Maxim Leo über sein neues Buch "Wo wir zu Hause sind"

"Das Familiengedächtnis ist etwas sehr Unscharfes"

Cover des Buches "Maxim Leo: "Wo wir zu Hause sind" und Wüste Negev in Israel
Auch nach Israel gingen Teile der Familie Leo. © Kiepenheuer & Witsch / imago / imagebroker
Maxim Leo im Gespräch mit Frank Meyer · 20.02.2019
Der Berliner Autor Maxim Leo hat in "Wo wir zu Hause sind" die Geschichte seiner jüdischen Familie aufgeschrieben, die in aller Welt zerstreut wurde. Das Buch habe die Familie vereint, sagt der Journalist.
Frank Meyer: Der Autor Maxim Leo schreibt in seinem neuen Buch "Familie ist für mich, wenn vier Menschen um einen Tisch sitzen. Die vielen anderen Leos waren immer fern in der ganzen Welt verteilt." Um diese in der Welt verstreute Familie geht es in dem Buch. Maxim Leo hat schon einmal ein Buch über seine Ostberliner Familie geschrieben. Das wurde viel gelesen. "Haltet euer Herz bereit" war der Titel, und "Wo wir zu Hause sind: Die Geschichte meiner verschwundenen Familie", so heißt jetzt das neue Buch. Herr Leo, seien Sie willkommen hier in der "Lesart"!
Maxim Leo: Guten Morgen!
Meyer: Sie haben uns gerade schon erzählt, heute beim Frühstück war ihre verstreute Familie dann doch zusammen zu großen Teilen in Ihrer Berliner Wohnung - um das Buch mit in die Welt zu begleiten?
Leo: Ja, dieses Buch hat schon irgendwie die Familie vereint auf eine Art und Weise. Die sind jetzt alle gekommen zur Buchpremiere, die heute Abend stattfindet, und wir haben gestern Abend zusammengesessen und haben gegessen und haben erzählt, und es war ein tolles Gefühl, da zusammenzusitzen. Ich habe die ja alle einzeln besucht, aber es ist schon wieder anderthalb Jahre her, und habe mit denen lange Gespräche geführt, und die haben mir ihre Leben erzählt, haben mir auch vertraut, Dinge anvertraut. Jetzt ist dieses Buch fertig, und jetzt sind die alle da. Es ist ein schöner Moment.
Der Berliner Autor Maxim Leo bei einer Lesung im Rahmen der Erfurter Herbstlese 2018
Maxim Leo: "Mein Bruder heiratete (...) und das ganze Herrenhaus war voller Leos. Ich dachte, eigentlich wäre es toll, wenn wir immer so viele sein könnten." © imago/ VIADATA / Holger John
Meyer: Das glaube ich unbedingt. Ihre jüdische Familie, die ist vor der Verfolgung der Nazis aus Deutschland geflohen. Woher kam denn jetzt bei Ihnen der Wunsch, die Familie wieder zusammenzuholen erst einmal in diesem Buch?
Leo: Das war so ein anderer Familienmoment, der mich dazu brachte. Mein Bruder heiratete in einem brandenburgischen Herrenhaus und hatte sehr viele von den Familienleuten eingeladen. Auf einmal waren da die aus Israel, England und Frankreich, und das ganze Herrenhaus war voller Leos. Ich dachte so, Mann, eigentlich wäre es toll, wenn wir immer so viele sein könnten, weil unsere Familie in Berlin immer sehr klein war, weil der Einzige, der damals nach dem Krieg zurückkam nach Ostberlin, war mein Großvater, weshalb ich in Berlin geboren wurde und die anderen woanders.

