Martin Delius: Senatskanzlei wusste schon seit 1995 von gestiegenen Flughafenkosten

Martin Delius im Gespräch mit Christian Rabhansl und André Zantow · 15.12.2012
Wie der Ausschuss-Vorsitzende Martin Delius (Piraten) sagte, heißt es schon 1995 "lapidar" in einem Vermerk der Senatskanzlei, dass sich die Baukosten für den Flughafen verdoppeln bis vervierfachen könnten. "Und heutzutage stellen sich führende Politiker und Verantwortungsträger hin und sagen, dass sie völlig überrascht sind von der Kostenexplosion."
Deutschlandradio Kultur: Die Piraten haben sich ein wirtschaftspolitisches Grundsatzprogramm gegeben – erstmals. Sie wollen sich positionieren vor der Bundestagswahl im kommenden Jahr. Aber sind sie nun liberaler als die SPD, sozialer als die FDP? Und wie steht's um das Personal?

Wir begrüßen zur Sendung Martin Delius, bildungspolitischer Sprecher der Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus und Vorsitzender des Untersuchungsausschusses zum Flughafen in Berlin-Brandenburg. Guten Tag.

Martin Delius: Guten Tag.

Deutschlandradio Kultur: Das Internet vergisst nichts. Das haben wir heute mal mit Ihrem Namen ausprobiert. Und wenn man bei Google diesen Namen ins Suchfeld eintippt, "Martin Delius", dann erscheinen Ergänzungsvorschläge. Da steht zum einen "Twitter", da steht "Piratenpartei". Und dann steht da noch ein Wort, das Sie persönlich vermutlich am liebsten schon längst vergessen haben. Es ist nicht "Untersuchungsausschuss". Sie ahnen schon, was es ist?

Martin Delius: "NSDAP".

Deutschlandradio Kultur: Es ist "NSDAP". Sie haben im April 2012 das Wachstum der Piraten mit dem Aufstieg der NSDAP verglichen. Das haben Sie danach schon ziemlich schnell selbst als dämlich bezeichnet, aber auch ein Dreivierteljahr später fragen wir uns noch: Wie kann das einem intelligenten, gebildeten Menschen eigentlich passieren?

Martin Delius: Übermut. Und ein langes Gespräch, in dem man dann mal in einer Stunde ein paar Minuten nicht aufgepasst hat. Und ich habe händeringend nach Beispielen gesucht – da fällt einem natürlich auch so ein Quatsch ein – und nicht damit gerechnet, dass natürlich die flinke Feder der Journalisten mit dabei war. Und natürlich, es war selten dämlich. Das sehe ich auch heute noch so. Und Sie haben völlig recht. Das wird mir wahrscheinlich bis zum Ende meiner Tage noch anhängen, dieser Vergleich.

Deutschlandradio Kultur: Ist das Ihr bisher größter politischer Fehler?

Martin Delius: Es ist zumindest der bekannteste. Ich weiß nicht, ob er die meisten Auswirkungen hat. Es hat mir die Möglichkeit gegeben – und das finde ich dann wieder beeindruckend –, dadurch, dass ich ehrlich war und gesagt habe, das war ein Fehler, es kommt auch sicherlich nicht wieder vor, zu sehen, dass man Politikern auch, wenn sie Fehler eingestehen, vergeben kann und denen eine neue Chance geben kann. Und das fand ich auch sehr bewegend.

Deutschlandradio Kultur: In der Tat werden Sie ja trotz dieses Fehltritts oft ernster genommen als manche Ihrer Parteikollegen. Zum Beispiel Johannes Ponader, der Politische Geschäftsführer der Piraten, der inzwischen von der eigenen Partei ja so eine Art – man könnte fast sagen – Talkshow-Verbot verpasst bekommen hat. Oder Hartmut Semken, der mehrmals durch Vergleiche zwischen der Piratenpartei und der NSDAP aufgefallen ist und der dann auch den Vorsitz der Berliner Piraten abgeben musste. Warum fallen in Ihrer Partei immer wieder solche Sprüche?

Martin Delius: Das ist eine gute Frage. Ich würde es ganz pauschal mit immer noch vorhandener politischer Unerfahrenheit subsumieren. Die Piraten bestehen aus einem Haufen von extrem engagierten politischen Aktivisten, die sich als Partei zusammengefunden haben, um den Marsch durch die Institutionen anzutreten. Und da passieren Fauxpas, da passieren Streitigkeiten. Da tritt auch mal jemand aus oder zurück, weil er einfach überarbeitet ist. Das ist ein Entwicklungsprozess, den die Partei durchmacht. Wichtig ist, dass man ehrlich ist und auch zugibt, wenn man einen Fehler gemacht hat.

