Matthäuspassion aus Jerusalem

Ganz nah bei Golgatha

Die armenisch-orthodoxe Helenakapelle in der Grabeskirche in Jerusalem
Die Grabeskirche in Jerusalem © dpa / picture alliance / Marius Becker
28.02.2015
Brisant und ergreifend - Johann Sebastian Bachs Opus Summum - die Matthäuspassion - am authentischen Ort, wenige Kilometer von Golgatha entfernt. In einer estnisch-israelischen Koproduktion singen Solisten aus beiden Ländern, es spielen Mitglieder des Jerusalemer Sinfonieorchesters, es singen Chöre aus Tallinn - der Dirigent ist der estnische Alte-Musik-Spezialist Andres Mustonen.
Es hat durchaus eine lange Tradition - die Passionsoratorien der europäischen Musik erklingen immer mal wieder in der Stadt, in der sich alles vor knapp zweitausend Jahren zugetragen haben soll: Leben und Sterben des Predigers Jesus von Nazareth. Der von einem seiner Jünger verraten, von dem anderen verleugnet worden war und letztlich von den Römern hingerichtet wurde, weil er Unruhe gestiftet und das religiöse Establishment der Juden provoziert haben soll.
Nicht unumstritten ist heutzutage in der Heiligen Stadt, die mit anderen Problemen kämpft als mit denen einer musikalischen Aufführung, der Rahmen: Konzert mit den Passionen Johann Sebastian Bachs wurden, wenn sie nicht im geschützten Raum einer Kirche stattfanden, mehrfach gestört, weil der Inhalt dieser Werke den Haredim, den orthodoxen Juden, nicht gefiel, die in der Stadt, die ein Zentrum für alle drei Buch-Religionen ist, immer stärker den Ton angeben.
Mit dem Wissen wiederum um das, was zwischen 1933 und 1945 in Europa geschah, lassen sich manche Passagen der Passionen nur dann ohne Skrupel hören, wenn man sich vorher einige Gedanken um Sinn und Inhalt und musikalische Umsetzung gemacht hat. Der Karfreitag war für die europäischen Juden Jahrhunderte lang ein Tag der Angst - nicht wenige Christen beteten in der Kirche ihren Heiland an, weinten um ihn bittere Tränen, um anschließend hinaus zu gehen und ein quasi-Pogrom zu begehen. Dass manche Szenen aus der Passion, wie Bach und andere sie vertont haben, missverständlich oder zweideutig sind, liegt in der Natur der Sache, dieser Geschichte, die so oft erzählt und häufig verdreht und missbraucht wurde.
Spätestens seit die aufgeklärte jüdische Berliner Familie Levy-Mendelssohn die sakrale Musik des Thomaskantors Johann Sebastian Bach für die Nachwelt gerettet und aufbereitet hat, kann insbesondere die Matthäuspassion (die weniger ideologisch und römerfreundlich ist als die Johannespassion) als ein Kunstwerk gelten, das losgelöst von religiöser Rechthaberei und Suche nach Schuldigen am Tod des Heilands alle Ausführenden und Zuhörenden gleichermaßen ergreifen und letztlich beglücken kann. Bach geht es "um meine Schuld" am Leiden Jesu, also um das allgemein menschliche Versagen, wenn Unschuldige erniedrigt, geschlagen und getötet werden.
Wohin passt das große Kunstwerk Bachs besser als in diese Stadt Jerusalem? Nicht so sehr wegen der authentischen Nähe zum alten Geschehen, sondern wegen der Aktualität der vom Komponisten kongenial behandelten Fragen: Die hier auf Deutsch gesungen werden in der Jerusalemer Henry-Crown-Hall von israelischen (jüdischen) und estnischen (protestantischen) Künstlerinnen und Künstlern: Wie heißt es dort mit den Worten Paul Gerhardts? "Du bist ja nicht ein Sünder wie wir und unsre Kinder, von Missetaten weißt du nicht." Wir alle verschließen die Augen vor Hass, Gewalt, Unterdrückung und Krieg. Der Nahe Osten hat sich nicht geändert in den letzten zweitausend Jahren, und die Menschheit insgesamt wohl auch nicht, seit Bach seine Noten aufgeschrieben hat...
Henry-Crown-Saal, Jerusalem
Aufzeichnung vom 25. Februar 2015
Johann Sebastian Bach
Matthäuspassion BWV 244
Hila Baggio, Sopran
Na'ama Goldman, Mezzosopran
Anto Õnnis, Tenor (Evangelist)
Oded Reich, Bariton
Pavlo Palakin, Bass
Ivo Sillamaa, Orgel
Nationaler Estnischer Männerchor
Ellerhein Mädchenchor Estland
Jerusalem Symphonie-Orchester
Leitung: Andres Mustonen