Massenmorde und ihre Gründe

20.07.2011
Der Historiker Christian Gerlach weckt mit seinem Werk über die Ursachen des Völkermords große Erwartungen. Er kann sie aber nicht erfüllen, jedenfalls nicht einem großen Lesepublikum gegenüber.
Im Jahr 2010 hat der amerikanische Historiker Norman Naimark viel Akribie darauf verwandt, Stalins Morde als Genozide zu klassifizieren (Stalin und der Genozid). Daniel Goldhagen wurde berühmt, weil er den Deutschen "eliminatorischen Antisemitismus" unterstellte, der gewissermaßen unausweichlich nach Auschwitz geführt haben soll.

Christian Gerlach lehnt solche begriffspolitischen Operationen strikt ab. In Extrem gewalttätige Gesellschaften bezichtigt er die Genozidforschung unstatthafter Simplifizierungen, empirischen Desinteresses und der Tendenz zu zirkulär-monokausalen Erklärungen. "Wenn ‚Genozid’ aus ethnischen Gründen begangen wird, dann wird ‚Genozid’ aus ethnischen Gründen begangen. Was aber wollen wir mit einer solchen ‚Erklärung’ herausfinden?" höhnt der Historiker. Er will das "’Mein-Genozid-ist-größer-als-Deiner’-Spiel" überwinden und eine "neue Denkweise über Massengewalt" etablieren. "Jeder Massenmord ist multikausal", lautet sein Credo.

Wer ein dickes Buch mit der lauten Ankündigung beginnt, es besser zu machen als Heerscharen von Fachkollegen, und 150 Seiten (!) Anmerkungsapparat mobilisiert, erweckt große Erwartungen. Gerlach enttäuscht sie – aber nicht etwa aus Mangel an Kenntnissen, eher im Gegenteil. Seine extrem datenreiche Untersuchung der Massenmorde in Indonesien 1965/66, zu denen es im Rahmen des Militärputschs unter General Suharto und der antikommunistischen Säuberungen kam – Gerlach spricht von "partizipatorischer Gewalt" –, leidet an Undurchsichtigkeit.

Oft weiß man nicht, für welche These Gerlach das Material gerade in Anspruch nimmt. Und am Ende präsentiert er als Quintessenz diesen Allgemeinplatz: "Weder staatliche, vom Militär kontrollierte und manipulierte Gewalt, noch der Volkszorn oder die Organisation durch politische Parteiapparate und religiöse Gruppen allein können die Gewalt des Mordens von 1965/66 erklären; entscheidend war die Kombination all dieser Faktoren."

Die Untersuchung der Vernichtung der Armenier 1915-1923 im Osmanischen Reich unter ökonomischen Gesichtspunkten (Türken aller Bevölkerungsschichten haben sich massiv bereichert) gelingt besser, nicht zuletzt, weil Gerlach bisweilen packende Passagen aus den Quellen zitiert und sich weniger auf Fußnotenscharmützel mit Forschungskollegen konzentriert.

Im zweiten Teil wird, schwammig genug, "Die Krise der Gesellschaft" als maßgeblicher Faktor völkermörderischer Gewalt untersucht. Gerlach befasst sich mit Massenmord und Hungersnöten in Bangladesch (Ostpakistan) zwischen 1971 und 1977. Er beleuchtet das Phänomen "nachhaltige Gewalt" am Beispiel der Guerrillabekämpfung rund um den Erdball nach 1945 und untersucht die deutsche Besatzung in Griechenland im Zweiten Weltkrieg. Im dritten Teil, der bezeichnenderweise "Allgemeine Bemerkungen" heißt, ficht Gerlach den Hauptkampf mit der Forschung aus und endet mit 30 Seiten "Schlussfolgerungen".

Gerlachs zentrale Forderung, den "Prozesscharakter" von Massengewalt zu berücksichtigen, anstatt einfache Kausalzusammenhängen zu suchen, ist allemal diskussionswürdig. Stark verbesserungswürdig bleibt indessen sein eigener Begriffsapparat. Der Forschung mag Gerlach immerhin einiges zu geben haben – das große Publikum verlangt sicher nach einer besser lesbaren Darstellung.

Besprochen von Arno Orzessek

Christian Gerlach: Extrem gewalttätige Gesellschaften - Massengewalt im 20. Jahrhundert
Aus dem Amerikanischen von Kurt Baudisch
Deutsche Verlagsanstalt, München 2011
575 Seiten, 39,99 Euro