Matthay: Der Film wird als Raubkopie nach Afghanistan gelangen

Katrin Heise im Gespräch mit Sabina Matthay und Jörg Taszman · 17.01.2008
Der Film, der bei uns ins Kino kommt, ist in dem Land, in dem er spielt, wegen einer Gewaltszene verboten. "Drachenläufer" spiegelt in der Geschichte einer Jungenfreundschaft auch den Konflikt der Bevölkerungsgruppen der schiitischen Hasara und der sunnitischen Pashtunen. Es wird befürchtet, erklärt Matthay, dass seine Ausstrahlung die Spannungen vertiefen könnte.
Katrin Heise: 2003 wurde ein unbekannter amerikanischer Schriftsteller afghanischer Herkunft, Khaled Hosseini, sozusagen über Nacht berühmt. Zeitgleich erschien nämlich sein Roman "The Kite Runner", auf Deutsch "Der Drachenläufer", in zwölf Ländern. Inzwischen sind es über neun Millionen verkaufte Exemplare in 40 Ländern geworden. Afghanistan vor dem russischen Einmarsch, vor und während der Talibanherrschaft, eine Jungenfreundschaft, die von einem von beiden verraten wird und die Unterdrückung der Bevölkerungsgruppe der Hasara durch die Pashtunen. Das sind so ein bisschen grob zusammengefasst die Themen. Der Bestseller wurde verfilmt von Marc Foster für die amerikanische Paramount. Diese Verfilmung ist nun zum Politikum geworden. Die Darsteller wurden in Sicherheit gebracht, der Film in Afghanistan verboten. Er enthalte fragwürdige und inakzeptable Szenen, erklärte der Leiter der staatlichen afghanischen Filmgesellschaft Latif Ahmadi. Ich begrüße nun unsere Afghanistan-Korrespondentin Sabina Matthay, die zurzeit in Neu-Delhi sitzt, und den Filmkritiker Jörg Taszman zu diesem Thema. Schönen guten Tag erst mal!
Sabina Matthay: Hallo!

Jörg Taszman: Hallo!

Heise: Herr Taszman, Sie haben Regisseur Marc Foster vor Kurzem sprechen können. Im Moment ist er nicht mehr zu sprechen, weil er seinen neuen oder einen neuen "James Bond" dreht. Als Sie ihn erreicht haben, wie intensiv, hatten Sie das Gefühl, hat der sich auf die Verhältnisse in Afghanistan eigentlich vorbereitet?

Taszmann: Der Marc Foster ist ein sehr vielseitiger Regisseur. Am bekanntesten ist wahrscheinlich "Monster’s Ball", dieser Film mit Halle Berry, der ihr den Oscar ermöglicht hat. Und der ist sehr, sehr gewissenhaft, wenn er sich auf etwas vorbereitet. Er ist ja in Deutschland geboren, in der Schweiz aufgewachsen, mit 21 nach Amerika gegangen. Er hat sich mit sehr, sehr vielen Leuten, die in Afghanistan gelebt haben, in der Zeit getroffen, ist sogar selber nach Kabul gefahren. Der Film ist schon sehr authentisch.

O-Ton Marc Foster: Weil ich dachte mir, dass es wirklich eine Familiengeschichte ist und die Politik eigentlich im Hintergrund steht. Ich habe mich ja mit jeglichen Menschen getroffen, die in Afghanistan in den 70er Jahren gelebt haben und geflohen sind und auch in Kabul mit Künstlern getroffen, Politikern. Und niemand hat mich eigentlich darauf aufmerksam gemacht. Das war damals natürlich eine Situation in Kabul, das so aussah, als wäre da ein neues Afghanistan in Aussicht, dass die Stabilität zunehmen würde, sicherer und sicherer wird und wirklich da eine hoffnungsvolle Zukunft entstehen wird. In dem letzten Jahr hat sich das jetzt sehr stark geändert, weil es immer gefährlicher und gefährlicher wurde, die Taliban immer wieder mehr an Macht gewonnen hat.

Heise: Das sagte Marc Foster also zu Ihnen. Er hat die Schwierigkeiten, fasse ich mal zusammen, nicht so voraussehen können. Sprechen wir jetzt mal kurz über den Auslöser des Verbotes in Afghanistan. Die Szene, in der ein kleiner Junge, ein Hasara, von einer Jugendgang vergewaltigt wird, aber das ist ja nicht alles, wofür diese Szene steht. Sie haben den Film gesehen. Wie kam es Ihnen vor?