Überschaubarer Kreis von Leuten

Wir waren immer sehr wenige, und die wenigen haben sich auch noch oft gestritten. Also Familie war bei uns immer ein relativ überschaubarer Kreis von Leuten, und auf einmal waren da so viele Leute, und die waren auch so, die hatten auch so eine Nostalgie. Ich habe gemerkt, dass die eine große Sehnsucht nach Berlin hatten, dass wir so ein bisschen gegenseitig eifersüchtig waren aufeinander.
Ich habe immer gedacht, Mann, haben die es gut, die können in Paris, in London großwerden, und ich muss in Berlin-Lichtenberg irgendwie hier, und die dachten immer, Mann, hat der es gut, der kann da groß werden, wo wir immer die Geschichten hören von dieser verlorenen Heimat. Irgendwie dachte ich, ist eigentlich ganz schön, darüber zu schreiben, auch dass die nicht nur über die Geschichten der Groß- und Urgroßeltern damals, die gegangen sind, sondern auch über die meiner Cousins und Cousinen, die heute nach Berlin zurückkommen.
Meyer: Sie gehören jetzt zur Generation der Enkel, und es ist ganz auffällig, dass es oft die Enkel sind, die solche Familiengeschichten wieder sammeln und aufschreiben. Wie war das denn bei Ihnen? Warum ist das eher Ihr Thema als zum Beispiel das Thema Ihrer Eltern?
Leo: Ich habe mit meiner Mutter drüber geredet, weil die ja nun auch Historikerin ist und auch Bücher schreibt und auch sich mit der Familie beschäftigt.
Meyer: Annette Leo.
Leo: Ja. Also eigentlich wäre es fast natürlicher ihr Thema gewesen, aber sie sagt selbst, dass sie sich da zu dicht dranfühlt, dass es ihr schwerer fällt, über ihre eigenen Eltern zu schreiben, über diese Generation zu schreiben. Wahrscheinlich ist es wirklich auch so, dass man da in der dritten Generation größere Freiheiten hat, sich nicht so gebunden fühlt an Dinge.
Ich merke das auch in der Familie in Israel zum Beispiel, dass die jetzt kommen nach Berlin und dass da jetzt einer sogar geheiratet hat hier und der andere hier studieren will und arbeiten will - liegt sicher auch daran, dass da einfach so eine Last nicht da ist, die vielleicht ihre Eltern noch auf den Schultern hatten, auch diese Angst davor, den eigenen Eltern irgendwas zu tun, was die verletzen könnte oder was die erinnern könnte an etwas, was ihnen unangenehm ist, so diese Last der Geschichte, die auf den Schultern so wortlos weitergereicht wird und die dann, wenn es gut läuft, immer kleiner wird in so einer Familie.
Meyer: Sie haben sich jetzt, um Ihr Buch aufzubauen, erst mal auf drei Frauen konzentriert, die damals aus dem Berlin der 30er-Jahre geflohen sind. Warum haben Sie das erst mal auf diese Frauen so aufgebaut?
Leo: Also erstens gab es eine große Kritik von Frauen an meinem ersten Buch "Haltet euer Herz bereit", weil das Personal zu männlich war, so wurde gesagt.
Meyer: Und das haben Sie sich zu Herzen genommen.
Leo: Dem wollte ich begegnen, und dann waren es aber auch drei Frauen, die einfach toll waren und die tolle Geschichten hatten und sehr starke, überraschende Frauen, die im Grunde noch sehr jung aus ihrem Leben gerissen wurden und weggehen mussten und aber überhaupt keine Opfergeschichten hatten, sondern tolle Geschichten hatten.
Also da ist Hilde, die in Berlin Schauspielerin war und in kleinen Theatern gespielt hat und nach London geht und ein Business aufmacht und auf einmal Häuser kauft im Bombenkrieg, in der Hoffnung, dass ihre Häuser jetzt nicht zerbombt werden, und auch Glück hat, weil es nicht passiert und Millionärin wird. Oder Nina, die nach Israel geht, einen Kibbuz gründet, unter furchtbarsten Bedingungen da körperlich schwer arbeitet, an einem Maschinengewehr irgendwann steht. Also ein Wechsel von Leben, der da stattfindet, der kaum zu beschreiben ist.
Meyer: Wenn man das so liest und diese wirklich unglaublichen Lebenswege nachvollzieht, manchmal hat man das Gefühl, man sei eher in einem Roman gelandet, aber es sind tatsächlich die Geschichten Ihrer Familienmitglieder.

Drei Fragen, drei verschiedene Antworten

Leo: Ich habe es versucht, auch ein bisschen als Roman zu schreiben. Man hätte es viel korrekter noch schreiben können, dass man sagt, der eine sagt das und der andere sagt das, und möglicherweise war das so. Ich habe mir irgendwann gedacht, die Geschichten sind so gut, man darf sie jetzt nicht zu versachbuchlichen.
Dann ist es ja sowieso so, dass Familiengedächtnis etwas sehr Unscharfes ist. Also man fragt drei Leute, wie etwas war, man hat drei verschiedene Fassungen davon. Deswegen finde ich es sowieso abenteuerlich, ein Buch, was auf Familienerinnerungen beruht, als Sachbuch gelten zu lassen, weil es ist immer ein Roman, es ist immer eine Fiktion, die da als Erinnerung uns daherkommt.
Meyer: Und wenn wir beim Stichwort Wahrheit sind, haben Sie das dann Ihren Familienmitgliedern zum Lesen gegeben vor dem Veröffentlichen, auf dass die sagen, ja, stimmt so, kannst du so rausbringen?
Leo: Ja, die haben das alle bekommen natürlich, weil es ja auch sehr intime, sehr private Dinge sind, die da auch besprochen werden und habe denen allerdings gesagt, ihr könnt nur sagen, "so war es nicht", das wird akzeptiert, aber so "das mag ich nicht" wird nicht akzeptiert. Das ging eigentlich alles ganz gut durch.
Meyer: Ich war ein bisschen verzweifelt, was man da jetzt rausgreift aus diesen Geschichten. Eins fand ich ganz beeindruckend: Eine der Frauen, die geflohen ist, selbst aus Berlin, Ilse, die hat ihrem Leben in Wien dann mit 60 Jahren noch mal eine völlig neue Wendung gegeben. Sie hat mit 60 ihr Abitur nachgeholt, hat dann studiert, Psychologie, mit Mitte 60 dann eine eigene Praxis noch eröffnet. War das immer so eine unternehmungsfreudige Frau, diese Ilse?
Leo: Ich glaube, bei Ilse war es eher so, dass die wahnsinnig darunter gelitten hat, dass diese Flucht aus Deutschland ihr verhindert hat, dass sie zur Schule gehen konnte weiter, dass sie studieren konnte, dass alles, was sie sich erträumt hatte, nicht möglich war, und nach dem Krieg, sie war dann im Untergrund im Krieg, hat ihr Kind im Konzentrationslager bekommen.
Es war nie Zeit für sie, und dann waren die Kinder, dann hat sie die Kinder großgezogen, und dann hat sie sich um die Praxis ihres Mannes gekümmert, der auch Arzt war. Irgendwann, als das alles erledigt war, hat sie gesagt, so, und jetzt mache ich noch mal meins, und hat dann angefangen, Abitur zu machen mit 60 und hat uns irgendwie auch allen gezeigt, dass es überhaupt keine Ausrede gibt, zu sagen, jetzt ist eh zu spät. Es ist nie zu spät.

