Mauergemüse statt Mauerblümchen

Die Berliner Mauer in Kreuzberg, 1962
Die Berliner Mauer in Kreuzberg, 1962 © Deutschlandradio
Von Vanessa Fischer · 11.08.2005
1982 besetzt Osman Kalim ein 350 Quadratmeter großes Stück Land und pflanzt Obst und Gemüse an. Was er nicht weiß, aber bald erfährt: Die Fläche liegt auf DDR-Gebiet, auch wenn die Berliner Mauer östlich davon verläuft. Der Verlauf der Mauer entsprach an dieser Stelle nicht dem Grenzverlauf. Egal, mitten im Kalten Krieg züchtet er dort Obst und Gemüse. Trotz der Aufforderung durch DDR-Grenzer "Weg mit dir oder tot", wie Kalim erzählt. 1984 erhält er von der DDR die Erlaubnis, das Stück Land zu bewirtschaften. Heute hat er dort seine "Sommerresidenz".
Bauarbeiter: "Ich sach ma, wenn man so wat sieht, det würde man doch abreißen und weiter janischt. Det is doch n' Schandfleck, det sieht doch hässlich aus. Da kann man sagen wat man will ... "

Der Kollege vom Bau weiß offenbar nicht, mit wem er es hier zu tun hat. Was er da am liebsten abreißen lassen würde ist nämlich ein Relikt aus Mauerzeiten - die Sommerresidenz eines türkischen Wessis, der mitten im Kalten Krieg, sein Glück im Mauerstreifen fand.

Es nieselt mal wieder. Aber was macht das schon. Regen macht das Gemüse glücklich, sagt Osman Kalin und lockert die Erde auf seinem Kohlbeet.

Osman Kalin: "Wasser Regen - Gemüse sehr gut. Leitung Wasser, kalt, Gemüse nicht gesund sein. Aber Regenwasser ganz gesund."

Ab und zu bückt er sich und legt die Blätter vorsichtig frei. Das geht noch erstaunlich gut mit 80 Jahren. Jeden Tag macht Kalin den kurzen Spaziergang von seiner Wohnung am Lausitzer Platz hierher - zum Bethaniendamm Ecke Mariannenplatz. Seit nunmehr 22 Jahren hat er schließlich hier seinen Garten - und der ist sein Lebensinhalt geworden.

Vor 40 Jahren kam Kalin aus einen kleinen Stadt in Anatolien nach Deutschland. Er sieht so aus, als habe er seine Heimat nie verlassen: Der lange, weiße, gepflegte Patriarchenbart, die Kopfbedeckung - sie variiert zwischen Häkel- und Wollmützchen - je nach Wetterlage. Fast immer trägt er eine Weste über den etwas altmodischen Hemden - manchmal auch noch das karierte Sakko darüber. Seine Geschichte ist eigentlich die eines klassischen türkischen Gastarbeiters. Eigentlich....

Eine Zeit braucht es noch bis der Kohl groß genug ist und Kalin ihn auf dem Türkenmarkt am Maybachufer verkaufen kann.

Kalins Sohn Mehmet meißelt an einem großen rechteckigen Stein. Er erneuert den schmalen Pfad, der mitten durch den Garten führt - genau da, wo die Mauer früher stand und die Stadt in zwei Hälften teilte - genau da, wo die Berliner vor 14 Jahren stückchenweise den Beton aus der Mauer herausklopften.

Osman Kalin: "Mauer hier gerade so hier Mauer, Mauer hier."

Als die Mauer weg war, dachte sich Osman Kalin, könne er den Garten ja noch ein Stück Richtung Osten erweitern. Das tat er auch. Gefragt hat er niemanden, aber das war auch nicht nötig. Schließlich ist das Recht ganz einfach auf seiner Seite:

Osman Kalin: "1990 Mauer weg - Polizei sagen Opa, Opa was macht er? Mir gehört, der Platz mir gehört, der Erde mit gehört - Gott mir geschenkt (lacht) Er lacht der Polizei. Mauer weg, Erde frei lassen, ich gleich nehmen (lacht...)."