Deutschlandradio Kultur: Aber wie gehen Sie damit in der Zukunft um? Sagen Sie, okay, wir müssen uns da jetzt anpassen in diesem politischen Spiel? Oder sagen Sie, na gut, da hat man sich dann eben versprochen und so ist das?

Martin Delius: Es ist ja so, dass – gerade wenn es um solche Versprecher geht oder solche Fehler, wie ich einen in meinem Zitat gemacht habe – man eine große Welle der Entrüstung auslöst, die ja das eigentliche Problem auch für die Partei darstellt. Damit muss man umgehen, damit muss man ehrlich umgehen. In Zukunft denke ich, dass die Piraten da ihren eigenen Weg finden werden, nicht unbedingt so wie andere Politiker, die dann einfach so tun, als hätten sie so was nie gesagt, sondern vielleicht ehrlicher. Und sie werden auch vorsichtiger sein. Denn Erfahrungen sammelt man ja, indem man etwas tut. Und Politik machen die Piraten.

Deutschlandradio Kultur: Brauchen Sie parteiintern vielleicht doch einfach strengere Regeln, um mit – ich sage mal – kruden Mitgliedern umzugehen, um die zu disziplinieren?

Martin Delius: Ja. Gerade, was einzelne Menschen betrifft, die sich jetzt nicht klar darüber sind, welche historische Verantwortung Deutschland zum Beispiel mit den schrecklichen Ereignissen um die Nazidiktatur trägt. Da müssen wir sensibilisieren. Da müssen wir auch stärker eingreifen als Partei mit Ordnungsmaßnahmen, mit Parteiausschlussverfahren. Aber das ist seitdem auch schon passiert. Wir haben seit April eine extreme Entwicklung durchgemacht. In fast jeder Landessatzung stehen inzwischen Unvereinbarkeitserklärungen, die es erlauben, auch kurzfristig und schnell Mitglieder auszuschließen. Und das ist doch eine schöne Entwicklung. Und die Sensibilität ist bei den Piraten da.

Deutschlandradio Kultur: Sie sagten, Sie brauchen noch strengere Regeln. Nennen Sie mal welche. Wie stellen Sie sich die vor?

Martin Delius: Na ja, es geht im Prinzip darum zu begründen, wann man ein Mitglied auch rausschmeißen kann aus der Partei. Und das passiert über die Satzung. Das müssen dann Landesmitgliederversammlungen entscheiden. In Berlin zum Beispiel haben wir, wie gesagt, eine Unvereinbarkeitserklärung mit rassistischem, antisemitischem, in irgendeiner Art und Weise diskriminierendem Gedankengut aufgenommen, was es uns erlaubt, schnell und effizient zu reagieren, wenn das passiert, auch in der Öffentlichkeit passiert. Und das ist einfach das, was man als Partei, als Struktur tun muss.

Deutschlandradio Kultur: Trotz allem sind die Piraten als neue Partei sehr erfolgreich. Sie haben sechs Jahre nach der Gründung schon rund 34.000 Mitglieder, sind damit hinter den Grünen auf Platz 7 in Deutschland. Sie sind in vier Landesparlamente eingezogen. Welchen Anteil hat daran der Bundesvorstand? Da gab's ja viel Unruhe, viele Personalwechsel.

Martin Delius: Ja, welcher Bundesvorstand, ist die Frage. Wir haben ja seit unserer Gründung mehrere durch. Und es ist eine schöne Tradition in der Piratenpartei, dass es so eine Mischung aus Beständigkeit gibt – unser jetziger Bundesvorsitzender Bernd Schlömer ist schon in vielen Bundesvorständen vertreten gewesen als Schatzmeister, stellvertretender Vorsitzender – und gleichzeitig immer wieder neue Leute dazu kommen, was sicherlich auch der ehrenamtlichen Struktur geschuldet ist, aber dann immer wieder frischen Wind hineinbringt. Auch, weil die Partei sich ja ständig verändert. Nach 2009 haben wir einen riesigen Mitgliederschub gehabt, nach der Bundestagswahl und nach der Berlin-Wahl wieder. So kommen dann immer neue Strömungen auch in den Bundesvorstand, die dann auch die Partei mit abbilden.

Deutschlandradio Kultur: Da geht's bergauf. Woanders geht's bergab. Bei den Umfragen sehen alle Institute sie inzwischen bei drei bis vier Prozent für die Bundestagswahl. Das waren mal zwölf. Wessen Fehler ist das?

