Meilenstein der italienischen Nachkriegsliteratur

Rezensiert von Maike Albath · 12.12.2005
Er beschreibt das bunte, chaotische Leben Roms der Nachkriegszeit. Der Roman "Die Uhr" zeigt nicht nur den abenteuerlichen Alltag eines Blattmachers in Zeiten der politischen Wende, sondern ist zugleich ein Psychogramm der italienischen Gesellschaft. Bei seinem Erscheinen kritisiert, gilt er fünf Jahrzehnte später als literarische Entdeckung.
Eine Uhr – das ist nicht nur ein Messgerät der unaufhörlich verstreichenden Zeit, ein Schmuckstück oder Prestigeobjekt, sondern auch ein Symbol für den Eintritt in das Erwachsenenleben. So verhält es sich zumindest für den Helden und Ich-Erzähler von Carlo Levis faszinierendem Nachkriegsroman "Die Uhr".

Sein Vater schenkte ihm zum Examen eine goldene Taschenuhr mit doppeltem Springboden und einer Kette, die diesem wiederum von dessen Vater vermacht worden war. Ein Gedankenspiel über das Mysterium der sich ausdehnenden Zeit in der Kindheit und der Erfahrung der fortwährenden Beschleunigung bildet den Auftakt des Romans, der drei Tage und vier Nächte im November des Jahres 1945 umfasst und ein eindringliches Porträt der italienischen Hauptstadt kurz nach der Befreiung entwirft.

Der Erzähler ist ein Alter Ego des Verfassers. Der Schriftsteller, Maler und Arzt Carlo Levi war 1945 mit seinem autobiographischen Zeugnis über das Leben der Bauern in Lukanien "Christus kam nur bis Eboli" berühmt geworden und hatte sich schon als Schüler für die Belange der Arbeiter eingesetzt. 1902 als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie in Turin geboren, engagierte sich der überzeugte Antifaschist in den zwanziger Jahren für eine liberale Revolution, wurde Mitglied der Gruppe "Giustizia e libertà", bis man ihn wegen seiner politischen Umtriebe 1934 verhaftete und in die Verbannung nach Lukanien schickte, wovon sein literarisches Debüt erzählt.

Nach seiner Verbannung entkam Levi nach Frankreich, kehrte heimlich nach Italien zurück, geriet wieder in Haft, aus der er nach dem Sturz Mussolinis entlassen wurde und versteckte sich bis zum April 1945 in Florenz. Nach Kriegsende beruft ihn die im Untergrund entstandene "Partito d’Azione" als Herausgeber der Zeitung "Italia Libera" nach Rom. Aus dieser Erfahrung speist sich "Die Uhr".

Aber nicht nur der abenteuerliche Alltag eines Blattmachers in Zeiten der politischen Wende ist Gegenstand des Romans, sondern zugleich bemüht sich Levi um ein Psychogramm der Nachkriegsgesellschaft quer durch alle Schichten. Ob seinen Redakteuren, seinen Freunden und Weggefährten aus dem Widerstand, den gerissenen Politikern, den Druckern, seinem Portier, der Zigarettenverkäuferin, dem Kellner einer Trattoria oder den mittellosen und vollständig verwahrlosten Bewohner eines zerbombten Gebäudes in der Vorstadt, allen sind ausführliche Betrachtungen und detaillierte Analysen gewidmet, die sowohl Physiognomie, Kleidung und Sprechweise als auch den inneren Zustand zur Darstellung bringen.

Der beständige Wechsel zwischen äußerer und innerer Welt schließt auch den Erzähler selbst mit ein: Nach einem rätselhaften Traum, in dem er auf einer Gerichtsverhandlung den Besitz seiner Uhr verteidigen sollte, fällt ihm das kostbare Erbstück beim Ankleiden aus der Hand – das Glas zerbricht und das Gehäuse bekommt eine Beule. Dass ihm die Uhr seines Vaters ausgerechnet in einem Moment der politischen Zeitenwende kaputt geht, empfindet er als Mahnung und Zeichen zugleich.

