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Digitalis

Der Wirkstoff namens Digitalis findet sich hauptsächlich im Fingerhut. Bekanntlich ist diese Pflanze bereits in vergleichsweise geringen Mengen giftig. Andererseits kann die Substanz Digitalis auch Herzkranken helfen - ein wahrhaft schmaler Grat also.

Von Justin Westhoff | 08.03.2016
    Agatha Christie ließ ihre Miss Marple besonders gerne Giftmorde aufklären. Sie kannte sich aus: Die Krimiautorin hatte sechs Jahre lang in einer Apotheke gearbeitet. Fachleute bescheinigen Agatha Christies Giftgeschichten fast Lehrbuchcharakter. Mitunter wurde in den Büchern der Engländerin Digitalis zur Mordwaffe.
    Der Name Digitalis von lateinisch "digitus" entstand in Anlehnung an den Fingerhut, wo Digitalis hauptsächlich vorkommt; der Stoff findet sich aber auch in anderen Pflanzen wie Maiglöckchen und sogar bei manchen Wirbeltieren. Bekanntlich ist Fingerhut bereits in vergleichsweise geringen Mengen giftig. Anderseits kann die Pflanze auch heilende Wirkung haben – in der Volksmedizin spielte Fingerhut seit Jahrhunderten eine Rolle. Professor Matthias Melzig, pharmazeutischer Biologe von der Freien Universität Berlin
    "Unsere Altvorderen waren sehr gute Beobachter und konnten natürlich sehen, was wirkt sehr stark, was ist giftig, und jede pharmakologisch sehr stark wirkende Pflanze hat natürlich ein Potenzial als Giftpflanze, und das wusste man schon sehr zeitig."
    Um 1775 entdeckte dann der englische Arzt William Withering die günstige Wirkung der Glykoside, der entscheidenden Extrakte aus bestimmten Fingerhutarten, auf Herzmuskelschwäche.
    "Die ersten Nachweise kommen aus dem 6. bis 12. Jahrhundert, und eher aus dem nordischen Gebiet, aus Irland, aber erst Withering hat es nach den heutigen Kriterien wissenschaftlich untersucht, und mit ihm hat der Einsatz bei Herzinsuffizienz, also bei schwachem Herzen, eigentlich erst begonnen."
    In den 1930er-Jahren wurde die chemische Struktur der Fingerhut-Inhaltsstoffe weitgehend aufgeklärt. Medizinische wirksam sind davon Digoxin und Digitoxin.
    "Das sind Substanzen, die am Herzen verschiedenste Einflüsse haben", sagt Professor Dietrich Andresen, Kardiologe an der Berliner Hubertus-Klinik. Vor allem haben sie Einfluss auf die für's Herz wichtigen Substanzen Kalzium und Natrium.
    "Das eine ist: Sie machen das Herz langsamer, darüber hinaus ist es auch bei dem Digitalis so, dass es die Herzkraft verbessert, also die Kraft, wie das Herz pumpt. Das ist eines der wenigen Medikamente, die nachweislich gut auf die Herzkraft Einfluss haben, also bei Patienten mit einer Herzschwäche, und dann gibt es noch eine Funktion, die gar nicht so gut ist, nämlich Digitalis erzeugt eine gewisse Empfindlichkeit für Rhythmusstörungen."
    Das Hauptproblem von Digitalis: die geringe "therapeutische Breite"
    Dennoch war Digitalis lange Zeit ein unentbehrliches Standardmedikament. In den 1980er-Jahren aber kam der Verdacht auf, dass es – vor allem in Deutschland – zu häufig eingesetzt wurde. Studien zeigten, dass diese Glykoside zwar Beschwerden lindern und Krankenhauseinweisungen verringern, doch die Gesamtsterblichkeit sank dadurch nicht. Warum, ist bis heute nicht vollkommen klar. Das Hauptproblem von Digitalis war und ist jedoch die geringe "therapeutische Breite": Nur etwas zu wenig Wirkstoff hilft nicht, und nur etwas zu viel davon ist schon giftig. Professor Melzig:
    "Das ist beim Fingerhut relativ eng, diese therapeutische Breite. Und deswegen hat man natürlich schon lange versucht, möglichst Alternativen zu finden, die es heute auch bei der Behandlung der Herzinsuffizienz gibt; auch wenn die Bedeutung abnehmend ist, so sind sie doch in allen großen Arzneibüchern international immer noch als unverzichtbar angesehen."