Martin Delius: Na ja, nicht der Fehler der Institute. Die Piratenpartei ist seit der Berlin-Wahl auf einer unglaublichen medialen Aufmerksamkeit geschwommen. Während der ganzen Wahlkämpfe in den anderen Landesverbänden haben wir viel davon profitieren können, dass wir Aufmerksamkeit erzeugt haben. Und das hat dann auch die zwölf Prozent ausgemacht. Jetzt sind wir in einer Phase, in der wir uns um unsere Hausaufgaben kümmern müssen, die Wahlprogramme fertig machen müssen, die Personalien klären müssen. Und das ist weder besonders interessant für die Öffentlichkeit, noch ist es besonders einfach, das auch gut nach außen zu vertreten. – Und da müssen wir besser werden. Daher kommen auch die drei Prozent.

Deutschlandradio Kultur: Ist das jetzt das realistische Maß der Piratenpartei?

Martin Delius: Ich glaube, das realistische Maß der Piratenpartei liegt – auch mit einem erfolgreichen Wahlkampf, den wir erwarten können – zwischen fünf und 7 Prozent. Derzeit. Das kann auch mehr werden, es kann auch weniger werden. Da habe ich keine Glaskugel. Wir sind auf jeden Fall eine Oppositionskraft, die in den Bundestag gehört und da auch Platz finden wird.

Deutschlandradio Kultur: Martin Delius, lassen Sie uns hier in "Tacheles" noch mal auf die Inhalte Ihrer Partei blicken. Sie haben schon gesagt: Die brauchen wir mehr. Auf dem Bundesparteitag vor drei Wochen in Bochum haben Sie sich zum Beispiel geeinigt auf: mehr betriebliche Mitbestimmung, Einführung eines Mindestlohns, für eine Mindestrente sind Sie, strengere Transparenzregeln bei Abgeordneteneinkünften, eine Bürgerversicherung und so weiter.

Wenn man sich am vergangenen Sonntag die Rede von Peer Steinbrück angehört hat, als der zum SPD-Kanzlerkandidaten gekürt worden ist, da gab das ziemlich viele Gemeinsamkeiten. Wie dicht sind Sie da bei der SPD?

Martin Delius: Das ist sehr erstaunlich, weil Herr Steinbrück hat ja in seiner Parteitagsrede, seiner Kampfrede zum Auftakt des Wahlkampfs, ein sehr ursozialdemokratisches Bild geliefert, das man ihm gar nicht mal so unbedingt abkaufen muss in erster Linie. Da sind wir, was die sozialen Aspekte – in Richtung Soziale Marktwirtschaft geht das natürlich – angeht, schon ziemlich dicht auch bei der SPD. Deswegen ist sie trotzdem kein Koalitionspartner. Sie lehnt zum Beispiel die Vorratsdatenspeicherung nicht vehement ab. Das könnten wir dann nicht vereinbaren. Aber in wirtschaftspolitischen Bereichen stellen die Piraten soziale Aspekte vor die des freien Marktes, möchten Infrastruktur öffentlich finanzieren, möchten den Mindestlohn und möchten im Prinzip eine Marktregulierung, die auch den Sozialdemokraten gut zu Gesicht steht.

Deutschlandradio Kultur: Ihr Parteivorsitzender Bernd Schlömer hat auch bei seiner Eröffnungsrede zum Parteitag gesagt, dass er sich wünschen würde, die Piraten als sozialliberale Partei zu definieren. Ist das so das Spektrum, also dass man sich zwischen SPD und FDP einordnet?

Martin Delius: Das ist noch unklar. Es gibt da Strömungen, die sagen in der Partei auch was anderes. Ich gucke mir unsere Wahlprogramme in den Ländern und unser Grundsatzprogramm im Bund und das Wahlprogramm, was dann wahrscheinlich kommen wird, an – und entscheide danach. Und dann sehe ich ganz klar, dass wir ins linke Spektrum der Parteien in Deutschland gehören – also links von der FDP. Und ob wir dann links von der SPD stehen, das hängt meines Erachtens eher von der SPD ab, wie sie sich in der nächsten Zeit so positioniert. Wenn es nach der Steinbrück-Rede geht, dann sind wir ungefähr gleichauf.

Deutschlandradio Kultur: Das ist ein inhaltlicher Richtungsstreit, den Ihre Partei da gerade führt, und dieser Streit wird basisdemokratisch ausgetragen. Und das ist nicht gerade einfach. Das war auch vor ein paar Wochen auf dem Parteitag zu sehen. Da gab es ursprünglich rund 800 Anträge. Die angereisten Mitglieder haben diese dann auf gut 100 Anträge eingedampft. Aber so richtig viel haben Sie auch davon nicht geschafft.

Martin Delius: Nein. Das ist das Problem. Wir haben jetzt akut das gleiche Problem. Wir haben die größte demokratische Versammlung in Deutschland gemacht.

Deutschlandradio Kultur: Bescheiden.

