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Fondation Beyeler in Riehn
Rekonstruktion der letzten futuristischen Ausstellung von 1915

Ende 1915 fand in Sankt Petersburg die letzte futuristische Ausstellung mit dem Titel "0.10" statt. Die war zuvor in einem produktiven Chaos entstanden. Die Fondation Beyeler mit Kurator Matthew Drutt hat zwar nicht die gesamte Ausstellung rekonstruiert, aber den Geist und die Ideologie von damals.

Von Christian Gampert | 06.10.2015
    Eine Besucherin betrachtet in der Ausstellung "Auf der Suche nach 0,10" das Werk "Schwarzes Quadrat" von dem russischen Künstler Kasimir Malewitsch.
    Das Werk "Schwarzes Quadrat" von dem russischen Künstler Kasimir Malewitsch in der Ausstellung "Auf der Suche nach 0,10". (picture alliance / dpa - Georgios Kefalas)
    Kurz vor Eröffnung der "letzten futuristischen Ausstellung" in Petersburg war noch gar nicht klar, welche Künstler dort überhaupt vertreten sein würden. Natürlich gab es Streit; die einen sprangen ab, andere kamen hinzu. Ursprünglich waren zehn Künstler vorgesehen, am Ende waren es 14, streng paritätisch je sieben Frauen und Männer. Die Moskauer hassten die Petersburger, und die Kubofuturisten mochten die Suprematisten überhaupt nicht. Wladimir Tatlin arbeitete wie immer mitten in der Ausstellung, als die Eröffnungsgäste kamen, hörte er einfach auf. Später wurden ständig Bilder abgehängt, ausgetauscht, neu produziert, der Wettkampf ging weiter.
    Dieses produktive Chaos, das 1915 mitten in den historischen Gärungsprozessen Russlands stattfand, kommt uns nun in der Fondation Beyeler in einer wunderschön inszenierten, kristallin übersichtlichen Form entgegen. Der Kurator Matthew Drutt kann natürlich nicht die gesamte Ausstellung, aber doch deren Geist und Ideologie rekonstruieren: Malewitschs "Schwarzes Quadrat" als Initialzündung einer gegenstandslosen Malerei versus die von Futurismus und Kubismus inspirierte Gegenstands-Befragung der Tatlin-Gruppe. Viele Werke waren verschollen, aber einiges hat Drutt mühsam wieder aufgespürt.
    "Ich hab da hingeguckt, wo man normalerweise nicht hinschaut. Ich wusste, dass in den 20er- und 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts, Gemälde auf irgendwelche Provinzmuseen verteilt wurden. Da leiht man gewöhnlich nicht aus – aus Usbekistan, Tadschikistan, Daghestan. Das ist weit weg und gefährlich, die Leute sprechen kein Englisch. Es ist wie Detektivarbeit. Die sagen, sie haben das Bild nicht, aber wenn du insistierst, dann haben sie es doch, aber es ist in schlechtem Zustand. Und dann sagt man: Okay, ich bezahl die Restaurierung."
    Malewitschs "Schwarzes Quadrat" war 1915 links unten in der Ecke des Ausstellungsraums angebracht, da, wo in russischen Häusern die Ikonen hängen. Bei Beyeler steht es nun im Zentrum, die gesamte Schau ist darum herumgebaut. Aber wie! In den klinisch weißen Sälen wird mikroskopisch vorgeführt, wie Malewitsch seine geometrischen Formen in Bewegung brachte und auch farblich dynamisierte.
    Der Gegenpol, der mehr an Materialerkundung interessierte Tatlin, wird mit vielen wild in den Raum hinein aufplatzenden Reliefarbeiten vorgestellt, eine Revolution im Denken, die sich noch dem Geschwindigkeitsrausch der Futuristen verdankt und später dann in konstruktivistischen Ingenieurs-Fantasien münden sollte.
    Die Künstler von damals neu entdecken
    Zwei Spuren verfolgt die Ausstellung: Zum einen wird bis in die Gegenwartskunst hinein gezeigt, welche immensen Wirkungen die russische Avantgarde hatte. Nach Malewitschs Urformen Kreis, Quadrat und Kreuz flaniert man in einen Saal, wo eine graue Riesenkiste von Donald Judd steht und Leuchtskulpturen von Dan Flavin. Danach die riesige "Black Sun" von Damien Hirst und Polkes ironisches "Höhere Wesen befahlen" (das Schwarzmalen). Dann Farbfeldmalerei und Hard Edge, Newman, Rothko, Albers, Serra, es ist fantastisch. Malewitsch als Kraftfeld, als Akku bis heute.
    Fast wichtiger aber ist es, die Künstler der historischen Petersburger Ausstellung neu zu entdecken - und damit den optimistisch vorwärtsdrängenden Rausch der Moderne: Tatlins wüst verspannte Konterreliefs, seine kunstfremden Materialien; dann die kubofuturistischen Maschinenbilder von Ivan Kljun, seine "Ozonatoren", Kalkulatoren und vor Geschwindigkeit bebenden Landschaften; die prismatisch aufgefältelten Zeitungen des Michail Menkow – überhaupt spielt ja die Schrift eine Hauptrolle, die Musik, der Sound. Es gibt auch Alltags-Themen wie die fremd gemachten Küchen oder Schreibtische oder Stilleben. Hinter allem spürt man den Konflikt zwischen dem spirituell orientierten Guru Malewitsch und dem am Augenblick, an der Konstruktion, am Kunstfremden interessierten Tatlin.
    Organisiert wurde die Petersburger Schau von Ivan Puni, der aus dem Pariser Kubismus kam, die sinnfreie Poesie liebte und die Malerei in die Skulptur erweiterte, und Xenia Boguslawskaja, die später in der Modebranche arbeitete. Die beiden waren ein Paar. Schön, dass die Liebe manchmal Historisches zustande bringt – wie die Ausstellung 0.10, den Nullpunkt der gegenstandslosen Kunst.