Mehr als nur ein Märchenonkel

Rezensiert von Peter Urban-Halle · 01.04.2005
Da liegt sie nun also, die große, umfassende, mit Witz und Verstand geschriebene Biographie des berühmtesten aller Dänen, Hans Christian Andersen. Ihr Autor Jens Andersen (mit seinem Objekt übrigens <em>nicht</em> verwandt) nennt im Vorwort die Absicht seines Werks: Er wolle den Dichter "so beschreiben, <em>wie er war</em>".
Das klingt bescheiden, ist aber fast anmaßend, suggeriert es doch, er könne in Andersens Inneres hinabsteigen. Das kann er wohl nicht, und natürlich hat er auch Thesen aufgestellt, die über dieses "Wie er war" hinausgehen und es zu deuten versuchen.

Originellerweise beginnt er nicht mit seiner Geburt und der ärmlichen Kindheit in Odense, sondern mit der Ankunft des 14-Jährigen 1819 in Kopenhagen. Mit unvorstellbarer Energie und Chuzpe wollte dieser komische ungebildete Junge die Hauptstadt erobern und verschaffte sich Zutritt zu den wichtigsten Häusern. Vielen erschien er wie ein Rohdiamant, er gewann große Förderer und Gönner, allen voran den Finanzdirektor des Königlichen Theaters, Jonas Collin, und den Physiker Hans Christian Ørsted.

Man kann dieses ungebärdige und ungebührliche Verhalten als kindlich oder gar kindisch ansehen, der Biograph erkennt darin den Urgrund von Andersens Genie.

Jens Andersen: "Diese Vielseitigkeit und diese Neugier mag ich besonders bei solcherart Künstler, und beides hat etwas mit Kindlichkeit zu tun. Beim Schreiben der Biographie ist mir klar geworden, wie sehr Andersen darauf besteht, die Kindlichkeit, das Kind in sich zu bewahren, lebendig und pulsierend. Als alter Mann war er wahrscheinlich das älteste Kind der Erde, aber dieses Kind in ihm sollte seine Neugier in Gang halten und seine Seele und seine Sinne der ganzen Welt öffnen."

Nicht ganz zu Unrecht hat Andersen als Märchendichter Weltruhm erlangt. Dabei debütierte er mit ergreifenden Gedichten, seine erste Prosaarbeit, die skurrile "Fußreise von Holmens Kanal zur Ostspitze von Amager" ist eher ein "Antiroman", aber er schrieb auch ungeheuer erfolgreiche Romane. Jens Andersen geht ausführlich auf sie ein und zeigt, dass wir neben den Märchen diese Romane lesen sollten, wenn wir wirklich wissen wollen, wie er war.

Und nicht zuletzt war er ein hinreißender Reiseschriftsteller, als erstes beschrieb er die Bildungsreise, die ihn 1831 gleich in den Harz und die Sächsische Schweiz führte; es sollte nicht sein einziger Besuch in Deutschland bleiben. Das macht diese Biographie für uns so interessant. Andersen ist ohne Deutschland und dessen klassische und romantische Tradition gar nicht zu verstehen, immer betonte er, er habe zwei Vaterländer, und war furchtbar unglücklich, als die Kriege mit Preußen ausbrachen.

Jens Andersen achtet sein Objekt und erkennt das Genie. Aber er liebt Andersen nicht, vor allem nicht um jeden Preis, er ist nicht blind, er sieht die Schwächen des Dichters, wie berechnend, nachtragend und besonders wie eitel er war, und er erkennt die Intelligenz anderer an, die ihn kritisieren, Kierkegaard zum Beispiel.

Aber er verteidigt ihn auch, wo es um Andersens Intimleben geht. Andersen fühlte sich zu beiden Geschlechtern hingezogen, aber er blieb enthaltsam. Daraus entwickelt sein Biograph die kühne, aber doch beachtenswerte These, die Unschuld sei für Andersen ein Religionsersatz gewesen; normalerweise begründet man diese lebenslange Jungfräulichkeit mit einer psychischen Blockade aus seiner Kindheit. Die tiefere Zuneigung empfand er tatsächlich zu Männern, der Biograph weist das überzeugend nach; am dauerhaftesten war die Beziehung zu Edvard Collin, dem Sohn seines Ersatzvaters und Förderers Jonas Collin.

"Wie soll man Andersens seltsame Sexualität verstehen? Denn wenn man seine Werke oder Tagebücher oder Briefe liest, sieht man ja, dass er nicht nur in Frauen verliebt war, er verliebt sich auch in viele Männer, aber um ihn gerecht zu bewerten, dürfen wir eben nicht heutige Begriffe verwenden wie Hetero- oder Homosexualität. Sondern wir müssen in seine eigene Zeit zurückgehen und zu den Begriffen, die für uns ungewohnt sind, weil sie der Epoche der Romantik angehören, z. B. die platonische Liebe, d. h. man konnte sich in Männer verlieben, auch erotisch, aber es war eine geistige Erotik."

Die Biographie wurde um mehrere Passagen gekürzt, und vor allem die Faksimiles sind, da verkleinert und schwarz-weiß, schlicht unleserlich. Aber das trübt nur wenig die Wirkung des Werks und die Leistung des Autors, der die Marksteine von Andersens Leben gewissenhaft und überzeugend freilegt und Hans Christian Andersen als ganzen Menschen und vielschichtigen Künstler für uns heute verständlich macht.

Jens Andersen: Hans Christian Andersen. Eine Biographie.
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg.
Insel Verlag, Frankfurt am Main 2005. 806 S., 28 Euro.