Martin Delius: Na ja, es ist nicht bescheiden, das ist einfach die Zahl: 2.000 Menschen, die sich auf demokratische Art und Weise zu Entschlüssen durchringen können und auch offen diskutieren, ohne vorher fertig gemachte Reden ...

Deutschlandradio Kultur: ... sagen wir ganz kurz, wie viele Beschlüsse es denn waren von den eigentlich 800 Anträgen.

Martin Delius: Soweit ich weiß, ich müsste jetzt lügen, ich gehe davon aus, dass wir acht bis zehn große Grundsatzbeschlüsse hatten.
Deutschlandradio Kultur: Hm.

Martin Delius: Ja, es reicht nicht aus, das ist völlig richtig. Das wird auch dem Charakter einer Mitmachpartei, die wir immer sein wollen und die wir auch sind, nicht gerecht. Da müssen wir nachjustieren. In der Diskussion ist deshalb die ständige Mitgliederversammlung als eine Art Onlineparteitag, die es erlaubt, kontinuierlich Beschlüsse zu treffen, die auch verbindlich sind. Da müssen wir hin. Und darüber diskutieren wir auch gerade.

Das heißt aber nicht, dass der Parteitag ergebnislos war. Sie hatten es schon erwähnt: Wirtschaftsprogramm, ein Programm zur Umweltpolitik, zur Infrastrukturpolitik, Europa. Wir haben uns auf ein demokratisch verfasstes Europa geeinigt. Wir möchten einen europäischen Konvent und im Idealfall europäische Bundesstaaten, die gemeinsam mit einem starken Parlament entscheiden können. Das sind alles Inhalte, die dabei rumgekommen sind. Das ist allerdings auch nicht der Großteil dessen, was beantragt war.

Deutschlandradio Kultur: Wir kommen gleich noch auf einige dieser Inhalte. Trotzdem frage ich mich im Moment noch: Stolpern jetzt ausgerechnet die Piraten über ihre Basisdemokratie?

Martin Delius: Wir stolpern nicht, wir entwickeln das hoffentlich immer weiter. Wir haben Liquid Feedback eingeführt 2010 ...

Deutschlandradio Kultur: ... diese Onlinesoftware, mit der Sie abstimmen können.

Martin Delius: Genau ... als Liquid-Democracy-Tool, um Antragsentwicklung und Abstimmung gleichzeitig zu betreiben, weil wir eben keine Diktatur der AGs haben wollten. Wir haben das "Vergrünung" genannt, weil wir keine institutionalisierte Meinungsbildung haben wollten. Und das müssen wir jetzt weiterentwickeln, weil wir eben weiter gewachsen sind, weil wir neue Anforderungen bekommen haben. Das ist ein Prozess, da müssen wir durch.

Deutschlandradio Kultur: Ja, aber kann man dabei bleiben? Sie haben es gerade schon angesprochen. Es gibt ja in anderen Parteien Delegierte, die extra da hingeschickt werden. Es gibt auch Leitanträge von Vorständen. Bei Ihnen hat aber jeder dasselbe Stimmgewicht. Alle sind gleich wert, können da hinkommen und abstimmen und Anträge einreichen. Muss man das nicht verändern, um handlungsfähiger zu werden?

Martin Delius: Ja, wie gesagt, es ist die Frage, in welche Richtung man es verändert. Die Piraten wollen keine Leitanträge. Das würde dem Charakter der Mitmachpartei überhaupt nicht entsprechen. Man kann darüber diskutieren, ob nicht ein Delegiertensystem demokratischer ist, weil es weniger von der Zeit- und Geldelite einer ehrenamtlich arbeitenden Partei abhängt.

Meiner Meinung nach ist die beste Lösung tatsächlich die ständige Mitgliederversammlung über Online-Tools. Da haben wir die größte Kompetenz. Das müssen wir nur weiterentwickeln und konsequent durchführen. Der Bedarf ist da. Da sind wir uns einig. Jetzt ist die Frage, wie sich die Piraten entscheiden. Dazu gibt's ja auch Initiativen.

Deutschlandradio Kultur: Und über diese Initiative sollte eigentlich auf dem Parteitag schon entschieden werden. Aber die ganzen Debatten sind derart aus dem Ruder gelaufen, dass dafür keine Zeit mehr war. Zweifeln Sie manchmal an Ihren eigenen Parteikollegen?

Martin Delius: Ja, aber ich glaube, das gilt für jeden, der in einer Partei ist. Im Prinzip war es meines Erachtens so, dass die Piraten – gerade auch am zweiten Parteitag – die Vorstellung hatten, jetzt dann doch endlich mehr Inhalte durchbringen und sich nicht über diese strukturellen Probleme streiten zu wollen. Und das ist denen auch unbenommen. Dafür ist es eine demokratische Versammlung.

