Medien

Die Sucht nach dem Rascheln einer Zeitung

Ein Teilnehmer liest am 06.06.2013 in Köln (Nordrhein-Westfalen) auf dem Medienforum in Köln eine Tageszeitung.
Das tägliche Zeitungslesen droht mehr und mehr zu verschwinden © picture alliance / dpa / Oliver Berg
Michael Angele im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 10.08.2016
Mit dem digitalen Zeitunglesen gehen bestimmte sinnliche Eindrücke und bestimmte Rituale verloren, meint der Autor und Journalist Michael Angele. In seinem Buch "Der letzte Zeitungsleser" beschreibt er einen drohenden Kulturverlust.
Droht uns bald ein Kulturverlust? Die Auflagen von Printmedien sinken, immer mehr Menschen lesen Zeitungen online. Höchste Zeit für ein Loblied auf das altmodische Rascheln der Zeitung: "Der letzte Zeitungsleser" heißt das morgen erscheinende Buch von Michael Angele, Autor und Feuilleton-Chef der Wochenzeitung "Freitag".

Der "Geistmensch" Thomas Bernhard

Der ideale Zeitungsleser sei für ihn der Schriftsteller Thomas Bernhard, erzählt Angele im Deutschlandradio Kultur. Von ihm sei das Zitat überliefert, nach dem ein "Geistmensch nicht an einem Ort existieren kann, in dem er die 'Neue Zürcher Zeitung' nicht bekommt":
"Durch seine Passion, durch seine Leidenschaft, mit der er Zeitung gelesen hat. Bernhard hat sich wohl täglich durch sieben Zeitungen gekämpft. Darüber hat er ein Verständnis von Welt gewonnen."
Die ständige Verfügbarkeit digitaler Informationen sieht Angele nicht als gleichwertigen Ersatz für das Zeitungslesen:
"Ich glaube, dass die größten Kulturleistungen durch Anstrengung und Verzicht entstehen. Und nicht dadurch, dass man bequem alles hat. So hat Thomas Bernhard keine Kosten und Mühen gescheut, die 'NZZ' manchmal durch ganz Österreich zu suchen."

Wie man sich aus dem rauschenden Leben zurückziehen kann

Angele beschreibt den Verlust sinnlicher Eindrücke beim digitalen Lesen:
"Da geht natürlich das Rascheln verloren. Da werden jetzt viele sagen: 'Das stört mich nicht so besonders.' Es gehen aber auch andere Sinnlichkeiten verloren: Das Haptische, das Anfühlen, eine bestimmte Optik. Es gehen aber vor allem Rituale verloren, die man mit dem Zeitungslesen verbindet und die ich für sehr wichtig halte. So ist etwa das Zeitungslesen im Café eine wunderbare Gelegenheit, sich aus der Welt, aus der Öffentlichkeit, aus dem rauschenden Leben ein bisschen zurückzuziehen."

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Das, liebe Hörerinnen und Hörer der jungen Generation, das ist Rascheln einer Zeitung, einer echten Zeitung auf Papier gedruckt. Mein Stapel liegt hier jeden Morgen, aber ich muss gestehen, die wichtigsten Sachen, die habe ich eigentlich immer schon am Vorabend in der digitalen Ausgabe gelesen. Wischen statt rascheln sozusagen. Mir geht es so wie vielen, es wird immer mehr online gelesen. Die Auflagen der gedruckten Zeitungen sinken kontinuierlich. Ein Kulturverlust ist das, sagt der Mann, der jetzt am Telefon ist, der Feuilletonchef der Wochenzeitung "Freitag", Michael Angele. Morgen erscheint sein Buch "Der letzte Zeitungsleser". Herr Angele, guten Morgen!
Michael Angele: Guten Morgen, ich grüße Sie!
Frenzel: Sie beginnen Ihr Buch mit Thomas Bernhard, der ist für Sie bis heute der ideale Zeitungsleser, warum?
Angele: Durch seine sehr, wie soll ich sagen, durch seine Passion, durch seine Leidenschaft, mit der er Zeitung gelesen hat. Sieben hat er, glaube ich, am Tag gelesen, mit der er sich da durchgekämpft hat, aber auch mit der er, wie soll ich sagen, ein Verständnis von Welt gewonnen hat.

Kulturleistungen entstehen durch Verzicht

Frenzel: Sie haben da ein Zitat von Bernhard, der sagt, "Ein Geistmensch kann an einem Ort nicht existieren, indem er die ‚Neue Züricher Zeitung‘ nicht bekommt". Nun könnte man ja sagen, wir leben in der besten aller Zeiten – kein Mensch mehr muss ein Café verlassen, weil er eine Zeitung dort nicht bekommt, er lädt sich einfach die aktuelle Ausgabe runter, die digitale Version. Ist das kein Ersatz für Sie?
Angele: Sie sehen, es ist sehr bequem geworden, sich die Welt ins Café oder wohin auch immer hinzuholen. Ich sehe das ein bisschen anders. Ich glaube eben – das ist jetzt ein bisschen abstrakt gesprochen –, aber ich glaube, dass die größten Kulturleistungen durch Anstrengung und Verzicht und erst mal nicht dadurch entstehen, dass man bequem alles hat. Insofern ist diese Anekdote, die Sie da jetzt gerade kolportiert haben, für mich schon sehr aussagekräftig, denn man hat dann ja keine Kosten und Mühen gescheut, um auch mal eine "NZZ" durch ganz Österreich durch zu suchen, und das macht es mir doch wichtig.