Taszman: Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, ich habe gestern noch mal wild herumtelefoniert, weil mir gar nicht so bewusst war, dass das wirklich so eine eindeutige Vergewaltigung ist. Ich habe das eher als eine Erniedrigung gesehen, als natürlich eine sehr gewalttätige Szene. Und der Amir, der verrät seinen Freund, den Hassan, in dieser Szene. Aber es war für mich jetzt nicht so eindeutig als Vergewaltigung erkennbar, das ist auch sehr dezent gemacht. Das ist ja für den amerikanischen Markt gedreht. Und der Film würde ja eine Freigabe unter 18 sonst kriegen. Da hat man schon sehr behutsam inszeniert. Und Marc Foster hat das auch sehr behutsam getan. Das ist keine sehr explizit gedrehte, gewalttätige Szene. Aber sie schreckt natürlich ab, und sie geht unter die Haut.

Heise: Und es geht eben dann darum, dass der Konflikt zwischen den Hasara und den Pashtunen jetzt angeblich befürchtet wird. Frau Matthay, Sie waren in letzter Zeit immer wieder in Afghanistan unterwegs. Wie stellen sich denn diese Spannungen zwischen Hasara und Pashtunen jetzt zurzeit dar?

Matthay: Sie sind latent, aber sie sind latent immer da, diese Spannungen. Die Hasara sind seit Jahrhunderten diskriminierte Außenseiter. Einmal, weil man ihnen die mongolische Abstammung ansieht, da passen sie dann schon nicht rein. Außerdem sind sie Schiiten und damit eine Minderheit in Afghanistan. Denn die allermeisten Muslime dort sind Sunniten. Die Spannung hat es immer gegeben. Hasara waren immer Außenseiter, und zwar welche, die am unteren Ende der sozialen Hierarchie standen. Das ist in Khaled Hosseinis Buch auch sehr genau beschrieben worden. Pashtunen dagegen empfinden sich als Herrschervolk. Und was nun diesen Film angeht, so ist es dann natürlich so, dass die Pashtunen nicht als Vergewaltiger dargestellt werden wollen und die Hasara möchten nicht, dass sie als Vergewaltigte dastehen. Denn das, was auf uns dezent wirkt, das wirkt in einer anderen Kultur und in dieser Kultur dann vielleicht erniedrigend, und damit muss man sehen als starker Verstoß gegen das Ehrgefühl der Menschen dort.

Heise: Jetzt ist diese Szene ja nicht das erste Mal durch den Film bekannt geworden, sondern eigentlich ja durch den Roman schon. Kennt man Hosseinis Roman in Afghanistan, Frau Matthay?

Matthay: Interessanterweise ist das Buch in Afghanistan nur ganz wenigen bekannt, nämlich denen, die Englisch sprechen, denn "The Kite Runner" ist nicht in einer der dort geläufigen Sprachen übersetzt worden. Das liegt natürlich auch daran, dass, ich glaube, die Analphabetenrate in Afghanistan irgendwo bei 70 Prozent liegt und es gibt nicht viele Abnehmer dafür. Die englisch sprechenden Afghanen interessieren sich sehr wohl für das Buch. Sie interessieren sich auch für den Film. Das sind aber natürlich auch die Wohlhabenden, Gutgebildeten, die viel Zeit im Ausland verbringen können, die ohnehin reisen und sich DVDs auf Englisch mitbringen lassen können. Aber trotzdem: Dieser Film, der wird über kurz oder lang nach Afghanistan gelangen, nämlich als DVD-Raubkopie und ganz bestimmt mit Untertiteln in Dari. Die Zensur, es wird bestimmt unterlaufen.

Heise: Sagen Sie, Herr Taszman, konnte eigentlich in Afghanistan gedreht werden?

Taszman: Das war zum Beispiel schon nicht mehr möglich. Marc Foster hat es ja angedeutet. Wie er mit den Recherchen begann, war die politische Lage noch etwas freundlicher. Er konnte da noch hinfahren. Das hat er aber ab einem gewissen Punkt dann eben auch nicht mehr gemacht. Er hat sehr wohl mit afghanischen Darstellern gedreht, solchen, die mittlerweile in Amerika leben. Aber die Kinderdarsteller kommen ja selber aus dem Land. Allerdings musste er eben nach China, nach Westchina, ausweichen, um den Film dort zu drehen. Er hat aber schon versucht, den Film, nachdem er fertiggestellt war, der afghanischen Gemeinde in Amerika erst mal auch zu zeigen und sich so ein bisschen abzusichern.

O-Ton Foster: Aber damals waren die Leute wirklich einfach so zuversichtlich und haben sich so gefreut, als ein Film, der sich wirklich mit ihrer Kultur auseinandersetzt in einer sehr authentischen und humanen Weise, und die Charaktere jetzt nicht bei Hollywood Stars besetzt und als Stereotypen verkauft werden. Und jetzt haben wir auch ja auch den Film halt gezeigt an viele Afghanen in Amerika. Und der Botschafter hat’s neulich gesehen, und da hat er gesagt: Der Film ist ein Liebesbrief zu Afghanistan. Und viele haben sich sehr geehrt gefühlt durch den Film.