Deutschlandradio Kultur: Wie lang kann man eigentlich noch beim Ehrenamt bleiben im Parteivorstand? Muss man bei 34.000 Mitgliedern nicht bezahlte Kräfte an der Spitze haben?

Martin Delius: Ja. Da müssen wir auch drauf hinarbeiten. Das wird leichter, wenn wir zur nächsten Bundestagswahl mehr Parteienfinanzierung einwerben können mit entsprechendem Wählervotum. Das wird auch leichter, wenn wir eine höhere Bezahlerquote oder möglicherweise einen höheren Mitgliedsbeitrag haben oder mehr Spenden einwerben können.

Deutschlandradio Kultur: Momentan zahlen ungefähr 60 Prozent Ihrer Mitglieder Beiträge.

Martin Delius: Genau. Das ist aber schon ganz ordentlich für eine Partei, die sich ansonsten so locker gibt und auch jeden anderen mitmachen lässt, ob er Mitglied ist oder nicht. Wie gesagt, das muss besser werden. Und da geht auch die Entwicklung hin. Am Ende wird man an ordentlich bezahlten Vorständen nicht vorbeikommen, natürlich aber auch nicht an einem ordentlich bezahlten Mitarbeiterstab, was die Verwaltung angeht – für Post und Einladungsendungen und so weiter.

Deutschlandradio Kultur: Was heißt denn "ordentlich bezahlter Vorstand"?

Martin Delius: Na ja, es gibt ja Tarifvereinbarungen. Wir sind ja auch für den Mindestlohn. Das heißt, daran wird sich das orientieren.

Deutschlandradio Kultur: Also, der Vorstand kriegt dann Mindestlohn?

Martin Delius: Ja, mindestens.

Deutschlandradio Kultur: Bei all den organisatorischen Schwierigkeiten, die wir gerade angesprochen haben, haben Sie Ihr Programm aber auch deutlich erweitert in Sachen Außen- und Wirtschaftspolitik mit diesen etwa acht Anträgen, die Sie genannt haben. Nun mehren sich aber Stimmen früherer Unterstützer, dass die Kernkompetenz der Piratenpartei verloren geht. Zum Beispiel Constanze Kurz, Netzaktivistin aus dem Chaos-Computer-Club: Ihr fehlt bei den Piraten "eine Vision, wie das Internet in fünf Jahren aussehen kann". Also, ist es klug, sich jetzt thematisch breit aufzustellen? Oder sollten sich die Piraten eher wieder auf die Kernkompetenzen konzentrieren?

Martin Delius: Realistischerweise müssen wir beides machen. Es ist ja nicht nur so, dass wir aus einer bestimmten Richtung kommen und ein bestimmtes Klientel unsere Kernsupporter nennen können. Die müssen wir natürlich auch zufriedenstellen. Mit denen müssen wir diskutieren. Da gilt es auch, mehr netzpolitische Kompetenz in die Partei zu holen und da zu behalten.

Deutschlandradio Kultur: Fehlt die momentan?

Martin Delius: Nein, ich glaube, die Prioritäten sind anders gesetzt. Also, die Piraten haben sich auch im Rahmen der Landtagswahlkämpfe einfach darauf konzentriert, sich breiter aufzustellen – Sozialpolitik, Energiepolitik, Umweltpolitik und so weiter. Da ist jetzt auch eine Gegenbewegung bemerkbar. Ich denke, die Parallelität können wir leisten. Dann kommt's auch auf die Initiativen in den Parlamenten zum Beispiel an.

Deutschlandradio Kultur: Sie waren in wichtigen Debatten jetzt aber nicht präsent. Das wischen Sie so ein bisschen weg. Also, ich nenne mal ein paar: Facebook: Thema Datenschutz. Dann war Ihre Stimme nicht präsent als es um die Konferenz der Internationalen Fernmeldeunion in Dubai ging, wo Staaten wie Russland und China Anträge eingebracht haben, um das Internet strenger zu kontrollieren. Warum sind Sie da nicht präsent?

Martin Delius: Zunächst mal muss auch die Piratenpartei nicht auf jeden Gaul, der durchs Dorf getrieben wird, aufspringen.

Deutschlandradio Kultur: Das ist ja nicht jeder Gaul, das ist Ihr Kernthema.

Martin Delius: Na ja, also, die Probleme, die sich mit der ITU-Konferenz in Dubai begeben, die muss vor allen Dingen erstmal die Konferenz lösen. Wir haben da alle nicht den großen Schock gehabt, weil ja auch klar ist, dass sich dort einstimmig geeinigt werden muss. Und die Gefahr haben wir nicht gesehen. Das ist aber auch nicht ein Problem der thematischen Breite oder thematischen Tiefe, sondern der Personalien, die das nach außen vertreten.

