."

Eine Angst, die übrigens auch den Tübinger Forschern keineswegs unbekannt ist. Friedrich Schweitzer:

"Es gibt sicher auch bei den Eltern gewisse Befürchtungen, bei christlichen Eltern, die nicht zu viel Islam in einem Kindergarten sehen wollen, wohin sie ihre Kinder schicken, und es gibt auch Eltern, die dafür sind, dass die Kindergärten nicht zu viel religiöse Erziehung machen sollen, aber das muss man diskutieren. Man kann mit Themen, die schwierig sind, nicht so umgehen, dass man sie einfach nicht mehr anfasst, man muss sich auf Schwierigkeiten einlassen und sich mit ihnen auseinandersetzen, sonst wird man nie Lösungen finden."

Link zur Studie