Massaker von Babi Jar

Der Massenmord begann nicht erst in Auschwitz

Blumen liegen auf Grabsteinen an der Gedenkstätte von Babi Jar, in der Nähe von Kiew
Grabsteine an der Gedenkstätte von Babi Jar, in der Nähe von Kiew © picture alliance / dpa / Andreas Stein
Von Otto Langels · 29.09.2016
In der Schlucht von Babi Jar in der Nähe von Kiew begann am 29. September 1941 eine der größten Massenexekutionen des Zweiten Weltkriegs. Einsatzgruppen der SS trieben die jüdischen Einwohner aus der Stadt und erschossen mehr als 30.000 Menschen.
Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 besetzte die Wehrmacht im Laufe der folgenden Monate fast die gesamte Ukraine, darunter auch die Hauptstadt Kiew. Rund 50.000 Juden lebten noch in der Stadt, viele waren vorher Richtung Osten geflohen oder zur Roten Armee einberufen worden.
"Vier, fünf Tage nach dem Einmarsch begannen die Deutschen in Kiew eine Treibjagd auf jüdische Männer. Sie wurden aus den Häusern herausgeschleppt, auf die Knie gezwungen, und die Deutschen schlugen mit Kolben auf ihre Rücken", erinnert sich Victoria Iwanowa an das Vorgehen der Besatzer. Was das damals neunjährige Mädchen beobachtete, war der Auftakt zu einer der größten Vernichtungsaktionen des Zweiten Weltkriegs.
Am 28. September tauchten überall in der Stadt Plakate in russischer, ukrainischer und deutscher Sprache auf, wonach sich die jüdische Bevölkerung am nächsten Morgen an einem bestimmten Platz einfinden sollte, um – so die vorgebliche Begründung – evakuiert zu werden. Wer der Aufforderung nicht Folge leiste, werde erschossen.
Juden wurden zur Schlucht außerhalb der Stadt getrieben
"Am nächsten Morgen wogte ein Menschenmeer durch die Kiewer Straßen. Aus jedem Haus kamen Juden mit ihren Habseligkeiten und reihten sich ein", erzählt Iwanowa. Dem Befehl folgten über 30.000 Juden, darunter auch sie und ihre Mutter.
"Wir gingen auf der anderen Straßenseite mit den Menschen durch das Zentrum von Kiew, und als wir schon fast oben beim Babi Jar angelangt waren, hörten wir plötzlich Schüsse."
Den beiden gelang es, sich unauffällig aus der Menschenmenge zu entfernen und sich zu verstecken. Währenddessen trieben SS-Männer die Juden, vorwiegend Alte, Frauen und Kinder, zur Schlucht Babi Jar außerhalb der Stadt. Dort mussten sie sich nackt ausziehen und in Zehnergruppen an den Rand der Schlucht stellen.
Minutiös geplanter Massenmord
Was sich dann abspielte, berichtete Kurt Werner, Mitglied des Sonderkommandos 4a, 1947 vor dem Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal.
"Die Schützen standen jeweils hinter den Juden und haben diese mit Genickschüssen getötet. Mir ist heute noch in Erinnerung, in welches Entsetzen die Juden kamen, die oben am Grubenrand zum ersten Mal auf die Leichen in der Grube hinuntersehen konnten."
Das Sonderkommando 4a, das die "Drecksarbeit verrichten musste", wie sich später einer der beteiligten Schützen beklagte, gehörte zur Einsatzgruppe C, einer SS-Einheit, die bereits in den Monaten zuvor eine Vielzahl von Massenerschießungen durchgeführt hatte.
Wolfgang Benz: "Die Einsatzgruppe war ja als Mordunternehmen in Marsch gesetzt, um hinter der Front sozusagen neben der kämpfenden Wehrmacht die 'unerwünschten Elemente', sowjetische Kommissare und die Juden, zu liquidieren. Das war schon Tatbestandteil der Planung des Krieges gegen die Sowjetunion."
Zwei Tage dauerte das Morden
Zwei Tage lang, am 29. und 30. September, mordete das Sonderkommando vom Morgen bis zum Einbruch der Dunkelheit und führte dabei genau Buch. Am Ende hatte die Einsatzgruppe 33.771 Menschen umgebracht.
"Man kann sich gar nicht vorstellen, welche Nervenkraft es kostete, da unten diese schmutzige Tätigkeit auszuführen. Es war grauenhaft", erklärte Kurt Werner voller Selbstmitleid vor dem Nürnberger Tribunal.
"Man hat ja auch, um die Nerven der Mörder zu schonen, nach einfacheren und effektiveren Methoden des Massenmords gesucht und deshalb in Auschwitz mit Giftgas experimentiert", erklärt Historiker Benz.
Babi Jar erstes von vielen Massakern
Dem Massaker von Babi Jar folgten weitere Exekutionen, unter anderem in Riga und Odessa, denen Hunderttausende von Juden zum Opfer fielen. Doch angesichts des fabrikmäßigen Tötens in Auschwitz verblasste die Erinnerung an die Massenerschießungen der Einsatzgruppen.
Benz: "Vor allem gerät in Vergessenheit, dass der Massenmord nicht mit Auschwitz in der Gaskammer beginnt, sondern zur Zeit der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 haben die Einsatzgruppen schon mindestens eine halbe Million Juden ermordet."
Während des Rückzugs der Wehrmacht versuchte ein SS-Sonderkommando im Sommer 1943 die Spuren des Massenmords von Babi Jar zu verwischen. Zwangsarbeiter eines nahe gelegenen Konzentrationslagers mussten die Leichen ausgraben und verbrennen. Die Häftlinge wurden anschließend als Mitwisser erschossen.
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