Wir haben extrem erfolgreiche und auch kompetente Aktivisten in der Partei, die sich natürlich mit dem Thema befasst haben. Nur brauchen die auch die Ausstrahlungskraft und den Support der Partei, um prominent in die Öffentlichkeit zu kommen mit dem Thema.

Deutschlandradio Kultur: Und das fehlt?

Martin Delius: Das fehlt noch. Daran arbeiten wir. Dafür stellen wir gerade auch Landeslisten auf. Dafür arbeiten wir gerade auch an der Struktur der Kandidatenaufstellung und so weiter.

Deutschlandradio Kultur: Dass die Leute dann auf die Landeslisten kommen?

Martin Delius: Zum Beispiel, kompetente Menschen auf die Landeslisten, einen Bundesvorstand, der sich stärker äußert. Klaus Peukert ist jetzt jemand, der gerade aus dem Hintergrund nach vorne tritt und sich in den Bereichen Bürgerrechte, Innenpolitik, Sicherheitspolitik stark macht. Wir haben ein neues Gesetz in Sachsen-Anhalt bekommen, das quasi ein "Lex Terror" ist mit einer kompletten Überwachung von Bürgern im Bereich von öffentlichen Räumen und Demonstrationen. Darum hat er sich gekümmert.

Und wenn Sie sich Klaus Peukert angucken, dann redet der genau über diese Kernkompetenzen: nämlich Bürgerrechte, die Ablehnung von Überwachung und polizeilichen Maßnahmen ohne Richtervorbehalt. Er geht sogar in die Länder, in denen er ja gar nicht ist, er ist ja eigentlich Sachse. Und da äußert er sich prominent und erstaunlicherweise nicht mal mit Pressemitteilungen, sondern nur mit von verschiedenen Agenturen zitierten Blogbeiträgen. Und das reicht bei den Piraten auch schon aus, wenn man kompetent ist.

Deutschlandradio Kultur: Vielleicht, um intern wahrgenommen zu werden. Warum dringen Sie nicht so recht in der Öffentlichkeit durch?

Martin Delius: Wenn ich mir die einschlägigen Medien angucke, dann sehe ich, dass dort auch Meldungen platziert sind. Bundesweit ist es natürlich immer interessanter, dass die Piraten jetzt gerade in der Konsolidierungsphase sind und dass der Bundesvorstand sich streitet. Das heißt aber nicht, dass die kompetenten Menschen sich nicht äußern und auch gehört werden.

Deutschlandradio Kultur: Was ist denn Ihr Markenkern für die Bundestagswahl 2013?

Martin Delius: Wenn Sie mich fragen, und da ist die Partei sich ja noch nicht einig, wir machen das ja basisdemokratisch, ist der Markenkern, dass wir eine echte Oppositionskraft im Bundestag sein können. Wir stellen Fragen, das haben wir jetzt gelernt im Berliner Abgeordnetenhaus, wir stellen Fragen, die sich für andere Parteien gar nicht mehr stellen. Die Frage zum Beispiel, wie man Nebeneinkünfte ordentlich versteuert oder veröffentlicht und geldwerte Vorteile angibt. Das haben wir im Abgeordnetenhaus gemacht. Solche Fragen kommen automatisch mit einer jungen Riege, die vorher einfach nicht im etablierten Politikbetrieb aufgetaucht ist. Und das bedeutet im Prinzip für den Bundestag einen Neustart auch in der Oppositionsarbeit. Und das können die Piraten leisten – unabhängig von den Inhalten, die sie haben.

Deutschlandradio Kultur: Ehrlich gesagt bin ich jetzt ein bisschen überrascht, dass Sie just dieses Beispiel bringen. Denn gerade die Debatte um die Nebeneinkünfte zum Beispiel des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück hat gezeigt, dass das Schlagwort der Transparenz inzwischen zum politischen Mainstream gehört. Bricht Ihnen da nicht just das eine große Thema weg, weil es alle inzwischen gut finden?

Martin Delius: Nein, ganz sicher nicht. Sie müssen nur überlegen, wie viele Gesetze wurden denn inzwischen dazu erlassen? Und vor allen Dingen: Welche Partei ist denn in der Lage, ohne dass es ein Gesetz gibt, auch schon den eigenen Ansprüchen Genüge zu tun? Wenn ich mir den Bundestag angucke, dann kann ich nicht erkennen, dass den warmen Worten von Transparenz auch tatsächlich Taten folgen.

Deutschlandradio Kultur: Wie Sie das umsetzen, das können wir jetzt noch mal besprechen. Sie sind schon in ein Parlament eingezogen, sitzen im Berliner Abgeordnetenhaus. Seit gut einem Jahr sind dort die Piraten. Und dann haben die Piraten auch gleich turnusmäßig den Vorsitz des Untersuchungsausschusses zum Flughafen Berlin-Brandenburg erhalten. Warum wollten ausgerechnet Sie den Vorsitz bekommen?