Raum für kontemplatives Lesen

Frenzel: Was geht denn verloren, können Sie das beschreiben, wenn wirklich diese raschelnde Papierzeitung nicht da ist?
Angele: Ja, es geht das Rascheln natürlich verloren. Da werden jetzt viele sagen, okay, stört mich jetzt nicht so besonders. Es gehen aber auch andere Sinnlichkeiten verloren, etwa das Haptische, das Anfühlen, es geht verloren eine bestimmte Optik – Zeitung hat ja auch eine bestimmte Optik –, es gehen aber vor allem verloren Rituale, die man mit dem Zeitungslesen verbindet und die ich eben für sehr wichtig halte.
Sie haben die Cafésituation schon angesprochen. Das Zeitunglesen im Café ist eine wunderbare Gelegenheit, sich aus der Welt, sich aus der Öffentlichkeit, aus dem mauschelnden Leben ein bisschen zurückzuziehen, ein bisschen kontemplativ zu sein, aber nicht allzu sehr. Also man muss dazu nicht ins Kloster gehen. Es ist eine schöne Form, Welt auf Distanz und gleichzeitig in die Nähe zu holen. Das geht weg.
Frenzel: Ja, aber alles, was Sie da beschreiben, hat eher was Rituelles.
Angele: Richtig.
Frenzel: Also nicht wirklich die inhaltliche Komponente, weil da könnte man ja sagen, der Wissensdurst findet heute einfach andere Wege, befriedigt zu werden.
Angele: Ganz genau. Also wer jetzt glaubt, die Zeitung müsse gerettet werden, weil Information sonst uns nicht mehr zugänglich wird, der befindet sich tatsächlich, glaube ich, auf dem Holzweg. Ich glaube nicht, dass es die Zeitung braucht, um sich im eigentlichen Sinn zu informieren. Das mag jetzt manche erschrecken, ich will damit nicht sagen, dass eine Zeitung nicht auch informieren soll und kann. Ich meine aber tatsächlich, das ist alles im Internet auch zu haben, und ich selbst bediene mich natürlich auch zur Informationsgewinnung, etwa "Spiegel Online" und andere Quellen.
Nein, was aber schon verloren geht, ist, das hängt ja nun doch auch mit Information zusammen, ist die Art und Weise, wie ich Informationen dem Leser übermittle, etwa die etwas längeren Texte, die, wie alle Erfahrungen zeigen, doch besser, jedenfalls bis jetzt, zu einer Zeitung passen.

Besinnung auf die Stärken der Print-Medien

Frenzel: Es gibt ja Zeitungen, die es schaffen, ihre gedruckte Auflage hochzuhalten, sogar zu steigern. Die "Zeit" zum Beispiel. Das ist jetzt natürlich gemein, wenn ich Sie als Feuilletonchef des "Freitags" frage, aber was machen denn die Hamburger Kollegen richtig?
Angele: Die machen sehr vieles richtig, weil sie sich tatsächlich auch auf die Stärken der Zeitung im Sinne, wie ich sie gerade eben versucht habe zu beschreiben, konzentrieren. Sie haben Dossiers, sie haben längere Strecken, sie gehen auch sehr stark, was ich vorhin angesprochen habe, auf das sinnliche Erlebnis.
Das geht ja so weit, dass sie den, wie ich finde, doch etwas dämlichen Claim haben: Die "Zeit" erleben und nicht lesen. Ich würde dann doch sagen, lesen Sie den "Freitag", den können Sie lesen. Nein, scherzhaft gesprochen. Die machen sehr vieles richtig, weil sie sich auf die Stärken von Zeitungen konzentrieren.

Qualitätsblätter für sieben oder acht Euro?

Frenzel: Wird das die Entwicklung sein insgesamt, ein paar Qualitätsblätter als haptisches Erlebnis, also quasi das Coffee Table Book des Journalismus?
Angele: Ja, also wenn man es ganz … Ja, es geht schon in die Richtung. Also wenn man ganz böse sein will, kann man sagen, Manufactum wird auch vor den Zeitungen nicht Halt machen. Es wird etwas sein, was natürlich ein bisschen was Geschmäcklerisches hat, was auch ein Distinktionsmerkmal, glaube ich, sein wird.
Man wird dafür auch mehr Geld bezahlen müssen. Sie müssen dann vielleicht für eine "FAZ" – ich weiß es jetzt nicht, es ist ein bisschen Kaffeesatzleserei – sieben oder acht Euro bezahlen, aber dafür können Sie sich dann eben auch unterscheiden von denen, die es nicht tun.
Frenzel: Michael Angele, Autor des Buches "Der letzte Zeitungsleser", das morgen erscheinen wird, Feuilletonchef des "Freitags". Ich danke Ihnen für diese fünf Minuten gutes, altes, lineares Radiogespräch!
Angele: Bitte, gern geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Michael Angele: "Der letzte Zeitungsleser"
Galiani Verlag, Berlin 2016
160 Seiten, 16 Euro

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