Max Annas: "Finsterwalde"

Düster, dunkel, Deutschland

Buchcover Max Annas: Finsterwalde
Marie sitzt in einem Internierungslager, doch ihr gelingt die Flucht nach Berlin. © Rowohlt / dpa-Bildfunk / Sean Rayford
Von Thomas Wörtche · 24.08.2018
Überwachung, Unterdrückung und Bedrohung: In Deutschland herrscht eine brutale Diktatur, die Fremde und Andersdenkende interniert. Mit "Finsterwalde" hat Max Annas einen beklemmenden und zugleich hochaktuellen Thriller vorgelegt.
"Relativ bald. Oder vielleicht zwei, drei Jahre später" – so datiert Max Annas seinen neuen Roman, "Finsterwalde". In diesem brandenburgischen Städtchen interniert eine neue, nationalistische Regierung, deren Logo ein großes, geschwungenes D ist, Menschen, die zwar einen deutschen Pass, aber die falsche, nicht-weiße Hautfarbe und afrikanische Wurzeln haben. Andere Lager für asienstämmige Menschen gibt es in anderen Landesteilen und wer es geschafft hat, ist schon längst aus Deutschland geflohen. Die EU gibt es nicht mehr, das System basiert auf totaler Überwachung, auf Polizei und Bürgermilizen und auf nie wieder revidierten Ausnahmezustandsgesetzen. Das Lager in Finsterwalde ist mit Stacheldraht umgeben, draußen stehen Panzer und Militär bereit, am Himmel schweben Drohnen und Hubschrauber werfen hin und wieder Versorgungspaletten ab.

Flucht aus dem Internierungslager

Um den Aderlass qualifizierter Arbeitskräfte auszugleichen, wirbt die Regierung derweil aus anderen europäischen Ländern weißhäutige Menschen an, denen man in Deutschland eine gesicherte, wenn auch durch Fußfessel gesicherte und überwachte Existenzen verspricht. Die Ärztin Eleni, die mit ihrem arbeitslosen Gatten Theo aus Griechenland nach Berlin gekommen ist, übernimmt die Praxis von Marie, die mit ihren Kindern in Finsterwalde eingesperrt ist. Marie hat in der Wohnung Fotos als Kassiber hinterlassen und so macht sich der neugierig gewordene Theo auf den Weg dorthin. Gleichzeitig brechen Marie und ein paar andere Lagerinsassen aus, um in Berlin Kinder zu retten, die bei den Verhaftungen "vergessen" worden waren und vermutlich am verhungern sind. Im Kampf gegen Bürgerwehren und Soldaten treffen sie sich und müssen unter lebensgefährlichen Umständen in das scharf bewachte und überwachte Berlin einsickern.
Die Atmosphäre von allgegenwärtiger Bedrohung, die Annas sehr konsequent erzeugt, leitet sich nicht von einem gegenwartsfernen dystopischen Entwurf her, sondern entsteht umso unbehaglicher, weil er nur gegenwärtige Tendenzen leicht hochrechnet. Racial profiling ist Alltag, biometrische Überwachung längst beschlossene Sache, Grundrechtebeugungen politischer Alltag, "anders" aussehende Menschen leben immer prekärer und Abweichungen von einer algorithmisch definierten "Normalität" werden (im Moment noch nur privatwirtschaftlich) in Scorings abgebildet.

Anspielungen auf gegenwärtige Trends

Die Hemmschwelle vor nackter Gewalt ist bei Annas deutlich gesenkt, das gilt auch für reaktive Gewalt. Und das ist nicht nur dem Genre "Thriller" geschuldet, sondern ergibt sich schon fast organisch als Option in einem politischen Kontext, der nichts lächerlicher findet als den "herrschaftsfreien Diskurs". Mit "Gewaltverherrlichung" hat das überhaupt nichts zu tun, im Gegenteil – darin liegt der wirklich dystopische, der wirklich schmerzhafte Punkt dieses bösen Romans, der die wirklich bösen Implikationen eines gegenwärtigen Trends auslotet. Und der dennoch zumindest noch ein paar Tugenden wie Freundschaft, Solidarität und Liebe nicht gleich a priori mit in die Tonne tritt. Es gibt Bücher, die tun weh, "Finsterwalde" ist so eines.

Max Annas: Finsterwalde
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2018
396 Seiten, 22 Euro

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