Heise: Die Verfilmung "Der Drachenläufer" startet heute in den deutschen Kinos. Ich spreche über das Verbot in Afghanistan und die Situation dort mit unserer Korrespondentin Sabina Matthay und dem Filmkritiker Jörg Taszman. Die Verfilmung hält sich ja sehr eng ans Buch, Herr Taszman. Wie viel war dem Regisseur eigentlich an der authentischen Darstellung Afghanistans gelegen, jetzt, wo er da gar nicht mal drehen konnte?

Taszman: Er hatte, wie das auf Englisch so schön heißt, authenticity advisers, das waren Afghanen, die ihm ganz genau gesagt haben, wie die Tischtücher damals aussahen, die Kaffeetassen aussahen. Und da gab es dann auch Streit unter den ganzen Experten. Da sichert man sich in solchen großen Hollywood-Produktionen schon sehr, sehr ab.

Heise: Frau Matthay hatte gesagt, dass der Film sicherlich über DVD kommt und auf Dari untertitelt wird. Sie haben erzählt, der ist in Dari gedreht worden?

Taszman: Der Film ist in Dari gedreht worden, den müssen die gar nicht untertiteln. Das war eine der Bedingungen, zu denen Marc Foster diesen Film nur angenommen hat. Der hat gesagt: Das macht überhaupt keinen Sinn, dass da alle Englisch reden. Das heißt, Englisch wird nur geredet, wenn der Film in Amerika spielt und selbst da nicht immer. Wenn Vater und Sohn reden, reden die auch auf Dari. Und das ist unwahrscheinlich schade und ärgerlich, dass dieser Film in Deutschland durchsynchronisiert worden ist. Wenn die Amerikaner den wirklich in der Originalsprache sehen, und der läuft in Amerika sehr, sehr erfolgreich, hat immerhin zehn Millionen Dollar eingespielt, das ist so erfolgreich wie "Das Leben der anderen".

Heise: Frau Matthay, Sie hatten es ja erwähnt, dass Sie annehmen, dass über DVD der Film über kurz oder lang sowieso reinkommt. Erklären Sie uns doch mal kurz: Wie verbreitet ist eigentlich Kino und Film im Afghanistan heute?

Matthay: Film und Kino unheimlich beliebt, die Afghanen lieben Filme, besonders übrigens Bollywood-Epen. Die machen ungefähr 80 Prozent der Filme in den Kinos aus. Allerdings Kinos selber gibt es verhältnismäßig wenige, in der Großstadt Kabul mit vier Millionen Einwohnern immerhin gerade mal sieben oder acht. Und die zeigen dann die Massenfilme. Das liegt auch an der Zensur. Denn ist im Grunde alles verboten, was eine politische Botschaft hat. Es gibt keine Pornografie. Alles, was den Interessen Afghanistans und des Islam schadet, das wird beanstandet. Und das ist natürlich ziemlich weit gefasst. Und da springen dann die DVDs ein. Da macht der DVD-Player dem Kino Konkurrenz. DVDs sind preiswert, kommen übrigens oft noch vor Filmen, die im Ursprungsland ins Kino kommen, nach Afghanistan. Das kann man oft da schon sehen und eben genau diese Bollywood-Schinken. Die habe ich teilweise in Afghanistan eher gesehen als in Indien.

Heise: Die ja auch nicht unbedingt züchtig sind?

Matthay: Oh, doch! Die Inder sind sehr, sehr prüde. Man sieht zwar durchaus sehr viele Gesten, die erotisch aufgeladen sind, aber Nacktheit zum Beispiel ist durchaus verpönt. Küsse auf keinen Fall. Und Bettszenen? Vergessen Sie es!

Heise: Frau Matthay, eine Frage noch: Wenn das Ganze jetzt sowieso, dieser Roman, nicht so vielen Afghanen bekannt ist, dieses Verbot jetzt vom Film, hat das eigentlich irgendwie zu Diskussionen geführt?

Matthay: Nein, denn so etwas ist ja an der Tagesordnung. Und nur wenige Menschen erfahren davon eigentlich, deswegen keine Diskussionen darüber.

Heise: Haben Sie eigentlich die flatternden Drachen schon gesehen in Kabul?

Matthay: Ja, habe ich. Man kann sie im Grunde auch an jedem Wochenende sehen und an jedem Festtag. Da wird auf großen Ebenen rund um die Stadt, überall da, wo man ein bisschen laufen kann, werden die Drachen steigen gelassen. Und es sind durchaus nicht nur Jungs, die das tun, sondern auch erwachsene Männer.

Heise: Sabina Matthey, Korrespondentin, zuständig für Afghanistan und unser Filmkritiker Jörg Taszman zu den Schwierigkeiten, die die Verfilmung "Der Drachenläufer" in Afghanistan hat. Ich danke Ihnen sehr herzlich für dieses Gespräch, Ihnen beiden! Heute startet der Film "Der Drachenläufer" in den deutschen Kinos.
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