Martin Delius: Ich war Parlamentarischer Geschäftsführer. Die Aufgabe, die man als Parlamentarischer Geschäftsführer hat, ist, sich mit den teilweise sehr komplizierten Vorgängen und rechtlichen Sicherheiten und Unsicherheiten im Parlament auseinanderzusetzen. Deshalb war ich von der jungen Piratenfraktion wahrscheinlich derjenige, der sich am ehesten mit den komplizierten Vorgängen eines Untersuchungsausschusses identifizieren konnte. Und da habe ich mich zur Verfügung gestellt und die Fraktion hat gesagt, ja, mach. Dann habe ich angefangen.

Deutschlandradio Kultur: Das könnte jetzt die große Chance sein zu beweisen, dass für die Piraten die Transparenz mehr ist als nur ein Schlagwort. Aber in all den Akten, die Sie da bekommen, sind natürlich auch viele private Daten. Da sind Geschäftsgeheimnisse drin. Und Sie haben als Ausschussvorsitzender bereits einen "verantwortungsvollen Umgang" damit angekündigt. Im Klartext heißt das: Es wird nicht alles veröffentlicht, sondern geschwärzt.

Merken Sie gerade, dass Sie das Transparenzversprechen der Piraten eben doch nicht immer einhalten können?

Martin Delius: Da wissen Sie mehr als ich. Ich habe noch keine Akte geschwärzt. Wenn Sie auf unseren Blog gucken, dann sehen Sie, dass wir die Einzigen sind, die regelmäßig im Aktenstudium, also ad hoc, wenn wir eine Akte lesen, diese auch veröffentlichen, wenn wir das können.

Deutschlandradio Kultur: Sie sagten, dass die Akten, die Sie noch bekommen, in denen die Geschäftsbeziehungen stehen, natürlich nicht 1:1 weitergeben können, sondern dass Sie die Namen rausschwärzen müssen.

Martin Delius: Wir prüfen das vorher. Das ist ja unsere Aufgabe. Und die Namen müssen natürlich raus. Das hat aber nichts mit Transparenz zu tun, sondern mit dem Schutz von personenbezogenen Daten. Das sind allgemeine Rechtsgrundsätze, die wir natürlich auch achten.

Man muss doch sehen, dass wir die Aufgabe haben, eine rechtssichere Beweisführung zu machen, die ja der Transparenz dient. Denn das macht ein Untersuchungsausschuss. Der klärt auf. Der kann nicht aufklären, wenn hinterher anfechtbar ist, was wir da herausgefunden haben. Und dafür müssen die Piraten sorgen. Und das kriegen wir ohne Probleme hin.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben die gerade wohl wichtigste bundespolitische Aufgabe eines Piraten in Deutschland, könnte man sagen, mit dem Untersuchungsausschuss zum Flughafen Berlin-Brandenburg ...

Martin Delius: Große Worte!

Deutschlandradio Kultur: Was wollen Sie denn jetzt explizit anders machen? Sie sind ja auch als Gegenentwurf angetreten mit den Piraten. Wie zeigt sich das jetzt in Ihrer Arbeit im Untersuchungsausschuss?

Martin Delius: Das zeigt sich im Prinzip in zwei Dingen. Was ich als Ausschussvorsitzender tue und versuche, was ziemlich gut klappt bisher, ist dafür zu sorgen, dass Konsensbeschlüsse getroffen werden können – zum Beispiel darüber, wer denn befragt wird und warum – und nicht einfach die Koalitionsmehrheit entscheidet, die ja wahrscheinlich nicht den intensivsten Aufklärungsauftrag für sich verspürt. Das ist das eine. Das heißt, wir argumentieren an der Sache orientiert und nicht daran, dass man den Ausschuss vielleicht besonders gut für die Bundestagswahl verwenden könnte. Das machen die Piraten anders.

Das andere ist, das habe ich ja schon gesagt, dass wir konsequent mit dem erweiterten Arm der Internetöffentlichkeit arbeiten. Da sind kompetente Menschen, die sich bei uns anonym melden können – auch schon seit dem Juni in der Vorbereitungsphase –, und über die wir extrem viele sehr gute Hinweise bekommen haben. Das hilft uns dann dabei, das Aktenstudium zu priorisieren, und diese 11.000 Aktenordner, von denen inzwischen die Rede ist, sukzessive durchzugehen am Fokus dessen, was wir als Hinweis bekommen haben. Und das dann auch wieder in die Öffentlichkeit zu tragen, und zwar so, dass jeder es lesen kann und jeder auch es durchsuchen kann mit den technischen Möglichkeiten, die heutzutage zur Verfügung stehen.