An Osman Kalins Humor hat sich wohl so mancher Polizist im Lauf der Jahre die Zähne ausgebissen - oder gleich resigniert. So in etwa muss es auch 1982 gewesen sein, als Kalin mit seiner Familie aus Pfortzheim, wo er im Baugewerbe gearbeitet hatte, nach Berlin kam und das freie Stück Land im Niemandsland - im Mauerstreifen - entdeckte. Es war für den Westen zugänglich, gehörte aber zur DDR. Um Mauer zu sparen, hatten die Ost-Berliner Behörden den Grenzverlauf begradigt.

Osman Kalin tat, was sich vor ihm niemand getraut hatte. Er befreite den Platz von Schrottresten und "begrünte" das Dreieck. Die ersten grünen Zwiebeln schossen aus dem Boden und die Nachbarn trauten ihren Augen nicht:

Osman Kalin: "Alle gucken, Leute gucken. Angst - Leute Angst - DDR so stark. Alle gucken, ich bin so arbeiten alles gucken."

Beim Gucken bleibt es dann aber doch nicht. Irgendwann versuchte die Westberliner Polizei Kalin klar zu machen, auf wessen Land er da munter vor sich hin pflanzte:

Osman Kalin: "Nix wissen DDR gehört Platz - und dann nachher Westpolizei sagen: Pass auf, der Platz DDR gehört. Egal weg- DDR nix interessant."

Die DDR interessierte Kalin also herzlich wenig. Die hatte sein Treiben aber schon eine Weile beobachtet und befand wohl, dass es an der Zeit sei, den alten Mann in seine Schranken zu weisen. Wenn Osman Kalin sich an den Tag erinnert, als die DDR-Grenzoffiziere durch die kleine Tür in der Mauer kamen, setzt das geradezu schauspielerische Talente in ihm frei.

Osman Kalin: "Zwei drei Woche wieder kommt ein Komander, zwei Militär mit Gewehr: Hallooo! Sie sagen mir. Was is? Was macht der hier? Du bist taub? Pass auuuuf: Ich bin von DDR gekommen. Uhh. Und dann eine Gewehr links eine rechts: Komander: Tod oder Weg! So - (Trampelt) So machen: Weg oder Tod! Schimpfen wieder..."

Der "Komander" war also ein harter Brocken. Aber das ist Osman Kalin schließlich auch. Dem einen Grenzoffizier wollte er erst mal das Auge kaputtmachen:

Osman Kalin: "Ich sage: Pass auf! nicht schießen. Dein Auge kaputt machen Herr Komander (Lachen) ...ich bin auch n bisschen deppert, das stimmt, lachen."

So deppert dann auch wieder nicht. - Deppert ist ins Kalins deutschem Vokabular übrigens reichlich vertreten. - Denn irgendwann muss er seine Taktik geändert haben, um den Grenzer von seinem Garten zu überzeugen. Die Geschichte wird etwas verworren. Es wird viel diskutiert. Kalin erklärt dem Grenzer, dass er den Garten für seinen Lebensunterhalt braucht. Der Ton wird weicher.

Osman Kalin: "Grüne Zwiebel, Knoblauch, Salat machen bisschen Öl und dann bisschen Kartoffel machen - mitnehmen Marktplatz verkaufen Bohnen ein Kilo zwei Euro so verkaufen."

Auf dem Markt verkaufen musste Kalin, weil er zu der Zeit nicht auf dem Bau arbeiten konnte. Die Bandscheiben, erzählt er, haben ihn fast zwei Jahre arbeitsunfähig gemacht. Das Krankengeld war dürftig - da musste er sich etwas einfallen lassen. Außerdem ist rumsitzen und Nichtstun auch nicht seine Sache - und das Stück Land schien ja niemand zu wollen.

Osman Kalin: "Ich denken das ist freiwillig, die Erde. Saubermachen - und dann ich bin krank, zwei Jahre krank. Immer nix arbeiten, viel traurig - viel traurig, dass keine arbeiten. Ich möchte Arbeit suchen, immer Arbeit."

Kalins missliche Lage hat den Grenzoffizier offenbar überzeugt. Opa, wie er sich selbst nennt, darf bleiben - und Opa bekommt sogar noch eine offizielle Bescheinigung vom Zentralkomitee.

