Mauricio Rosencof: "Kerkerjahre"

Gedichte per Klopfzeichen durch die Gefängniswand

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Eine Illustration zeigt das Cover des Buches vor einem Hintergrund.
Kerkerjahre ist die brutale Schilderung der Gefängniszeit unter der Militärdiktatur Uruguays. © Assoziation A / Deutschlandradio
Von Victoria Eglau · 14.08.2019
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In "Kerkerjahre" beschreiben zwei ehemalige politische Gefangene ihr Märtyrium als Geiseln der Militärdiktatur in Uruguay. Nun erscheint das Buch in einer Neuauflage. Ein Besuch bei einem der beiden Autoren, dem 86-jährigen Mauricio Rosencof.
Der Blick aus Mauricio Rosencofs Wohnung verliert sich im Blau des Himmels über Montevideo und im Grau des Río de la Plata. Der Schriftsteller wohnt nur wenige Schritte von der Strandpromenade des "Silberflusses" entfernt, der hier so breit ist wie ein Meer. Man ahnt, was die grandiose Aussicht für einen Menschen bedeutet, der zwölf Jahre in den Kerkern von Uruguays Militärdiktatur eingesperrt war. Rosencof war einer der Gründer der Nationalen Befreiungsbewegung Tupamaros. 1972 wurden er und viele andere Mitglieder dieser linken Guerillagruppe verhaftet. Nach dem Militärputsch im Jahr darauf verschärften sich ihre Haftbedingungen drastisch.
"Wir waren nun keine Gefangene mehr, sondern Geiseln – informierten uns die Militärs. Wenn die Tupamaros noch mal eine Aktion durchführen würden, wären wir dran. Festgehalten wurden wir in unterirdischen Zellen, in die kaum Luft drang. Wir durften uns weder sehen noch miteinander reden."

Permanente Folter und abgrundtiefe Einsamkeit

In einer Dreiergruppe wurden Mauricio Rosencof, Eleuterio Fernández Huidobro und José Mujica von Kaserne zu Kaserne gebracht – eine Tour de Uruguay der Kerker, sagt Rosencof bitter. Fast fünfzig Mal wurden sie verlegt. Permanente Folter – sowohl körperliche als auch psychische – und abgrundtiefe Einsamkeit prägten ihre zwölfjährige Isolationshaft. Noch während der Odyssee beschlossen Rosencof und Fernández Huidobro, die zutiefst inhumane Behandlung später einmal in allen Einzelheiten zu schildern.
"Als wir dachten, wir kämen nicht lebend oder bei Verstand aus diesen Gräbern heraus, haben wir uns geschworen – mit leisem Klopfen an die Wand unterhielten wir uns von einem Verlies zum anderen – dass, wer auch immer von uns beiden überleben sollte, Zeugnis ablegen würde."
Das taten beide nach ihrer Freilassung 1985. Ihr Martyrium sprachen sie in Dialogform auf Band – daraus wurde das erschütternde Buch "Memorias del Calabozo". Eine Neuausgabe liegt unter dem Titel "Kerkerjahre" jetzt auf Deutsch vor. Rosencof und Fernández Huidobro erinnern sich etwa an die tagtägliche Erniedrigung, nicht auf Toilette gehen zu dürfen, an den verzweifelten Hunger, der sie sogar dazu trieb, Insekten zu essen, und an die Mischung aus Freude und Bitterkeit, wenn sie für ein paar Minuten ihre Familien sehen durften. Einer der Besuche seines Vaters hat sich Mauricio Rosencof besonders ins Gedächtnis eingegraben:

Der Vater erkannte seinen Sohn nicht mehr

"Sie holten mich aus dem Verhör, brachten mich in einen Raum voller Soldaten und Hunde und zogen mir die Kapuze vom Gesicht. Mein Vater schaute mich an und sagte: 'Das ist nicht mein Sohn. Wo ist mein Sohn?'"
In dem von der Folter übel zugerichteten, abgemagerten Menschen hatte Isaac Rosencof seinen Sprössling nicht erkannt. Um ihn zu überzeugen, dass er es wirklich war, sprach Mauricio von seiner Kindheit, als die Eltern, aus Polen stammende Juden, ihn Moishe nannten und die Familie in Palermo wohnte, einem Einwandererviertel von Montevideo. Es war eine Zeit der Angst und Trauer um die in Osteuropa zurückgebliebenen Verwandten. Davon handelt Rosencof 2004 auf Deutsch erschienener Roman "Die Briefe, die nicht ankamen":
"Die Briefe, die eines Tages ausblieben, prägten meine Kindheit. Nur eine Schwester meines Vaters blieb übrig. Aus der Familie meiner Mutter hat den Holocaust keiner überlebt."
Isaac Rosencof war Schneider und Kommunist, zuhause wurde die linke, jiddisch-sprachige Zeitung "Unzer Fraint" gelesen. Die kommunistische Kinderstube trug dazu bei, dass Sohn Mauricio, wie so viele andere junge Lateinamerikaner seiner Generation, von einer sozial gerechteren Gesellschaft träumte – und bereit war, die bestehenden Verhältnisse mit Gewalt zu verändern.
Die Geschichte der drei Tupamaros José Mujica, Mauricio Rosencof und Eleuterio Fernández Huidobro war 2018 in Uruguay ein Kinohit - der Film ist auch auf Netflix zu sehen. Er basiert auf dem Bericht "Kerkerjahre" und hat dem Buch zu einem Revival verholfen. Tatsache ist: Was die Ex-Guerilleros erlebt haben, übertrifft jede Fiktion – etwa die jahrelangen Unterhaltungen von Rosencof und Fernández Huidobro per Klopfzeichen durch die Wand zwischen ihren Zellen.

Theaterstücke auf Zigarettenpapier

"Wir phantasierten von Revolutionen oder davon, dass ich den Literaturnobelpreis gewonnen hätte und einen Smoking bräuchte. Wir sprachen von Krankheiten, von unseren Freundinnen – und all das mit unseren Fingerknöcheln!"n Sogar Gedichte klopfte Mauricio Rosencof in die Kerkerwand. Irgendwann gelang es ihm, Theaterstücke auf Zigarettenpapier zu schreiben und sie herausschmuggeln zu lassen.
"Kerkerjahre" ist nicht nur ein Leidensbericht. Gerade Rosencof bedient sich immer wieder schwarzen Humors und entlockt der Tristesse der Haft Poesie – wie bei dieser Erinnerung an eine Vogelfeder, die durch eine Luke in seine Zelle fiel:
"Ich habe sie immer noch. Sie steckt in einem Blatt Papier, auf dem ein Gedicht steht, das ich irgendwann meiner Tochter geschenkt habe, sie war damals noch ein kleines Mädchen: Wo ist dein Vogel, kleine Feder? Mein Vogel ist ein Traum. Er ist davongeflogen. Kommt er zurück? Er geht nie fort: Er fliegt davon und bleibt. Wie alles Geträumte davonfliegt und bleibt."

Mauricio Rosencof und Fernández Huidobro: "Kerkerjahre"
Aus dem Spanischen von Lydia Hantke
Assoziation A, Berlin 2019
384 Seiten, 19,80 Euro

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