Medizin im digitalen Zeitalter

Fotos vom unbekannten Patienten

Röntgenbild
Ob Röntgenbilder, wie hier von diesem Vorfuß, oder Bilder von Organen – all das wird im Internet hochgeladen und auf der "Mediziner-App" besprochen. © picture alliance / dpa / Foto: Klaus Rose
Von Jenny Genzmer  · 25.06.2015
Als Medizinstudent einfach ein Foto von einer Krankheit machen, es ins Netz stellen und sich mit Kollegen darüber austauschen. Die Smartphone-App "Figure 1" bietet genau solch einen Service an. Dieser virtuelle Gesprächsraum ruft aber auch Kritik hervor.
"Einmal ein Kopf, Nacken, Abdomen, Specialty, oh sehr schön, Immunologie. Klick ich gleich mal an. Allergien."
"Figure 1" ist eigentlich eine Mediziner-App für das Smartphone. Jun-Bom Kim studiert an der Charité, und hat sich eben am PC einen Account eingerichtet.
"Ein dichotom aufgefächerter, bösartig aussehendes Gebilde, R2, dann CT-Bilder, ah, ok, R2, Mamma Karzinom."
Die Bilder zeigen nur Ausschnitte, medizinische Phänomene, Krankheiten, Geschwüre. Es sind Bilder, die sich Medizinstudenten gegenseitig mit ihren Smartphons geschickt haben, erzählt der Gründer von "Figure 1", Joshua Landy. Er hat an der Universität Stanford geforscht und das dort beobachtet.
"Dieses Verhalten wiederholte sich jeden einzelnen Tag, tausende Male. Mir war klar, dass diese Bilder in jedem Fall private Details verrieten, das konnte nicht kontrolliert werden. Auf der anderen Seite wurden die Fotos nur mit ein-zwei Leuten geteilt, und nicht mit einem größeren Publikum. Wir dachten uns dann, wenn wir beide Probleme gleichzeitig lösen, dann könnten wir ein ziemlich großes Netzwerk schaffen, in dem Millionen Ärzte und Krankenpfleger auf der ganzen Welt Bilder von interessanten Fällen teilen können. Es wäre ein Raum für Diskussionen und Lehre."
Erkenntnis durch massenhafte Bildsammlungen von Krankheiten und Verletzungen? Bei "Figure 1" gibt es alles. Jeder Nutzer kann sich durch Herz-, Hirn- oder Augenbilder klicken, oder die Kardiologie, Gastroenterologie oder Unfallmedizin durchsuchen. Er kann sie kommentieren oder mit Sternchen favorisieren. So kann der Nutzer Bilder sammeln oder dem Urheber mitteilen, dass er sein Bild wertschätzt, erklärt Landy.
"Ich habe damit gerechnet, dass die App einfach zum lernen genutzt wird. Die Nutzer helfen sich gegenseitig und Lernen medizinische Fälle kennen, welche Diagnose passt zu dem Patienten und welche ist die richtige Therapie. Nutzer lernen voneinander und interessieren sich mehr für andere Spezialgebiete. Was als Lernplattform begonnen hat, ist so zu einer wachsenden Community geworden, die Wissen austauscht."
Wissensaustausch im weitesten Sinne. Auf den Bildern haben Menschen ihre Finger oder Zehen verloren. Haben Schussverletzungen, Krebsgeschwüre, Entzündungen. Manche posten kleine Übungsaufgaben: was ist das für eine Krankheit? Welche Therapie würdet ihr empfehlen? Andere laden die Bilder kommentarlos hoch- oder fragen die Community nach Rat.
Ein Einfallstor für Missbrauch
Also mein erster Eindruck war: Eigentlich ganz hilfreich. Wenn man aber länger darüber nachdenkt, dann stellen sich einem einige Fragen.
Sagt Wolfgang Eckart, Professor für Geschichte und Ethik der Medizin und selbst praktizierender Arzt. Er hat sich auch einen Account eingerichtet.
"Keiner weiß, welchen Informationsstatus diejenigen, die da antworten, wirklich haben und deshalb finde ich, ist es auch keine wirklich adäquate Lösung eines großen Problems, Diagnose, mit dem jeder Arzt und jede Ärztin sich vom Beginn jeder beruflichen Tätigkeit an rumschlagen muss. Aber es erfordert kompetente Lösungsstrategien und nicht Lösungsstrategien, die was mit Schwarmintelligenz zu tun haben."
Der durch immer besser bildgebende Verfahren verstärkte "pictorial turn", der Medizin impl. Medizinische Wissen entsteht auch durch Interpretation. Gerade wenn die App zur Entscheidungshilfe herangezogen wird, sieht Eckart ein Einfallstor für Missbrauch.
"Auf Figure 1" sind die meisten Nutzer anonym, die Patienten dienen der Anschaulichkeit. Landy und sein Team schalten zwar kein Bilder frei, auf denen Patienten identifiziert werden können, aber genau in dieser Reduktion auf die Krankheit sieht Wolfgang Eckart das eigentliche Problem der Mediziner- App.
"Da erfahre ich nur einen Moment einer Aufnahme, das ist nur ein Blitzlicht auf einen ganz spezifischen Zustand eines Körpers, der mir über die gesamte Befindlichkeit eines Patienten überhaupt nichts aussagt. Und schon gar nicht über die Persönlichkeit."
Eckart empfindet nicht nur die Suche nach Rat bei "Figure 1" als Griff in eine Blackbox. Vor allem aus medizinethischer Sicht zweifelt er an dem Sinn der App als "Raum für Diskussionen und Lehre".
"Hier wird Leiblichkeit und Körperlichkeit ausgestellt in einem öffentlichen Raum, ohne dass das Einverständnis der Patientinnen und Patienten eingeholt worden wären, ohne dass man davon ausgehen kann, dass hier der menschlichen Würde wirklich entsprochen wird in der Präsentation solcher Bilder. Das gehört einfach nicht in einen medizinischen Chat-Room."
Dieses Problem sieht Joshua Landy nicht. Schließlich stehe der Austausch über Medizin im Vordergrund:
"Man soll von den Bildern lernen können. Wenn die persönlichen Details entfernt sind, dann hat es keinen ideellen Bezug mehr zur der Person auf dem Foto. Es geht hier nicht um das Individuum. Die Bilder sind dazu da, medizinische Fälle darzustellen, von denen man lernen kann."
Also weniger eine Diagnosehilfe – als vielmehr Anlass zum Gespräch? Auch bei dem Medizinstudenten Jun-Bom ist die Stimmung nach 20 Minuten auf "Figure 1" gekippt. Wir können uns gern noch weiter über die App unterhalten, sagt er. Aber weitere Bilder und Kommentare will er sich nicht anschauen.
"Weil das mich wütend macht. Und ja... oder sagen wir nicht wütend. Es breitet sich ein Unwohlsein in mir aus. Und deswegen möchte ich damit nicht unbedingt noch mehr zu tun haben."