"Dieses Buch hat mir die Familie sehr nahegebracht"

Meyer: Eine tolle Frau, Ilse. Ganz bewegend fand ich eine Geschichte, da geht es um einen Mann, um André, der ist als kleiner Junge mit seiner Mutter Hilde nach England gekommen, ist dort Wissenschaftler geworden, hat immer in Großbritannien gelebt, und 80 Jahre nach seiner Flucht, also vor Kurzem erst, ist er dann zur Deutschen Botschaft in London gegangen, um einen deutschen Pass zu beantragen. Was hat bei ihm dazu geführt?
Leo: Das waren ein bisschen die Gespräche, die wir geführt haben. Also ich bin dahin, nach London gefahren, wir haben, glaube ich, zwei Wochen mehr oder weniger miteinander geredet. Damals war die Brexit-Diskussion schon eingesetzt, und Andrew, sein Sohn, hat immer gesagt, na ja, aber wenn der Brexit irgendwann kommt, wäre es doch toll, wenn wir europäische Pässe haben könnten. Also mit europäischen Pässen meinen die immer Festlandpässe, also Deutschland zum Beispiel.
André hatte sich da wahnsinnig gegen gewehrt, weil ihm war diese Idee suspekt, dass er jetzt nach so vielen Jahren sich wieder so einen deutschen Pass besorgt. Das wäre ihm so als Verrat an England erschienen, was ihn ja aufgenommen hat. Über diese Wochen, in denen ich da war, haben die immer wieder über dieses Thema diskutiert. Das fand ich toll, dass sozusagen diese Geschichte nicht nur eine historische Geschichte blieb, sondern irgendwie so ins Heute ragt und die Leute heute bewegt. Dann ging er irgendwann zur Botschaft und hat gefragt, ob er seinen Pass haben kann und hat bei der Gelegenheit erfahren, dass er nie ausgebürgert wurde, sondern dass er einfach dort als Deutscher galt, der seinen Pass momentan nicht hatte. Sie haben ihm gesagt, Sie waren immer Deutscher für uns.
Meyer: Jetzt ist er hier in Berlin, André, um Ihr Buch mit auf die Welt zu bringen. Was hat denn dieses Aufschreiben dieser Familiengeschichte, was hat das denn für Sie verändert für Ihr Verhältnis zu Ihrer Familie und zu sich selbst vielleicht auch?
Leo: Dieses Buch hat mir diese Familie sehr verdeutlicht und sehr nahegebracht. Es ist natürlich auch ein Riesenluxus, die alle besuchen zu können, die so gut kennenlernen zu dürfen, sich mit denen so lange unterhalten zu dürfen. Die sagten irgendwann, na ja, wahrscheinlich haben wir mit dir mehr geredet als mit unseren eigenen Kindern. Insofern sind die mir heute alle viel näher.
Dann habe ich auch so gemerkt, dass man natürlich, man hat ja immer so diese Illusion der Individualität, dass man denkt, man sei das Produkt seiner eigenen Entscheidungen, und weil man an dieser einen Kreuzung abgebogen ist, ist man das geworden, was man heute ist, und da ist so ein bisschen Bescheidenheit eingekehrt in diese Sache, weil ich einfach merke, man ist am Ende so ein Glied in einer langen, langen Kette. Man erfährt Dinge aus Generationen davor, die einem so bekannt vorkommen, weil man genauso ist. Die haben einen geprägt, bevor man es wusste, dass sie einen prägen konnten.
Meyer: Davon erzählen Sie auch in Details, zum Beispiel, wie Sie zählen mit Ihren Fingern auf eine ganz eigentümliche Weise, und das bei einem entfernten Verwandten dann auf wundersame Weise wiederfinden, in dem Buch "Wo wir zu Hause sind: Die Geschichte meiner verschwundenen Familie" von Maxim Leo, bei Kiepenheuer und Witsch erschienen, mit 370 Seiten, 22 Euro ist der Preis. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Leo!
Leo: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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