Maylis de Kerangal: "Eine Welt in den Händen"

Über Kunst, Naturgeschichte und das Erwachsenwerden

06:22 Minuten
Buchcover zu Maylis de Kerangal: "Eine Welt in den Händen"
Original und Nachahmung - die Höhlenmalereien von Lascaux spielen für die Romanfiguren eine wichtige Rolle. © CPA Media/Pictures From History/picture alliance / Suhrkamp
Von Meike Feßmann · 27.06.2019
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In "Eine Welt in den Händen" beschreibt Maylis de Kerangal die Nöte des Kunstproletariats. Der Roman ist unterhaltsam, intelligent konstruiert und plätschernd erzählt: die ideale Strandlektüre.
Ein "glanzloses Abitur", zwei Jahre verbummelt, dabei ein bisschen Jura studiert, auf einer Kunsthochschule ein paar Videos gedreht: Kein Wunder, dass Paulas Eltern froh sind, als sich die behütete Tochter endlich für etwas zu begeistern scheint.
Dass es sich dabei um Dekorationsmalerei handelt, nehmen Guillaume und Marie Karst - ein gut situiertes, einander in symbiotischer Liebe zugetanes Pariser Ehepaar - in Kauf. Er fährt die Tochter sogar nach Brüssel, wo die angesehene Malereischule liegt und Paula überraschend schnell eine Zwei-Zimmer-Wohnung gefunden hat.
Die wird sie sich mit Jonas teilen, der mit ihr die sechsmonatige Ausbildung durchläuft und den sie noch gar nicht kennt. Seltsam, wie schnell sich der Vater aus dem Staub macht:
"Er lächelte ihr zu, sein Gesicht war entspannt, er sah zufrieden aus, wahrscheinlich froh, seinen Vaterjob getan zu haben und vielleicht sogar, denkt sie, seinen Vaterjob für immer getan zu haben, denn diese Hand, die ihr zuwinkte, diese kleine Wischbewegung in der Luft bedeutete auch, dass er sie wegschickte, verschwinde, verschwinde (...)."

Ablösung vom Elternhaus

In kreiselnden Satzkaskaden erzählt Maylis de Kerangal eine Coming-of-Age-Geschichte der Ablösung vom Elternhaus. Und sie erzählt zugleich eine Geschichte über das globale Kunst- und Kunsthandwerksproletariat, über all die namenlosen Zuarbeiter, die an den großen Träumen der digitalen Epoche mitarbeiten.
Im Zentrum des von Andrea Spingler geschmeidig aus dem Französischen übersetzten Romans steht die Frage nach dem Stellenwert der Nachahmung in der Kunst und eine noch viel größere, die Jonas, der bei weitem Begabteste des um die Schottin Kate ergänzten Trios, zu dem Paula gehören wird, mit gebührender Polemik formuliert: "Wer ist denn so blöd, dass er noch Menschen will?"
Mit den Freiheiten auktorialen Erzählens ausgestattet, nimmt die französische Schriftstellerin, die 2010 für "Naissance d'un pont" ("Die Brücke von Coca") den Prix Médicis erhielt und deren von einer Organspende erzählender Roman "Réparer les vivants" ("Die Lebenden reparieren") 2016 verfilmt wurde, einen mittleren Abstand zum Geschehen ein.
Was sie die Direktorin der Brüsseler Malereischule über die "Kunst der Illusion" sagen lässt, gilt auch für "Un monde à portée de main": "Das Trompe-l’œil ist eine Begegnung von Malerei und Blick, es ist für einen festgelegten Standpunkt konzipiert und bestimmt durch die Wirkung, die es erzielen soll."

Der Nachname "Karst" kommt nicht von ungefähr

Paula, Jonas und Kate erlernen im Winter 2007/2008 das Malereihandwerk, den Umgang mit Farbe und Materialien, den genauen Blick, das Erkunden und Erforschen des darzustellenden Gegenstands. Sie bleiben in Kontakt, während sie Aufträge in Turin, in Mailand, Rom, Berlin, Glasgow oder New York erfüllen, und treffen sich im Januar 2015 in Paris wieder.
Dabei schickt die Autorin den Leser auf einen Kurztrip zurück in die Geschichte der Erde: Vom Oberdevon, währenddessen sich vor 370 Millionen Jahren im damals tropischen Klima Europas der Marmor gebildet hat, bis zu der Höhle von Lascaux in der Dordogne, die, 20.000 Jahre unter Verschluss, nach ihrer Entdeckung während des Zweiten Weltkriegs nur kurze Zeit die Frühform des Massentourismus aushielt, bevor sie im April 1963 vom Kulturminister Malraux für den Publikumsverkehr geschlossen werden musste.
Die "Geburt der Kunst" in der Höhlenmalerei, der originalgetreue Nachbau mit den Mitteln des digitalen Zeitalters in Lascaux IV und schließlich das Attentat auf Charlie Hebdo, die "Ermordung der Zeichner", bilden die unterschwellige Zeitachse des Romans, dessen Heldin nicht umsonst den Nachnamen "Karst" trägt.

Literarische Ambitionen auf mittlerem Niveau

"Eine Welt in den Händen" ist ein unterhaltsamer Roman über Kunst, Naturgeschichte und Erwachsenwerden. Intelligent gemacht und plätschernd erzählt, darf er als ideale Strandlektüre durchgehen. Der Geist wird dabei nicht allzu sehr strapaziert, auch die literarische Ambition pendelt gemütlich auf mittlerem Niveau.

Maylis de Kerangal: "Eine Welt in den Händen"
Aus dem Französischen von Andrea Spingler
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
270 Seiten, 22 Euro

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