Medizinerin Mühlhauser: Weniger Kontrolle ist besser

Ingrid Mühlhauser im Gespräch mit Ulrike Timm · 06.04.2009
Die Gesundheitsforscherin Ingrid Mühlhauser steht Reihenuntersuchungen skeptisch gegenüber. Die Konfrontation mit Verdachtsbefunden, die sich letztlich als haltlos erwiesen, könnten Menschen erst krank machen. Es sei ein "teures Ritual", sich diesen ärztlichen Maßnahmen auszuliefern, um mit der Angst vor dem Sterben umzugehen.
Ulrike Timm: Wenn medizinische Studien Zweifel säen, statt Gewissheit zu bringen, ist das für Ärzte und Forscher eigentlich sehr nützlich: Sie wissen, was Sie alles noch nicht wissen. Aber welche Schlüsse können Patienten daraus ziehen? Zum Beispiel wenn, wie gerade veröffentlicht, eine europäische Studie sagt, dass die Sterblichkeit durch Prostatakrebs bei regelmäßiger Bestimmung eines bestimmten Antigens um ein Fünftel, um 20 Prozent, sinkt – eine amerikanische Studie aber zu dem Ergebnis kommt: Ob man Patienten nun reihenweise regelmäßig testet oder nicht, zukünftige Krebstote kann man dadurch nicht verhindern! Vielleicht kann uns die Medizinerin und Gesundheitsforscherin Ingrid Mühlhauser von der Universität Hamburg weiterhelfen. Guten Morgen!

Ingrid Mühlhauser: Guten Tag, Frau Timm!

Timm: Frau Mühlhauser, Sie stehen den meisten solcher Reihenuntersuchungen und Screenings skeptisch gegenüber. Warum?

Mühlhauser: Ich stehe denen skeptisch gegenüber, weil diese Reihenuntersuchungen, die zur Früherkennung von Krebs dienen sollen, zwar in einzelnen Fällen tatsächlich einen Nutzen bringen können, aber in einer sehr viel größeren Anzahl von Personen Schaden anrichten. Das heißt, verschiedene Menschen werden durch diese Untersuchungen erst krank gemacht. Das heißt, sie bekommen eine Diagnose eventuell, die sie ohne Teilnahme an diesen Reihenuntersuchungen niemals bekommen hätten. Oder sie werden andererseits mit Verdachtsbefunden konfrontiert, die weiter abgeklärt werden müssen, bis sich letztendlich herausstellt, dass möglicherweise oder wahrscheinlich gar kein Krebs vorliegt. Das heißt, das verursacht sehr viel Beunruhigung, weitere Untersuchungen, psychologische Auswirkungen. Also wie gesagt, insgesamt haben diese Früherkennungsuntersuchungen auf Krebserkrankungen für wenige Menschen einen Nutzen, aber für sehr viel mehr Menschen einen Schaden.

Timm: Nun kann man doch sagen, besser drei Mal getestet und ein Mal krank geworden, als dass man den Kranken nicht gefunden hätte. Wenn jemand eine Vorstufe von Krebs hat, möchte er ja nicht ausprobieren, ob er nun einen voll entwickelten Tumor bekommen wird oder nicht, der freut sich doch, wenn man sich vorher um ihn kümmert.

Mühlhauser: Also das ist richtig in dem Augenblick, wo Sie eine Diagnose bekommen. Also wo festgestellt wird, dass Krebs vorhanden ist, wird man sich dann auch einer weiteren Behandlung unterziehen und sich dieser nicht entziehen. Im Einzelfall können Sie jetzt nicht feststellen, ob Sie zu der Gruppe von Menschen gehören, die tatsächlich einen Nutzen hat von dieser Früherkennung, oder ob Sie zu der größeren Gruppe von Menschen gehören, die einen Schaden erlitten haben, weil sie, man nennt das heute eine Überdiagnose und Übertherapie erfahren haben.

Timm: Machen wir es mal konkret: Jemand geht zur Mammographie, zur Vorsorgeuntersuchung, und der Arzt sagt, es gibt einen Verdacht, es könnte eventuell was sein. Ist es denn wirklich so, dass Mediziner dann zu Schnellschüssen mit fehlender Präzision neigen und überversorgen?

