Mauer oder Krieg

Von Winfried Sträter · 20.05.2011
"Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben" behaupten Heinz Keßler und Fritz Steletz in ihrem gleichnamigen Buch. Die Weltsicht der ehemaligen NVA-Generäle hat sich auch 50 Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer nicht geändert. Sie erzählen und analysieren in den Denkmustern der damaligen Zeit.
"Ich denke, wenn am 13. August 1961 diese Maßnahmen nicht getroffen worden wären, würden wir möglicherweise heute nicht so friedlich zusammensitzen, insofern ist es ein Datum, an das man sich vergleichsweise positiv erinnern sollte."

Mit diesen Worten des gastgebenden Verlagsleiters Frank Schumann wurde das Publikum auf eine Veranstaltung eingestimmt, die an den Mauerbau positiv erinnerte. Die beiden Herren Generäle, höchstrangige Vertreter der DDR-Militärhierarchie, beklagten, dass selbst ehemalige russische Diplomaten heute den Mauerbau nach dem "gegenwärtigen Zeitgeist" beurteilen und das heißt: kritisch bewerten würden.

Heinz Kessler und Fritz Streletz haben ein Buch über die Mauer geschrieben, gewissermaßen als vorbeugende Maßnahme, wie Streletz erklärte:

"Wir waren uns darüber im Klaren, dass es im Zusammenhang mit dem 50. Jahrestag der Grenzsicherungsmaßnahmen in Berlin – kurz gesagt: Mauerbau – wieder eine gewaltige Hetzkampagne durch die Massenmedien geben wird, und sich sicherlich eine Reihe von Historikern zum sogenannten Mauerbau schriftlich äußern werden."

Die düsteren Vorahnungen sind bereits Wirklichkeit geworden: Professionelle Historikerinnen und Historiker, die sich durch die Archive, auch in Moskau, gewühlt haben, präsentieren in diesem Frühjahr ihre neuesten Erkenntnisse darüber, wie es zum Mauerbau kam. Aber – das sind halt zeitgeistinfizierte Schriften, denen die hochrangigen NVA-Männer ihren höheren Anspruch entgegensetzen ...

"... der historischen Wahrheit die Bahn zu brechen und mitzuhelfen, ein realistisches Geschichtsbild zu vermitteln ..."

... wie Kessler es ausdrückte – und Streletz:

"... um soweit wie möglich ein wahrheitsgetreues Bild der politischen und militärpolitischen Lage zu geben, zu denen die grenzsichernden Maßnahmen am 13. August gegenüber West-Berlin führten."
An diesem Punkt könnte die Sache interessant werden. Denn die beiden Autoren sind ja Zeitzeugen aus dem Machtapparat der DDR - und wenn sie versuchen, aus ihrer Sicht die Ursachen für den Mauerbau zu erklären, werden Geschichtsinteressierte neugierig. Und professionelle Historiker zumal – wobei ihnen das berühmte Bonmot durch den Kopf gehen dürfte, dass der Zeitzeuge der Feind des Historikers sei.

Diese Zeitzeugen indes bereiten dem skeptischen Historiker nicht allzu viel Kopfzerbrechen. Denn das Hauptproblem des Historikers mit dem Zeitzeugen ist, dass sich zwischen dem historischen Geschehen und der heutigen Erinnerung so viele bewusstseinsverändernde gedankliche Schichten gelegt haben, dass man nicht mehr weiß: Was war damals wirklich und was erzählt uns der Zeitzeuge stark verfärbt, weil sich auch seine Weltsicht verändert hat.

Dieses Problem haben wir mit den beiden Zeitzeugen-Buchautoren nicht. Ihre Weltsicht hat den Untergang ihres Staates und Gesellschaftssystems bruchlos überstanden. Sie erzählen und analysieren den "sogenannten Mauerbau" getreu in den Begrifflichkeiten und Denkmustern der damaligen Zeit. Die Flüchtlinge waren Wirtschaftsflüchtlinge, die ihr Land verlassen haben, weil sie im Westen mehr verdienen konnten. Ihre Flucht hat – was niemand bestreitet – der DDR derart materiell geschadet, dass der Staat am Rande des Ruins stand. Und die Grenzgänger waren das Problem: Jene DDR-Bürger, gegen die 1961 im Vorfeld des Mauerbaus eine gezielte Kampagne gemacht wurde. Streletz referiert ganz im Stil der damaligen Zeit:

"Sie wohnten bei uns, nutzten alle Vorteile, arbeiteten aber in West-Berlin. Der jährliche Schaden dadurch betrug 2,5 Milliarden Mark."

Tiefer schürfen die Autoren nicht. Deshalb ist der Erkenntniswert ihrer Wahrheitssuche begrenzt. Die Mauer war die Folge davon, dass es zwei feindliche Blöcke gab. Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben, weil die Alternative die Beschneidung der Besatzungsrechte der Westmächte in West-Berlin gewesen wäre. Die Amerikaner hätten sich das nicht gefallen lassen und militärisch geantwortet. Davor schreckte Chruschtschow zurück. Seine Rolle – das ist noch die interessanteste Botschaft ihres Buches - sehen die beiden Autoren kritisch. Von seinen diplomatischen Fähigkeiten beim Gipfeltreffen mit Kennedy 1961 in Wien halten sie nicht viel.

Chruschtschow habe die Mauer gebaut, nicht Ulbricht: Diese Botschaft ist den beiden DDR-Militärs wichtig. Schließlich war die Mauer für Ulbricht und seine Genossen nur die zweitbeste Lösung, die auch Kessler nicht wirklich gefallen hat:

"Die billigste Lösung, die einfachste Lösung ohne Krieg war, in West-Berlin wird eine Grenze gebildet, und damit war die Sache für Chruschtschow erledigt. Und die Folgen mussten wir nachher ausbaden."