    Tatsächlich gibt es heute eine Reihe modernerer Medikamente gegen die verschiedenen Herzkrankheiten, wie Betablocker, Diuretika oder Kalzium-Antagonisten. Professor Andresen sagt:
    "Digitalis würde heute nie wieder zugelassen werden. Was aber nicht heißt, dass es kein gutes Medikament ist, es ist halt nur schlecht zu steuern, und das macht Digitalis nur eingeschränkt bedeutsam; eigentlich toll, aber uneigentlich dann doch auch nicht toll, weil es eben diese enge Breite hat, und die meisten Patienten lassen sich ja nicht so gut kontrollieren, also von daher ist Digitalis so ein bisschen in Verruf geraten."
    Im Internet finden sich – wie immer bei medizinischen Themen – neben guter Aufklärung auch zu Digitalis unbewiesene Behauptungen. So etwa, Digitalis werde selbst da, wo es hilfreich ist, nicht eingesetzt, weil die Pharmaindustrie nichts daran verdiene.
    "Na gut, solche Verschwörungstheorien, die gibt es immer wieder, allerdings hier steht wirklich das Wohl des Patienten, der Patientin im Vordergrund, gerade Herzinsuffizienz, daran leiden vor allem ältere Personen, und mit zunehmendem Alter und auch dem Auftreten von Demenz kommt es eben häufig dazu, dass die Patienten nicht nur eine Dosis pro Tag – wie gewünscht – einnehmen, sondern vielleicht zwei oder drei, und dann kommt man leicht in toxische Bereiche, so dass dann irgendwann, wenn das häufiger passiert, giftige Blutspiegel erreicht werden, die dann auch zum Tod der entsprechenden Patientin, des Patienten führen können",
    sagt Professor Matthias Melzig, ein Fachmann, der durchaus wohlwollend Arzneien aus Naturstoffen untersucht. Es kommt also entscheidend darauf an, wie und in welchen Fällen Digitalispräparate eingesetzt werden – eben auf die ärztliche Sorgfalt, betont der Kardiologe Professor Dietrich Andresen.
    "Aufgrund der Unsicherheit, ob Digitalis mehr schadet als hilft, ist man sehr zurückhaltend geworden. Und nun kann man sich natürlich fragen, wie ist es bei der Herzschwäche, das drängt sich doch auf, so ein gutes Medikament, das die Herzkraft erhöht, auch einzusetzen. Das tun wir nur dann, wenn wir mit anderen Medikamenten nicht weiter kommen. Auf jeden Fall haben wir heute bei Digitalis die Möglichkeit, Spiegelbestimmungen zu machen, das sollte man auch machen, auf Nebenwirkungen achten. Also, ein Patient, der eine Herzschwäche hat und darüber hinaus älter ist, bei diesen Patienten muss man sich schlichtweg kümmern. Und wenn man das tut, kann man mit Digitalis auch viel Gutes tun."
    Wenn es trotz aller Vorsicht zu einer Überdosierung, sprich Vergiftung kommt, gibt es Gegenmittel.
    "Es gibt heute Antidots, wir wissen, dass das Digoxin eine Halbwertzeit hat von eineinhalb Tagen, also das geht relativ schnell, das ist bei Digitoxin ein bisschen anders, da braucht es etwa sieben Tage, also es gibt ein Gegenmittel, es gibt die Möglichkeit des Absetzens, des Beobachtens, und ich glaube, das beste, was man tun kann, ist, zu verhindern, dass es dazu kommt."
    Und womöglich kommen die Fingerhut-Extrakte ja zu neuen Ehren: Es wird derzeit zumindest untersucht, ob Digitalis gegen bestimmte Krebsarten unterstützend wirkt. Der Professor für pharmazeutische Biologie, Matthias Melzig, dazu:
    "Es gibt wohl Hinweise, dass solche digitalisierten Patientinnen und Patienten weniger an Tumoren erkranken als solche, die mit anderen herzwirksamen Arzneimitteln behandelt wurden. Und man kann sagen, dass in entsprechenden Konzentrationen eine antitumorale Wirkung einzelner dieser herzwirksamen Steroid-Glykoside nachweisbar ist, nicht unbedingt nur aus dem Fingerhut, aber es gibt auch andere aus anderen Pflanzen, die ähnlich gebaut sind, die aber als Begleitwirkung noch eine stärkere Hemmung der Tumorproliferation zum Ergebnis haben."
    "Das heißt: des Krebswachstums. Doch wie gesagt: Dies sind nur erste Hinweise aus wissenschaftlichen Studien. Sicher ist nur, dass der Einsatz von sehr alten Medikamenten aus der Pflanze Fingerhut auch in der Herzmedizin immer noch gerechtfertigt ist – allerdings nur in ganz bestimmten Fällen und unter guter ärztlicher Kontrolle."
    Giftmorde mit Digitalis à la Agatha Christie allerdings dürften heutzutage angesichts der modernen kriminalistischen Möglichkeiten ohnehin passé sein.