Mühlhauser: Also das Problem ist, dass sie tatsächlich da etwas feststellen können mit der Mammographie bei der Reihenuntersuchung und tatsächlich auch in der Gewebeanalyse, in der Gewebeprobe sich hinterher etwas darstellt, das wie Krebs aussieht und auch als Krebs diagnostiziert wird. Und trotzdem ist das in verschiedenen Fällen eine Krebserkrankung, die sich ohne diese Früherkennungsuntersuchung den Frauen niemals bemerkbar gemacht hätte. Das heißt, dieser Krebs, der da diagnostiziert wird in der Gewebeprobe, hätte den Frauen niemals das Leben verkürzt oder beschwert. Das ist tatsächlich eine Diagnose, die sie sonst nicht bekommen hätten. Das ist das eine Problem. Und das andere Problem ist, dass auch Frauenärzte, die eigentlich wissen sollten, was Befunde beim Mammographie-Screening bedeuten, diese oft nicht richtig interpretieren. Also der Professor Gigerenzer aus dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin hat gerade kürzlich eine große Studie abgeschlossen mit Frauenärzten aus Berlin und hat festgestellt, dass die verdächtige Befunde, verdächtige Mammographie-Befunde, fehlinterpretieren, in dem Sinne, dass sie annehmen, dass Krebs vorliegt, obwohl die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Krebs vorliegt, sehr viel geringer ist. Also selbst hier gibt es erhebliche Probleme in der Diagnosestellung der Ärzte.

Timm: Aber im Grunde beschreiben Sie ein Riesendilemma, Frau Mühlhauser: Überversorgung kann niemand wollen, auch wirtschaftlich nicht, Sie beschreiben auch, dass Leuten Angst gemacht wird. Andererseits ist die Perspektive aus Sicht des Einzelfalls ja naturgemäß eine ganz andere als die Perspektive eines Statistikers. Und wenn jemand wirklich krank ist, ist das doch ein Segen, wenn es so früh erkennt wird durch ein Screening, dass man helfen kann. Eigentlich kann man dann wieder nicht dagegen sein.

Mühlhauser: Sie haben völlig recht. Also für die eine Person – beim Mammographie-Screening ist es eine bis zwei Personen von 1000 Frauen, die über zehn Jahre zum Screening gehen, die in dieser Zeit durch das Screening nicht an Brustkrebs sterben, also diese ein, zwei Frauen, die haben tatsächlich einen Nutzen. Aber wie gesagt, wenn sie jetzt zu den Frauen gehören, die eine Diagnose bekommen und die auch dann behandelt werden und eigentlich den Krebs niemals bekommen hätten, dann meinen sie vielleicht, dass sie jetzt glücklich sein könnten, weil ja dieser Krebs frühzeitig erkannt worden ist und behandelt worden ist. Und die Prognose ist ja auch wunderbar, weil etwas behandelt wurde, was sie niemals bekommen hätten sozusagen. Das sind dann auch die Leute, die hinterher nach 10, 20 Jahren sagen, ist doch gut, dass ich bei dieser Früherkennungsuntersuchung gewesen bin, es ist rechtzeitig diagnostiziert und behandelt worden und ich bin geheilt worden. Aber in Wirklichkeit ist für diese einzelnen Menschen diese Behandlung und Diagnose gar nicht nötig gewesen oder hätte sich vermeiden lassen können. Also das Dilemma ist vorhanden, Sie sagen das sehr richtig.

Timm: Wie kann man denn Ihrer Meinung nach die Grenze ziehen zwischen einer sinnvollen Prävention und einem gewissen Vorsorgewahn?

Mühlhauser: Im Grunde genommen kann man diese Grenze nicht ziehen. Für jede einzelne Maßnahme muss man das genau ansehen. Man muss schauen, ob es gute wissenschaftliche Untersuchungen dazu gibt, die den möglichen Nutzen und den möglichen Schaden tatsächlich auch darstellen können. Und dann muss man im Einzelfall das bewerten, sowohl was das individuelle Nutzen-Risiko-Verhältnis angeht als auch für die Gesellschaft insgesamt, also von der Populationsperspektive her gesehen, ob man sich das leisten möchte, ein Programm zu implementieren, was wenigen Leuten einen Nutzen bringt und sehr viel mehr an Schaden bringt und wie viel es kostet. Das muss dann gegeneinander abgewogen werden. Aber man kann nicht generell sagen, hier ist es sinnvoll oder hier ist es nicht sinnvoll.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit der Gesundheitsforscherin Ingrid Mühlhauser. Frau Mühlhauser, gehen wir mal von den großen Studien weg hin ins kleine Wartezimmer. Das ist in Deutschland sehr voll, voller als in anderen europäischen Ländern, wo die Leute eher weniger zum Arzt gehen, aber nicht kränker sind. Und da machen viele derzeit die Erfahrung, wer zum Arzt geht, wird krank, Stichwort IGel, Individuelle Gesundheits-Leistungen, die man bezahlen muss. Einige sagen nützlich zur Vorsorge, andere sagen überflüssig. Was sagen Sie?