Osman Kalin: "So schreiben - die Platz: Opa gehört, so Papier schreiben..."

Irgendwie muss er den "Komander", wie Kalin seinen Wohltäter nennt, damals sehr gerührt haben. Denn während Westdeutsche in den 80er Jahren ihre Familienmitglieder im Osten mit Päckchen beglückten - bekam Osman Kalin zu Weihnachten Pakete aus der DDR.

Osman Kalin: "Weihnachten mir eine Paket so groß: Ein Anzug, ein Kilo Cognac, zwei Kilo Tscholata, große Paket."

Zum "Komander" hat Kalin schon lange keinen Kontakt mehr. Gerne hätte er ihn mal in die Türkei eingeladen - daraus ist nichts geworden.

Lieber Mensch der Komander, findet der alte Mann und befreit den schmalen Steinweg im Garten von Erderesten.

Seine groben Hände sind von schwerer Arbeit gezeichnet. Er hat alles rausgeholt aus diesem Inselstück Erde mitten in der Stadt.

Osman Kalin: "Das ist Tomate zwei, drei Kirsche, ein Aprikose da - guck Aprikose. Das ist Kürbis dahinter - da Haselnuss..."

Ob mit oder ohne Mauer: Kalin hat einfach weiter gemacht, wie es ihm gerade in den Sinn kam.

So ist vor ein paar Jahren dann auch die Sommerresidenz entstanden. Zur Seite des Bürgersteigs hin baute er eine Gartenlaube. Naja, eigentlich ist es schon mehr als ein Laube. Eine zweistöckiges Häuschen im Istanbuler Stil - mit überhängender Veranda. Und es gibt wenig, was er für diese Konstruktion nicht gebrauchen konnte: Alte Bretter, Holzplatten, Latten - die Ritzen hat er mit Schaumstoff und Plastiktüten gestopft - für den Unterbau gegen ein paar Kästen Bier von den alten Kollegen beim Bau sogar ein bisschen Beton bekommen.

Schmale Stiegen führen hinauf zum Schlafzimmer. Kalin hat für alles gesorgt:

Osman Kalin: "Hier Bett, meine Bett, hier Ofen (klopft auf Ofen). Gut schlafen, Winter auch nicht kalt."

Die Sommerresidenz ist also auch wintertauglich. Und das obwohl sie aussieht, als könne sie jeder stärkere Wind wegfegen. Normalerweise hätte die baupolizeiliche Aufsicht hier schon für Ordnung gesorgt.

Aber solange es keine Bauvorhaben gab, hat die Stadt Kalins Expansion nach der Wende eben geduldet. Eine so genannte "Toleranzregelung", wie es bei den Behörden heißt. Außerdem war lange Zeit nicht ganz klar, zu welchem Bezirk seine Gemüselandschaft eigentlich gehört. Mitte oder Kreuzberg? Im Zuge einer der letzten Gebietsbereinigungen ist die Insel vor wenigen Wochen den Kreuzbergern zugefallen. Und die Bezirksbehörde versichert: Alles bleibt, wie ist. Schließlich sei der alte Mann mit seiner Ökolaube ja inzwischen eine Attraktion im Kiez.

Kalin selbst wusste von der neuen Regelung noch gar nichts - Gebietsbereinigung gehört auch nicht gerade zu seinem deutschen Wortschatz. Zu kompliziert alles - und wieso sollte sich überhaupt etwas ändern: Bislang war die Stadt doch ganz lieb zu ihm:

Osman Kalin: "Stadt auch liebe, Stadt sagen egal mach, mach. Polizei sagen mach Opa, mach. Alle sagen mach Opa mach."

Und Opa macht - ohne je einen Vertrag unterschrieben und ohne je einen Cent gezahlt zu haben. Das Inselstück Erde gehört einfach zu ihm und Osman Kalin verwaltet es ganz großzügig. Seine türkische Nachbarin am Lausitzer Platz wollte doch auch so gerne ein Stück Garten haben. Da hat Kalin ihr einfach eine Ecke von seinem gegeben. Auch sie pflanzt jetzt Gemüse an. Ein unauffälliger grüner Zaun trennt ihre spitz zulaufende Seite von seiner größeren Gartenhälfte.

