Maryna Rakhlei: "Ein Treppenhaus in Minsk"

Die eigenen Wurzeln im Privaten finden

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Buchcover zu Maryna Rakhleis "Ein Treppenhaus in Minsk"
Buchcover zu Maryna Rakhleis "Ein Treppenhaus in Minsk" © edition.fotoTAPETA / Deutschlandradio
Von Carsten Hueck · 30.04.2020
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Belarus ist noch immer ein blinder Fleck im europäischen Bewusstsein. In ihrem Essay "Ein Treppenhaus in Minsk" zeichnet Maryna Rakhlei Skizzen eines widersprüchlichen Landes, ebenso persönlich wie vielfarbig.
Belarus ist ein altes Land und ein junger Staat. Eigentlich ein blinder Fleck im europäischen Bewusstsein, selbst die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch wird häufig für eine russische Autorin gehalten. Das mag daran liegen, dass in Belarus niemand, anders als in der benachbarten Ukraine, einen spektakulären Aufstand angezettelt und einen Oligarchen vertrieben hat. Belarus wird seit 1994 von ein und demselben autoritären Herrscher regiert.
Maryna Rakhlei ist 1980 geboren und aufgewachsen in Minsk, der Hauptstadt von Belarus. Als Journalistin hat sie in den vergangenen Jahren viel über ihre Heimat geschrieben, hat einen Reiseführer herausgebracht und nun einen Essay, in dem sie ihre persönliche Geschichte nachzeichnet und ins Verhältnis zu Belarus setzt. "Ein Treppenhaus in Minsk" heißt er und das Treppenhaus steht bei Rakhlei für die ganze Gesellschaft.

Alkoholismus und Wärme

Ein "simples vierstöckiges Haus" in der Nähe eines Armbanduhrenwerks: Hier lebte die Autorin mit ihren Großeltern zu sowjetischen Zeiten. 1991 mit der Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepublik endeten sie.
Die Autorin gehört einer Generation an, die noch sowjetisch sozialisiert wurde, dann aber die Möglichkeit hatte, ein neues Nationalitätsgefühl zu entwickeln. Was ist ein Belarusse? Das jenseits von Stereotypen zu beschreiben, findet Rakhlei schwierig. Eine Wurzel hierzu aber findet sie im Privaten. In den Geschichten der einzelnen Familienmitglieder, in den Küchen, in den Gemeinschaftswohnungen. Dort gab es Spielraum. Widersprüche, Freiheit, Alkoholismus und Wärme. Krüppel, Totschlag, Triebtäter – all das, was in der sowjetischen Propaganda nicht vorkam.
Die Unabhängigkeit nach 1991 war für viele, die Rakhlei beschreibt, eine Überforderung, Freiheit ein Wort, doch kein verinnerlichter Wert. Chaos entstand. Rakhleis Eltern erhielten ihr Gehalt in Bügeleisen oder Lampen ausgezahlt, die sich zuhause stapelten. "Man hatte die Freiheit, ekelte sich vor der Armut und Hoffnungslosigkeit, hatte das Land aber auch lieb."

Als Kind auf eine Mine getreten

Diese Liebe zur Heimat proklamiert Maryna Rakhlei als Sprungbrett zu nationaler Identität. Die auszubauen, so ihr Fazit, sei schwer gewesen, da in Belarus die politischen Eliten kein Interesse daran zeigten. Bis zur Annexion der Krim: Das Interesse an lokaler Kultur und Geschichte sei danach stark gewachsen, jüdische und tartarische Spuren wurden neu entdeckt, die kulturelle Vielfalt, das historische Auf und Ab - wie in einem Treppenhaus.
Das schmale Bändchen gibt eine sehr persönliche, vielfarbige Einführung in Geschichte und Gegenwart von Belarus. Die Autorin berichtet von Freundschaften ihrer Kindheit, die bis heute halten. Von einem erfolgreichen Journalisten, der als Kind beim Spielen auf eine alte Mine gestoßen war und mit seinen Armstümpfen auf der Schreibmaschine tippte. Von seiner Tochter, die auch Journalistin wurde – eine oppositionelle – und 2004 durch zwanzig Messerstiche ums Leben kam. In kleinen Skizzen beschreibt die Autorin die verschiedensten Typen. Jede Miniatur der Nukleus für einen ganzen Roman.

Maryna Rakhlei: "Ein Treppenhaus in Minsk"
Eine belarussische Geschichte.
Berlin, edition.fotoTAPETA, 2020
70 Seiten, 7,50 Euro

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