Mühlhauser: Es gibt ganz wenige von diesen IGel-Leistungen, die da angeboten werden, die sinnvoll sind. Also zum Beispiel, wenn man sich impfen lässt, wenn man in ein fernes Land fährt, wo ein Impfschutz sinnvoll ist, oder bestimmte Sportuntersuchungen, wenn man Extremsport machen möchte. Aber diese Leistungen sind auch früher nicht bezahlt worden von den Krankenkassen. Also das ist durchaus sinnvoll. Aber vieles andere, was da angeboten wird an Diagnostik und auch an Therapien, entweder wurde es dafür wissenschaftlich gezeigt, dass sie nicht wirksam sind, diese Maßnahmen, dass also kein Nutzen besteht für die Menschen, oder es ist nicht ausreichend untersucht. Also im Großen und Ganzen muss man sagen, dass das völlig überflüssig ist, diese Angebote, und dass das eine Abzocke ist von den Bürgern.

Timm: Sollte es da nicht besser eine Art TÜV geben für solche IGels?

Mühlhauser: Der TÜV würde zu der Erkenntniskommen, dass diese IGels abgeschafft werden, also man braucht sie nicht. Insofern ist es relativ einfach für den Patienten, immer wenn er solche Angebote bekommt, kann er mit gutem Gewissen sagen, ich möchte das nicht, ich brauche das nicht. Ansonsten, im speziellen Fall jetzt zum Beispiel, wenn man diesen PSA-Test für Brust- oder Krebsfrüherkennung eventuell haben möchte, dann ist es schon nützlich, sich da vorher genau zu informieren. Im Übrigen gibt es auf der Internetseite vom MDS, Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkasse, gibt es für einzelne IGel-Leistungen auch sehr gute Informationen für die Patienten, die kann man sich da runterladen.

Timm: Man schützt sich mit der Gesundheitsvorsorge natürlich auch vor der eigenen Angst, frei nach dem Motto: Schadet nicht, gut, dass ich's gemacht habe. Und Angst macht ja auch krank. Ist denn die Überversorgung ein Zeichen für Sie für unseren Weg in eine Gesellschaft der Hypochonder?

Mühlhauser: Na ja, das ist richtig, was Sie sagen. Viele Leute haben einfach Angst und denken, wenn ich jetzt diese Untersuchungen machen, dann kann ich sicherer sein. Aber die Realität ist, dass man oft dadurch erst krank wird, dass hier Diagnosen gestellt werden, die völlig überflüssig sind, die man sonst nie bekommen hätte. Und ich denke, das ist ein sehr gefährliches, teures Ritual, das sich die Menschen hier leisten in unserer Gesellschaft, sich diesen ärztlichen Maßnahmen auszuliefern, um mit Angst umzugehen. Die Frage ist, ob wir nicht andere Maßnahmen hier in unserer Gesellschaft auch haben, andere Wege, um mit der Angst vor dem Leben, vor dem Sterben, vor dem Tod, was auch immer, umzugehen. Muss es denn ein Ritual sein, indem wir uns der Medizin ausliefern?

Timm: Wenn wir dieses teure Ritual, von dem Sie sprechen, verlagern würden, uns da Geld einsparen würden, dann hätte man natürlich Geld für andere Mittel frei. Was wäre denn für Sie eine sinnvolle Vorsorge, wo derzeit noch viel zu wenig Geld drinsteckt?

Mühlhauser: Also eines der wichtigsten Dinge bei uns in unserer Gesellschaft ist die soziale Ungleichheit. Es ist sehr gut untersucht – das haben immer wieder Studien gezeigt –, dass Menschen, die aus bildungsfernen Schichten, aus benachteiligten Schichten kommen, die schlechte Bildungschancen haben, schlechte Arbeitsbedingungen, dass die ein sehr viel höheres Risiko haben zu erkranken und eine sehr viel schlechtere Lebensprognose haben. Das heißt, ich würde dieses ganze Geld in bessere Ausbildung, bessere Arbeitsbedingungen von den Benachteiligten in unserer Gesellschaft stecken.

Timm: Die Medizinerin und Gesundheitsforscherin Ingrid Mühlhauser von der Universität Hamburg im Gespräch mit dem "Radiofeuilleton". Herzlichen Dank!

Mühlhauser: Bitte!