Mehr als eine Ehebruchstragödie

15.03.2010
Kürzlich sprach der türkische Nobelpreisträger Orhan Pamuk bei einer Berliner Vorlesung mit ergriffenen Worten von seinem Lieblingsroman – und bezeichnete ihn zugleich als den besten Roman, der je geschrieben wurde: "Anna Karenina". Im Himmel der Literaturgenies hielt Vladimir Nabokov in diesem Moment wahrscheinlich den Daumen hoch: "Recht so, mein Junge."
Man wagt es ja kaum, den Roman ein weiteres Mal zu loben. Was für ein Werk! Natürlich ist es viel, viel mehr als eine Ehebruchstragödie, viel mehr auch als eine "Enzyklopädie des russischen Lebens", wie Rosemarie Tietze im Nachwort ihrer Neuausgabe schreibt. Es ist ein Menschheitsbuch, geschrieben von einem Autor, der den unbestechlichsten Wahrheitsblick für die Psyche von Frauen und Männern hatte. Seine Beschreibungen des Ehealltags und seine hochdifferenzierte Figurendarstellung sind bis heute unübertroffen.

Kaum ein Roman wurde so oft ins Deutsche übersetzt. Warum also noch eine weitere Fassung? Weil die letzten Übersetzungen ein halbes Jahrhundert zurückliegen. Da sieht manches inzwischen alt aus. Vor allem hat sich seitdem die Poetik des Übersetzens stark verändert. Die Ansprüche an die Werktreue sind enorm gestiegen. Längst glauben wir nicht mehr an Originalgenies, aber verehren Originaltexte. Wo früher stilistisch geglättet und poliert wurde, kommen nun erst manche schroffen stilistischen Eigenheiten zutage. So sind die vielen unbekümmerten Wortwiederholungen Tolstois, seine Neigung zu grammatischen Parallelkonstruktionen und Doppelungen erst in Tietzes Neufassung zu besichtigen. Statt eines stilistischen Allerweltsgesichts ist nun eine charakteristische Physiognomie zu erkennen.
Basis von Tietzes Übersetzung ist nicht nur akribische Textgenauigkeit, sondern auch eine gründliche Kenntnis der Tolstoi-Philologie. Ihre Fassung ist eine intelligente Übersetzung, die nicht nur Worte und Sätze dolmetscht, sondern den Text mitdenkt. So konnte Tietze im Verlauf der Arbeit sogar einige Passagen aufklären, die bisher den russischen Tolstoi-Experten rätselhaft geblieben waren, etwa die Frage, wohin die tote Anna gebracht wird, nachdem sie sich unter den Zug geworfen hat – in eine "Arbeiterbaracke". Tietze hat auch viel historisches und technisches Wortmaterial ausgegraben. Kam in einer früheren Fassung der "Zimmermann" mit dem "Zollstock" herbeigeeilt, so nun der "Verdinger" mit dem "Saschenmaß". Fraglich allerdings, ob solche Genauigkeit immer ein Gewinn ist.

Tolstoi sei kein Schönschreiber gewesen, versichert Tietze. Sie bemüht sich, die "patzige Sprödigkeit" seines Stils zu vermitteln. Dabei entstehen nicht selten Sätze, die merkwürdig verrutscht, verstolpert oder künstlich wirken. "Die Frau des Hauses kam nicht aus ihren Räumen, ihr Mann war den dritten Tag nie daheim", heißt gleich auf der ersten Seite über den Ehestreit der Oblonskis. "Dritten Tag" und "nie" – das beißt sich, auch wenn die Übersetzerin in einer langen Anmerkung ihre Formulierung gut zu begründen weiß.

Tietze will den Roman befreien von "altväterlicher" Patina. Umso mehr wundert man sich, wenn sie bisweilen selbst überaus altväterliche Ausdrücke benutzt. "Beim Anblick des Kranken dauerte er sie" – diesen schiefen Satz liest man, als Kitty Lewins moribunden Bruder Nikolai besucht. Muss es denn unbedingt (auch an anderen Stellen) das ausgestorbene Wort "dauern" sein, statt: Leidtun, Mitleid haben oder bedauern? Kurz zuvor hieß es über Lewin: "Wenn er zu dem Kranken ins Zimmer trat, umflorten sich unwillkürlich seine Augen und seine Aufmerksamkeit." Umflorte Aufmerksamkeit – wie bitte? Der "Schleier" vor Lewins Augen, für den sich Fred Ottow 1955 entschied, ist da immer noch vorzuziehen. So ist die Lesefreude bei dieser hoch ambitionierten, in vieler Hinsicht verdienstvollen Übersetzung leider etwas umflort.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Leo Tolstoi: Anna Karenina. Ein Roman in acht Teilen.
Übersetzt und kommentiert von Rosemarie Tietze.
Carl Hanser Verlag, München 2009, 1285 Seiten, 39,90 Euro
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