Martín Caparrós: "Der Hunger"

Niemals satt

Der argentinische Schriftsteller Martin Caparros
Der argentinische Schriftsteller Martin Caparros © picture-alliance / dpa / Susana Gonzalez
Von Katharina Döbler · 10.12.2015
Tag für Tag leiden rund drei Milliarden Menschen unter Hunger. Martín Caparrós geht im seinem Buch "Der Hunger" den Ursachen nach und meint: Hier zeigt sich das "schändliche Scheitern einer Zivilisation".
"Der Hunger existiert nicht außerhalb der Menschen, die ihn erleiden. Das Thema ist nicht der Hunger; es geht um eben diese die Menschen", schreibt der argentinische Schriftsteller und Journalist Martín Caparrós in seinem Kompendium über den Hunger.
In weit ausgreifenden Reportagen aus Niger, Indien, Bangladesch, den USA, Argentinien, dem Südsudan und Madagaskar berichtet Caparrós von diesen Menschen.
Er tut das aus großer Nähe. Und er stellt Fragen, die niemand stellt, weil alle die Antworten ohnehin zu kennen glauben. Ob sie damit gerechnet habe, dass einige ihrer Kinder nicht überleben würden, fragt er eine Mutter von elf Kindern, von denen gerade das siebte gestorben ist. Aber nein, sagt sie. Man bekomme keine Kinder, damit sie sterben.
Es ist einer von vielen Sätzen in diesem Buch, die man nicht vergessen wird.
Hohe Kindersterblichkeit ist das Ergebnis dessen, was man "Mangelernährung", "chronische Unterernährung" oder auch "Nahrungsunsicherheit" nennt, Euphemismen, die das Wort Hunger vermeiden. Was es bedeutet, sich niemals satt zu essen, niemals zu wissen, ob man seine Kinder auch morgen wird ernähren können – kurz: die Alltäglichkeit des Hungerns als Existenzform von etwa drei Milliarden Menschen – das ist es, was Caparrós untersucht und von vielen Seiten beleuchtet.
Und er erhebt Fakten, sieht sich die überall zugänglichen Zahlen genau an: Dass der reiche Norden seine Landwirtschaft in einem riesigen Ausmaß subventioniert, während der Süden – etwa durch die berüchtigten "Strukturanpassungsprogramme" von IWF und Weltbank Ende des 20. Jahrhunderts - gezwungen wurde, seine Märkte offen zu halten und staatliche Unterstützungsprogramme für die eigenen Bauern zu streichen, beziehungsweise gar nicht erst aufzulegen. Eine hoch produktive Agrarindustrie exportiert ihre Erzeugnisse also in Länder, wo die Bauern noch ohne Pflug, ohne Bewässerung und zum Teil ohne Dünger winzige Mengen zum Eigenverbrauch anbauen. Die Zahlen sprechen für sich: Ein US-Farmer produziert je Hektar Anbaufläche 2000 mal so viel wie ein Bauer in der Sahelzone. Der sich das importierte Getreide aber nicht leisten kann – von welchem Geld denn auch?
Die Weltwirtschaftsordnung mit ihrer zynischen Marktlogik bemisst Essen, das elementarste aller Menschenrechte, nach Zahlungsfähigkeit. Das gilt auch für ein so reiches Land wie die USA, wo sich Caparrós in Suppenküchen und unter fehlernährten Armutsdicken umgesehen hat; ebenso für den großen Nahrungsmittelexporteur Argentinien, wo Menschen von dem leben, was sie auf Müllhalden finden.
Falls es angesichts dieser Zustände überhaupt irgendein Fazit geben kann, hat Caparrós es formuliert: "Das andauernde, brutale, schändliche Scheitern einer Zivilisation."

Martín Caparrós: "Der Hunger. Wie zum Teufel können wir weiterleben, wenn wir wissen, dass diese Dinge geschehen"
Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg und Hanna Grzimek
Suhrkamp, Berlin 2015
844 Seiten, 29,95 Euro

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