"Match Box" im Rhein-Neckar-Raum

Die S-Bahn erzählt Anekdoten

Lautsprecherdurchsagen der anderen Art: "Matchbox" heißt das wandernde Kunst- und Kulturprojekt in der Region Rhein-Neckar.
Lautsprecherdurchsagen der anderen Art: "Matchbox" heißt das wandernde Kunst- und Kulturprojekt in der Region Rhein-Neckar. © Uschi Goetz
Von Uschi Goetz · 08.10.2016
Freizeittipps, unentdeckte Orte, Porträts - die Lautsprecheransagen in den S-Bahnen im Rhein-Neckar-Raum werden derzeit gekapert. Mit dem "Match Box"-Projekt sollen Künstler, Kommunen und ihre Einwohner näher zusammenrücken - kleine Ausflüge inklusive.
Die S-Bahn füllt sich, eine Frau, um die 20 Jahre alt, kurze, schwarze Haare, nimmt ihre Tasche auf den Schoß, um den Platz neben sich zu räumen. Ein beleibter Mann, Mitte 50, setzt sich neben sie.
Die junge Frau schließt ihre Augen, drückt die Kopfhörer fester in die Ohren. Der Mann schläft. Draußen fliegen Wiesen und Felder vorbei, mittendurch fließt der Neckar. Alltag in der S-Bahn. Dann hört man eine Stimme.
"Ich bin ein hoffnungsloses Landei, ich musste mich immer rechtfertigen, überall und immer wieder. Ich war die einzige, die gesagt hat, ich lebe gerne auf dem Land. Für mich ist Einsamkeit fast eine Idylle."
Die junge Frau mit den Stöpseln im Ohr hört nicht, was da eben über Lautsprecher gesagt wird, auch ihr Sitznachbar verschläft die kurze Einblendung.
Dann steht sie auf und wartet, bis die Tür aufgeht. Wieder eine Stimme:
"Ein Ort, ohne Zeitrasen, also die Zeit irgendwie langsamer geht. Manchmal habe ich sie sogar schon vergessen, dann drehst Du dich schon einmal um und zehn Jahre sind vorbei."

Begegnungen und akustische Irriationen schaffen

Wer spricht da? Die junge Frau ist irritiert. Blickt etwas verlegen in Richtung Lautsprecher. Dann steigt sie aus. Schade. Sie hat was verpasst.
Die Stimmen, die in diesen Tagen aus den Lautsprechern der S-Bahn rund um Heidelberg klingen, gehören den Bewohnern der Region. Die Mannheimer Regisseurin Lea Aderjan, 29 Jahre alt, lässt sich im Rahmen ihres "Match Box"-Projekts Anekdoten und regionale Geschichten erzählen. Mit den Aufnahmen will sie Begegnung schaffen und akustische Irritationen auslösen, und immerhin – die Sache mit den Irritationen ist bei der Frau mit den Ohrstöpseln gelungen.
Aber für Lea Aderjan geht es um mehr. Die Fahrgäste können Geschichten weiterverfolgen und die Stimmen hinter manchen Geschichten sogar leibhaftig treffen.
In Mosbach steigt die Regisseurin zu, eine große, zierliche junge Frau mit langen blonden Haaren. Sie beobachtet, wie die Menschen in der S-Bahn auf ihre akustischen Begegnungen reagieren.
"Das ist doch nicht der richtige Ort, aber auch einfach allgemeines Interesse, also dass die Leute sich gewundert haben: was ist das, warum kommt da gerade was?"
"Psst" ruft Lea Aderjan plötzlich und im Abteil verstummen alle Gespräche.
"Erstmal schaue ich mir den Bullen von oben an, streichle ihn, so dass er weiß, ok, jetzt geht es gleich los. Setze ich mich auf den Bullen, fängt es schon an, dann sehe ich nur noch sein Fell, seine Muskelspannung, spüre seine Wärme, das ist wie ein Tunnelblick, der Bulle geht raus und jetzt beginnen die acht Sekunden. Follow the line!"
Etwa ein Dutzend Reisende sind gezielt unterwegs und nicht irritiert. Sie interessieren sich für das Projekt und für die Geschichte mit dem Bullen. Sie folgen der Aufforderung "Follow the Line" und gehen entlang einer Spur, die sie zu roten Bussen führt. Sie steigen ein.
Mitglieder der Deutschen Rodeo Cowboy Association empfangen die Gäste aus der S-Bahn.
Mitglieder der Deutschen Rodeo Cowboy Association empfangen die Gäste aus der S-Bahn.© Uschi Goetz
Kurz darauf begrüßen zehn Frauen und Männer in karierten Hemden und Cowboyhüten die Runde.
"Ich möchte Sie ganz herzlich begrüßen, bei der DRCA, der Deutschen Rodeo Cowboy Association, hier in Obrigheim. Wir haben uns dem Rodeo-Sport verschrieben, der Rodeo-Sport teil sich in zwei Teile."
In den nächsten 30 Minuten erfahren die Reisenden alles über die Tradition des Bullenreitens. Keiner hat sich jemals mit dem Thema beschäftigt. Dann beginnt der praktische Teil.
"Ihr könnt pfeifen, ihr könnt rufen, das ist alles ganz egal. Wir probieren das einfach einmal! Einmal alle klatschen!" (alle klatschen)
Statt einem Bullen wird ein Pferd samt Reiterin in die Arena geschickt, nach acht Sekunden wirft der Gaul das Mädchen ab. Die Gäste klatschen und lachen…
"Ziemlich eindrücklich!"
Dann geht es weiter in der S-Bahn.
An Bahnhof Eberbach liest eine Frau mit einem roten Mantel aus einem Buch.
An Bahnhof Eberbach liest eine Frau mit einem roten Mantel aus einem Buch.© Uschi Goetz
Nächste Etappe ist Eberbach, etwa 30 Kilometer östlich von Heidelberg. Unterwegs erfährt die Gruppe, dass sie am Bahnhof auf eine Frau mit einem roten Mantel achten soll.
Mittlerweile ist es dunkel geworden. Unter einer Lampe am Bahnhof Eberbach steht tatsächlich eine Frau in einem knallroten Mantel, die Gruppe geht auf sie zu.
"Mein Name ist Lucia…"
Schweigend hören die Teilnehmer zu, keiner traut sich etwas zu fragen. Ihr Akzent verrät, sie ist wohl nicht in Deutschland geboren. Alle folgen wortlos Lucia. Die öffnet die Tür zu einer Tiefgarage irgendwo im Ort. Gruselig ist es hier, kein Auto weit und breit, die Beleuchtung ist spärlich, irgendwo knackt es. Lucia holt ein Buch aus der Tasche und liest. Alle hören andächtig zu.
Wieder in der S-Bahn stellt sich die Frage, aus welchem Buch Lucia wohl gelesen hat? Dann gehen wieder die Lautsprecher an – zwei Rapper aus Heidelberg sind zu hören fast zum Abschluss der Fahrt mit einen Lobgesang auf die S-Bahn.
"Von Heidelberg nach Mosbach, von Mosbach nach Heidelberg ist doch voll egal. Die Aussicht ist die Reise wert… Die S-Bahn bringt dich von A nach B, dich von A nach B, von A nach B, von A nach B. …"
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