Mehr Menschlichkeit!

Von Ralph Ghadban · 19.11.2005
Anfang der 90er Jahre plädierte Heiner Geißler in einem großen Interview, wie viele andere damals, für Multikulturalität und erwähnte in einem einzigen Satz den notwendigen Respekt vor der Verfassung. Der vorausgesetzte Respekt erweist sich als nicht selbstverständlich und wird im Namen anderer kultureller Werte in Frage gestellt.
Die in der Verfassung verankerten gemeinsamen Menschenwerte hatten ab Ende der 70er Jahre einen anderen Angriff abwehren müssen: die Multiethnizität. Ausgehend von der Fiktion eines ethnisch und kulturell homogenen Nationalstaates hatten Deutsche manche Ethnien, in der Regel außereuropäische, für nicht integrierbar erklärt. Die betroffenen Gruppen idealisierten im Gegenzug ihre ethnische Zugehörigkeit und erklärten sie als der deutschen gleichwertig, wenn nicht überlegen. Sie verlangten ihre Anerkennung neben den Deutschen als abgegrenzte soziale Gruppe in einer multiethnischen Gesellschaft. Ausgrenzung und Selbstabgrenzung waren die Folge. Neben Integration redete man immer häufiger von Desintegration. Der beispiellose Ausbruch der Ausländerfeindlichkeit nach der deutschen Einheit drohte die Gesellschaft zu spalten.

Der Multikulturalismus schien eine ernsthafte Option für die Integration zu sein und als Einziger fähig, alle ethnischen und kulturellen Differenzen unter einen Hut zu bringen. Er hatte in Heiner Geißler einen starken Befürworter gefunden. Parallel zu ihm sinnierte Wolfgang Schäuble in einem Interview mehr über die Gemeinsamkeiten als über die Differenzen. In Anlehnung an das französische Modell sprach er vom Verfassungsnationalismus. Das bedeutete die Aufgabe des ausgrenzenden deutschen Nationalismus zugunsten eines größeren Partizipationsrahmens, der alle Differenzen aufnehmen kann.

Respekt vor der Kultur und Partizipation waren die Schlagwörter dieser Jahre. Ihre Umsetzung durch die Politik erreichte aber das Gegenteil und verschärfte die Trennung in der Gesellschaft, weil die Kultur genau wie die Ethnie früher essentialisiert wurde. Es ging nicht mehr um Integration, die eine Anpassung verlangt, sondern um Akzeptanz, die keine Bedingungen stellt. Erschwert wurde diese Entwicklung dadurch, dass Kultur immer mehr Religion bedeutete. Anders als die Ethnie wird die Religion vom Grundgesetz geschützt. So fiel die Einführung anderer Lebensweisen, die auf eigenen Normen basieren und oft mit den Menschenrechten kollidieren, unter die in der Verfassung garantierte Religionsfreiheit.

Die Kultur, die ethnisch verstanden war, bekam also einen religiösen Inhalt. Infolge der iranischen Revolution von 1979 gewann der Islam an revolutionärem Prestige. Die zweite und dritte Generation der Muslime in Europa, die immer noch nicht integriert war und der eine europäische Identität verweigert wurde, fand in der Religion einen Weg zu ihrer Anerkennung und entwickelte eine eigene islamische Identität, die von den Multikulturalisten in den 90er Jahren akzeptiert wurde. So konnten sie unter der Führung des von den Islamisten organisierten Islam ihre Lebensart allmählich einführen, die von der Geschlechtertrennung bis zur Verlagerung der Sozialarbeit in die Moscheezentren reicht.

Nach fünfzehn Jahren gescheiterter Multikulti-Politik stehen wir heute vor fest verankerten Parallelgesellschaften. Hoffentlich lernen wir daraus, dass Integration kein kulturelles Spiel, sondern harte materielle Arbeit bedeutet. Erziehung zur Demokratie, gute Ausbildung und Arbeitschancen sind die Lösung. Anstatt auf Multikulturalismus muss man sich wieder auf den Pluralismus besinnen, der die Vielfalt auf der Basis der Menschenrechte bedeutet. Der Pluralismus bildet den Kern der Demokratie. Heute ist unabweisbar, dass eine Vertiefung des Verständnisses der Menschenrechte, dass mehr Menschlichkeit unerlässlich ist, um den Pluralismus und unser Zusammenleben besser zu gestalten. Das betrifft vor allem die Muslime, die aus Ländern ohne demokratische Tradition stammen.

Der religiöse Kulturalismus hat zu ungeheuren Exzessen geführt: Zur christlichen Inquisition im Mittelalter und zum islamischen Terrorismus in unserer Zeit. Diese Exzesse sind auf keine Weise zu rechtfertigen. Eine vertiefte Menschlichkeit dagegen wäre sehr zu wünschen.


Ralph Ghadban, 1949 im Libanon geboren, seit 1972 in Deutschland, deutscher Staatsangehöriger. Abschluss eines Philosophiestudiums an der Libanesischen Universität (1972), eines Studiums der Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin (1988) und Promotion im Fach Politologie an der Freien Universität Berlin (2000). Vielseitige Tätigkeit u. a. Leiter der Beratungsstelle für Araber beim Diakonischen Werk Berlin, Lehrbeauftragter an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege, an der Katholischen und an der Evangelischen Fachhochschulen in Berlin. In der Migrationsforschung mit Schwerpunkt Islam tätig. Veröffentlichung einer Monographie "Die Libanon-Flüchtlinge in Berlin. Zur Integration ethnischer Minderheiten" und zahlreiche Aufsätze.