Mehr als nur ein Behältnis

08.10.2012
Handtaschen erzählen Leben. Darauf setzt der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann. Er hat mehrere Exemplare auf den Kopf gestellt, deren Inhalt analysiert und anhand dessen Rückschlüsse auf die jeweilige Trägerin gezogen.
Die meisten Frauen haben eine, und den wenigsten dient sie nur als Aufbewahrungsort für Unentbehrliches, für Handy, Schlüssel, Geldbeutel: die Handtasche. Ob als Designermodell oder als praktischer Schulterbeutel, ist sie - von Männern kritisch beäugt, aber als Bastion der Intimität widerwillig anerkannt - für seine Trägerin ein unersetzbarer Begleiter in allen Lebenslagen. Mit einem solchen muss man sich wohlfühlen, schließlich verbringt man mit ihm meist mehr Zeit als mit jedem anderen Partner.

Handtaschen erzählen Leben. Darauf setzte der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann, als er Blogs im Internet konsultierte, in denen Frauen bereitwillig den Inhalt ihrer Handtaschen vorzeigen; über ein psychologisches Magazin befragte er nach dem Zufallsprinzip 75 Frauen, die er zunächst in zwei große Gruppen einteilte: die Monogamen, die ihrer Tasche immer treu bleiben, bis diese sich auflöst und die anderen, die ihre Begleiter nach Lust und Laune wechseln.

In 22 Kapiteln stellt er Taschen auf den Kopf, studiert Zettel mit heimlichen Telefonnummern, Talismane, Mininähsets, uralte Liebesbriefe. Er räsoniert über den Zweck des Hineintuns und die Mühen des Herausholens, über die Liebe (auf den ersten Blick) zur Tasche, über Chaos und Unordnung, wie man Risikovorsorge betreibt und sich rüstet gegen alle Eventualitäten - siehe Schweizermesser oder Miniapotheke - und nie sicher ist vor Überraschungen. Da ist die längst vergessene Muschel vom Strand in Mallorca, aber auch das zu Klumpen geschmolzene, mit dem Futter unlösbar verbundene Schoko-Herz aus dem Flugzeug.

Wie die Tasche zunächst als unscheinbarer Beutel, der unter Rokokoröcken verborgen war, ins Leben der Frauen trat, streift der Pariser Feldforscher ebenso wie die Bedeutung, die sie fallweise annehmen kann, wenn sie mehr als ein Behältnis ist: Grace Kelly etwa hielt ihre "Kelly-Bag" als Sichtschutz zwischen die Paparazzi und ihren Babybauch, während Margret Thatcher ihre Handtasche rhythmisch auf den Tisch knallte, wenn sie jemanden verbal niederknüppelte. Die Redewendung "to handbag someone" ist seither in die Umgangssprache eingegangen.
Geschult an Pierre Bourdieus Verfahren kreist Kaufmanns Soziologie um eine Theorie des Ichs, die ausschließlich phänomenologisch orientiert ist und anhand von Alltagsbeobachtungen – wie groß, wie modisch ist eine Tasche, was sagt das Durcheinander in deren Inneren über seine Trägerin aus – Identitäten seismografisch erfasst. Dass Taschen heute die Last der täglichen Pflichten abbilden, dass sie Büro und Kinderstube transportieren und ganz nebenbei auch noch das Kindle und die Tempos des Liebsten, kurz: dass in Handtaschen das Rundum-Wohlfühlpaket der Familie ausgeführt wird, verschweigt Kaufmann nicht.

Eine Typologie des Weiblichen kommt dabei zwar nicht heraus, aber dem scheinbar Banalen gewinnt er doch unter Verzicht auf alle methodologischen Kratzfüsse überaus amüsante Seiten ab. Wenn Schlüssel oder klingelnde Handys in den Tiefen des schwarzen Lochs Verstecken spielen und "die Kunst der tastenden Hand" in lähmenden Widerstreit mit der des "prüfenden Blicks" von ganz oben gerät, dann fühlt man sich adäquat beschrieben. Kabarettreif nämlich.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Jean-Claude Kaufmann: Privatsache Handtasche
Aus dem Französischen von Anke Beck
UVK-Verlag, Konstanz 2012
198 Seiten, 19,99 Euro