Es handelt sich nämlich um den Tag, an dem sich der Präsident Ferruccio Parri, Kopf einer vom Widerstand eingesetzten Koalition, durch interne Machenschaften und Streitereien zu einer Regierungserklärung gezwungen sieht, die schließlich den Wechsel zu dem christdemokratischen Regime unter Alcide De Gaspari zur Folge haben wird. Die so hoffnungsvoll begonnene neue Zeitrechnung nach der Befreiung scheint sich nicht verwirklichen zu lassen, was sich in der Unachtsamkeit des Helden niederschlägt. Unter Parri, so hatten die ehemaligen Widerstandskämpfer sozialliberaler Provenienz gehofft, sollte ein grundlegender Wandel einsetzen, ein Neuanfang für das gesamte Land. Dass ein Großteil der politischen Repräsentanten die Koalition als ein Zweckbündnis verstand, hatte man außer Acht gelassen.

Immer wieder lauscht der Held dem Echo seiner Empfindungen nach, erinnert sich an Kriegserlebnisse, schildert die Zerrissenheit des Landes und nimmt wie ein überdimensioniertes Auge das wahr, was um ihn herum passiert. Vor dem Gang in die Redaktion begibt sich der Erzähler auf die Suche nach einem Uhrmacher und lässt sich durch das morgendliche Getümmel auf den Straßen treiben: auf den vergangenheitsgesättigten römischen Plätzen haben Schwarzmarkthändler ihre Posten bezogen, ein jeder versucht mit mehr oder weniger legalen Geschäften über die Runden zu kommen, dazwischen vergnügen sich Horden kleiner Kinder.

In der Redaktion erwarten ihn seine Kollegen, bereits in Diskussionen über das politische Geschehen verwickelt, es folgt ein Mittagessen, eine Fahrt durch die Stadt, der Umzug des Helden in ein neues Quartier, schließlich der Abend mit der Regierungserklärung des Präsidenten, die Herstellung der Zeitung in einer vorsintflutlichen Druckerei und die Nacht in seiner neuen Wohnung. Am nächsten Tag erreicht ihn die Nachricht, dass sein Lieblingsonkel Luca, ein beeindruckender Privatgelehrter und Repräsentant des aufgeklärten italienischen Bürgertums, im Sterben liegt: Wir werden Zeugen einer turbulenten Reise nach Neapel.

Als der Held am nächsten Morgen das Haus seines Onkels betritt, ist dieser bereits tot. Das dem Neffen zugedachte Vermächtnis sind seine Forschungsberichte und – so schließt sich der Kreis - seine alte goldene Taschenuhr. In Begleitung zweier Minister kehrt der Erzähler nach Rom zurück, wo er tief in der Nacht lange nach Redaktionsschluss eintrifft. Mit dem Blick über die Dächer und Kuppeln der ewigen Stadt endet "Die Uhr".

Carlo Levi kam mit seinem Roman, den er zwischen 1947 und 1949 verfasste, ein paar Jahre zu spät. Als das opulente Werk mit seiner neobarocken Sprachfülle und den farbenprächtigen Schilderungen 1950 erschien, wollte man von der verpassten Chance zur Neuordnung im Herbst 1945 nichts mehr wissen. Das Interesse an einem Umbruch war längst verflogen, stattdessen ging es um den Wirtschaftsaufschwung und die Verteilung alter Pfründe.

Zahlreiche Genossen Levis, die sich in den Figuren des Romans wieder erkannten, wandten sich verärgert ab. Weil Levi die richtigen Fragen zum falschen Zeitpunkt aufwarf, ging "Die Uhr" trotz der Prominenz des Verfassers sang- und klanglos unter, und auch für die literarischen Qualitäten des Romans hatte man kein Gespür.

Erst in den späten achtziger Jahren, als die gefestigten politischen Strukturen durch das Ende des Kalten Krieges erschüttert wurden, erkannte man den analytischen Wert des Romans. "Die Uhr" ist eine aufregende Lektüre – kaum ein anderer Autor hat die aufgeladene Atmosphäre und die Aufbruchstimmung kurz nach Kriegsende so plastisch darzustellen gewusst und war zugleich politisch so wenig voreingenommen. Wer die italienischen Verhältnisse der Gegenwart verstehen will, findet in Carlo Levi einen klugen Lehrmeister.

Carlo Levi: Die Uhr
Übersetzt von Verena von Koskull
Aufbau-Verlag 2005
488 Seiten