Da arbeite ich mit der Verwaltung des Abgeordnetenhauses zusammen, um rechtsichere, digitale Beweisverfahren zu ermöglichen. Da streite ich mich mit den herausgebenden Stellen über die Veröffentlichungsmöglichkeiten, damit so viel wie möglich auch ins Internet gestellt werden kann. Das ist der Fokus der Piratenarbeit, wenn es um den Vorsitz geht.

Deutschlandradio Kultur: All diese Verantwortlichen machen Ihnen die Aufklärungsarbeit ja nicht gerade leicht. Viele Akten bekommen Sie erst mit wochenlanger Verzögerung. Haben Sie das Gefühl, dass da mancher vielleicht auch austestet, was man mit einem Neuling wie dem Piraten Martin Delius so anstellen kann?

Martin Delius: Ja, deutlich. Das passiert im Prinzip in jeder Sitzung. Das gilt auch nicht nur für die herausgebenden Stellen, sondern auch zum Beispiel für die Kollegen in der Koalition. Die versuchen mal eben, nicht berechtigte Mitglieder des Abgeordnetenhauses in eine nichtöffentliche Sitzung reinzuschleusen.

Deutschlandradio Kultur: Was machen Sie dann?

Martin Delius: Das, was im Gesetz steht. Ich frage nach, wer es ist, und lasse darüber abstimmen, ob derjenige dann bleiben darf oder nicht. Das sind immer die kleinen Fallstricke, die dann gelegt werden, über die man nicht stolpern darf. Aber darauf sind wir vorbereitet. Und damit rechnen wir auch.

Deutschlandradio Kultur: Es gibt noch ein anderes Beispiel. Die Abgeordneten waren nicht bereit, die Sitzplätze zu wechseln, so wie Sie das wollten. Sie, Martin Delius, wollten eigentlich, dass in jeder Sitzung eine andere Sitzordnung herrscht, damit sich keine Fraktionsblöcke bilden können. Hat Sie das geärgert?

Martin Delius: Nö. Im Prinzip war der Vorschlag eine Anzeige, in welche Richtung es geht. Ich habe ja gerade gesagt, gerade was die Zeugen, die wir jetzt im Januar vernehmen werden, angeht, haben wir Konsensbeschlüsse erreicht. Und ich glaube, das ist auch angekommen bei den anderen Fraktionen, dass es mir darum geht, dass wir uns hier gemeinsam einigen. Im Prinzip hab ich genau das auch erreicht. Die anderen Fraktionen waren sich nämlich alle einig, dass sie meinem Vorschlag nicht zustimmen wollten.

Wie gesagt, es kommt auf die Moderationsfähigkeiten an. Und da war so ein kleiner Hinweis mit diesem Vorschlag auch genau das Richtige, um zu starten.

Deutschlandradio Kultur: Was haben Sie denn außer Konsensbeschlüssen noch erreicht? Welche Erkenntnisse haben Sie in den zwei Monaten bisher gewonnen?

Martin Delius: Das Aktenstudium beginnt ja gerade erst. Aber wenn Sie sehen, was wir inzwischen an Vermerken veröffentlicht haben bei den Piraten, ist Folgendes ganz klar: Die Frage nach den Kosten hat sich schon im Jahr 1995 – weit, weit bevor der Baubeginn war – folgendermaßen dargestellt: In der Senatskanzlei ist man ganz lapidar davon ausgegangen, dass das Projekt eh zwei- bis viermal so teuer wird, wie eigentlich berechnet. Dem ist nicht widersprochen worden. Und heutzutage stellen sich führende Politiker und Verantwortungsträger hin und sagen, dass sie völlig überrascht sind von der Kostenexplosion. In diese Wunde werden wir weiterhin den Finger legen.

Und wir werden auch Akten nachliefern, die zeigen, wie sich dieses Verhältnis von Öffentlichkeitsarbeit, Ehrlichkeit und auch Wirtschaftlichkeit, Kapazitätsberechnungen bei dem ganzen Projekt durch die Jahre hinweg bis heute durchgezogen hat. Wie gesagt, das veröffentlichen wir dann einfach und bewerten das auch.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie jetzt diese Erkenntnisse haben, Martin Delius, dann blicken Sie doch bitte für uns am Ende dieser Sendung "Tacheles" noch mal in die Zukunft. Was wird zuerst passieren: dass der Flughafen in Berlin-Schönefeld in Betrieb geht oder dass die Piratenpartei in den Bundestag einzieht?

Martin Delius: Dass die Piratenpartei in den Bundestag einzieht.

Deutschlandradio Kultur: Einfache Antwort – vielen Dank.