Osman Kalin: "Ja ich Geschenk geben, meinen Nachbar Geschenk geben. Alles zusammen ich nehmen - Geschenk geben. Ehrlisch...Frau sagen: Das ist zu viel, ich bin müde, ich bin krank. Egal, teilen Geschenk geben Nachbarn (lachen)."

Seine Frau Hatice hat Kalin sechs Kinder geschenkt. Zwei wohnen in der Türkei und sind Lehrer geworden. Sehr stolz ist er, besonders auf die Töchter. Früher hat Hatice viel im Garten geholfen. Jetzt kommt sie öfter vorbei und bringt etwas zu Essen oder kocht mal einen Tee. Sie trägt ein Kopftuch und einen dieser unförmigen langen, grauen Mäntel. Ein mildes Lächeln auf ihrem müden Gesicht. Deutsch spricht sie nicht - kein Wort. In Kreuzberg kommt sie eben auch ohne ganz gut zurecht.

Außerdem spricht ihr Mann ja genug - auch dafür ist Osman Kalin den Deutschen sehr dankbar:

Osman Kalin: "Deutschland 40 Jahre mir helfen. Ich nicht vergessen! Nicht vergessen! Arbeit geben, Wohnung geben, sprechen gelernt - alles gut gewesen, alles gut gewesen..."

Gut findet Osman Kalin auch, dass die Straße vor und hinter seinem Garten jetzt erneuert wird. Eigentlich sitzt er in diesem Sommer mitten auf einer Baustelle - dadurch gleicht das Grundstück noch mehr einer Insel. Dass die Bauarbeiter einige Stunden am Tag mit dem Presslufthammer genau vor seine Nase fuhrwerken, stört ihn nicht. Er war ja auch mal vom Fach.

Osman Kalin: "Deutsche Technik auch gut, gucke mal. Alte Strasse, neue machen ganz richtig, hundert Jahre nicht kaputt. Türkei nicht so machen - egal bisschen Beton und dann zwei drei Jahre alle kaputt wieder."

Kalins Bewunderung für die deutsche Gründlichkeit lässt die jungen Kollegen vom Bau vor seiner Tür ziemlich kalt. Schließlich geben sie dem ganzen Bethaniendamm einen neuen, ordentlichen Anstrich und sollen diese merkwürdige Insel in der Mitte aussparen. Für Kalins anatolische Bretterkonstruktion haben sie nur Kopfschütteln übrig.

Dabei könnten die Kollegen vom Bau bei Osman sogar eine Erfrischung bekommen. Am Gartenzaun hängt ein weißes Brett mit einer handgeschriebenen Getränkekarte. Es gibt Cola, Fanta, "Schültheiss" - auch wenn es eigentlich Schultheiss sein müsste - und sogar Berliner Pilsener.

Osman Kalin: "Mein Sohn verkaufen, Mehmet verkaufen. Leute abends kommen und trinken."

Das ist also Mehmets Geschäft. Mit dem Verkaufen und Trinken hat Osman Kalin nichts am Hut. Besonders nicht mit Alkohol.

Osman Kalin: "Morgen 1 Uhr bis zwei Uhr beten Moschee. Abend acht Uhr ich bin noch mal beten. Jeden Tag beten."

Wie ein Stammesfürst sitzt der alten Mann auf einem der vielen ausrangierten Polster, die den Bürgersteig vor seiner Residenz bevölkern. Er kaut auf einem Stück Fladenbrot und einer Peperoni herum - und beobachtet das Geschehen auf seiner Straße.

Osman Kalin: "Jetzt ich sagen halbe halbe ich bin Deutsch, ich sagen. Halbe Türkisch halbe Deutsch, aber ich liebe Deutsch ehrlisch. Gott schwören. Warum? Deutsche 40 Jahre mir helfen. Vielleicht noch zehn Jahre oder zwei Jahre oder zwei Monate oder ein Tage, (lacht) vielleicht morgen gestorben Huuuuu."

Dann - lacht der alte Mann, - werde er in einem Meter achzig Tiefe unter der Erde schlafen. Aber das wird wahrscheinlich unter türkischer Erde sein. In der Türkei "Grab viel billiger", sagt Kalin.