Martin Walser: "Mädchenleben oder Die Heiligsprechung"

Verführerin mit Heiligenschein

05:59 Minuten
Das Bild zeigt das Cover des Buches sowie einen aquarellierten Hintergrund.
Heiligsprechung durch Bekehrung von Alkohol und Gewalt gegen Frauen, welch ein Einfall, urteilt unser Kritiker. © Rowohlt / Deutschlandradio
Von Gerrit Bartels · 18.11.2019
Audio herunterladen
Wie schon häufiger in der jüngeren Zeit bei Martin Walser geht es in dem schmalen Band "Mädchenleben" um das Erleben des Religiösen: Eine eigenwillige, umschwärmte, aber bodenständige junge Frau vollbringt Wunder, wird Märtyrerin und dann zur Heiligen.
Es ist gut möglich, dass selbst der eingefleischteste Martin-Walser-Fan inzwischen nicht mehr nachkommt mit dem Output des inzwischen 92 Jahre alten Schriftstellers. Gab es dieses Jahr nicht schon ein Walser-Buch? "Spätdienst"? Oder war das vergangenes Jahr, als gleich zwei Bücher von Walser erschienen? (Genau, 2018 kam "Spätdienst" heraus und ein Buch mit dem Titel "Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte".)

Was einigermaßen fertig ist, kommt auf den Markt

Walser selbst und genau so sein Verlag kümmern solche Fragen nicht mehr - und damit keine ökonomischen Gesetzmäßigkeiten: Wenn er was geschrieben hat, wenn etwas zumindest einigermaßen fertig erscheint, muss es auf den Markt, komme was wolle, immer unter der Betreffzeile: "noch nicht angekündigt".
In diesem Fall ist es das Buch "Mädchenleben oder Die Heiligsprechung", das die Gattungsbezeichnung "Legende" trägt. Diese trifft es dieses Mal im engeren Sinn sogar - anders als die vielen "Romane" Walsers der vergangenen Jahre, die keine solchen mehr waren. Es geht um ein junges Mädchen namens Sirte, das prädestiniert dazu ist, eine Heilige zu werden, und um ein Wunder, das aus ihr endgültig eine Heilige macht.

Ein Rabe lernt das Singen

Nun ist diese Sirte ganz im Hier und Jetzt beheimatet, in Meersburg am Bodensee, als Tochter des Ehepaars Zürn. Sie liest Dostojewski, ist begeistert von Büchners "Woyzeck", macht Abitur, will aber nicht studieren, sondern was Einfaches machen.
Walser steht im Grünen und blickt in die Kamera. Sein schwarzer Hut ist tief in die Stirn gezogen.
Der Schriftsteller Martin Walser im Dezember 2016© dpa/Felix Kästle
Walser bemüht sich, oder besser: sein Erzähler, der Lehrer Anton Schweiger, der bei den Zürns zur Untermiete wohnt, Sirte schon auch als anders und seltsam zu charakterisieren: Sie verschwindet manchmal spurlos, sie wird von einem Dackel gebissen, der womöglich die Tollwut hat, sie schaukelt ganz eigenartig, und irgendwann bringt sie einem Raben das Singen bei.
Der Vater meint, dass sie heilig gesprochen werden müsse, was Schweiger sofort aufgreift, billigt und seine Sirte-Bewunderung, und -Liebe ins Grenzenlose steigen lässt: "Zu gestehen habe ich, dass ich nach diesem Mädchen eine Sehnsucht habe, wie nach nichts sonst."

Walser treibt die Abwesenheit Gottes um

Man kennt diese schwärmerischen Sätze aus vielen anderen Walser-Büchern, seinen Liebesromanen. Dass diese hier aus dem Mund des erwachsenen Lehrers nicht schief und unlauter herüberkommen, davor schützt Walser die Figur seiner späteren Heiligen.
Nur: Warum erzählt er diese Geschichte, die ihren Ursprung hat in Notaten aus dem Jahr 1961, nachzulesen in dem Walser-Tagebuchband 1951-1962?
In den vergangenen Jahren hat Walser, womöglich mit dem Alter zusammenhängend, sich mehr und mehr dem Religiös-Theologischen zugewandt, von "Muttersohn" über "Über Rechtfertigung" bis zu "Das 13. Kapitel", und mit Gott auseinandergesetzt. An den glaubt er nicht, dessen Abwesenheit umtreibt ihn aber.

Ökonomische Irrlichtereien

Walser geht es um die Erlebbarkeit des Religiösen, auch hier wieder. Dafür gibt er sich, der nun doch nachlassenden Schaffenskraft geschuldet, auf diesen wenigen 90 Seiten geradezu ökonomisch.
Dazu gehören natürlich auch Irrlichtereien wie der, dass "Herr Zürn desöfteren seine Frau am Vormittag vergewaltigt" oder der Anwalt von Schweiger, weil dieser kurzzeitig im Gefängnis sitzt, diesem Schokolade mitbringt, "und aß sie dann selber auf".
Vor allem gehören zu dieser literarischen Manifestation des Religiösen die ebenfalls sattsam bekannten Walser-Sätze wie "Kunst ist dazu da, alles schöner zu machen, als es ist" oder "Weil es sinnlos ist, darf es sein".

Einzelne Sätze, Notate, Sinnsprüche, Aphorismen

Und das Ganze mündet schließlich wieder in einen mittlerweile Walser-typischen Buchzerfall. Denn wie in vielen der vergangenen Veröffentlichungen beschränkt sich nach der Hälfte auch hier das Erzählen auf einzelne Sätze, Notate, Sinnsprüche, Aphorismen, Dialektik-Übungen.
Schweiger nimmt Briefe, Blätter und Tagebuchaufzeichnungen von Sirte entgegen und gibt sie dann wieder, Gelungenes neben weniger Gelungenem, Sinnfälliges neben Unsinn. Das könnte alles genau so gut beispielsweise in Walsers "Meßmer"-Büchern stehen.

Ein kleines, Walser-verqueres Wunder

Ach, und das Wunder? Außer Sirte, für den Erzähler? Ja, das ist ein kleines, Walser-verqueres. Sirte schafft es, dass ein Alkoholiker namens Ludwig Proll eines Tages seine Frau nicht mehr schlägt, nachdem Sirte märtyrerhaft als Objekt der Schläge wieder und wieder eingesprungen war.
Oh mein Gott, mag man ausrufen, was für ein Einfall! Noch wundersamer ist jedoch, dass Walser weiter und weiter schreibt und der letzte Satz des Buches "Ich werde gewesen sein" ein zum Glück vorläufiger ist.

Martin Walser: "Mädchenleben oder Die Heiligsprechung"
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019
96 Seiten, 20 Euro

Mehr zum Thema