Marthe Cohn

"Niemand traute mir zu, Spionin zu sein"

Marthe Cohn
Marthe Cohn - der Deckname der französischen Spionin war Martha Ulrich © picture alliance / dpa
Von Kerstin Zilm · 09.05.2016
Sie sprach perfekt deutsch, war blond, blauäugig – und jüdisch. Vom Frühjahr 1945 an arbeitete die französische Spionin Marthe Cohn in Deutschland. Sie habe helfen wollen, den Krieg endlich zu beenden, sagt die heute 96-Jährige über ihre "Mission".
"That is where I crossed into Germany …"
Marthe Cohn beugt sich mit ihrem Mann Major über eine Landkarte des Dreiländerecks von Frankreich, Schweiz und Deutschland. Gemeinsam finden sie die Stelle, an der sie im Frühjahr 1945 die Grenze überquerte. Die zierliche Frau, 96 Jahre alt, silber-weißes Haar, nur knapp ein Meter fünfzig groß, erinnert sich noch genau an die Büsche, hinter denen sie auf den geeigneten Moment zur Grenzüberquerung wartete.
"Ich war vor Angst paralysiert. Plötzlich wurde mir das Ausmaß meines Auftrags bewusst. Ich wusste so wenig über Deutschland. Ich konnte deutsch sprechen, mehr nicht."
Ihr Auftrag war, Informationen über Truppenbewegungen und Moral der Bevölkerung in Süddeutschland zu sammeln. Im Schweizer Versteck hinter den Büschen wurde ihr klar: Ihr Alibi war lückenhaft. Sie wusste zum Beispiel nicht, wie sie die Gutscheine für den Zug und Restaurants einlösen sollte, die ihr der französische Geheimdienst in ihren kleinen Koffer gelegt hatte. Und wie gut ihre gefälschten Papiere waren.
Mehrere Stunden wartete Marthe hinter den Büschen. Dann gab sie sich einen Ruck.
"In dem Moment war meine Angst verschwunden. Ich ging zur Straße und auf den Wachmann zu, der dort patrouillierte. Ich hob meinen rechten Arm und sagte: Heil Hitler."
Damit begann ihre Arbeit unter dem Decknamen Martha Ulrich.

"Ich war bereit, mein Leben zu riskieren"

Geboren wurde sie im Elsass als Marthe Hoffnung-Gutglück, viertes von sieben Kindern. Ein schöner Name, sagt sie noch heute, aber kein gutes Omen.
"Meine Schwester hatte denselben Namen. Sie wurde deportiert und ist in Auschwitz gestorben. Namen bedeuten nichts."
Die jüdische Familie flüchtete innerhalb Frankreichs vor der deutschen Besatzung. Doch Marthes Verlobter Jacques wurde wegen seiner Arbeit mit dem Widerstand exekutiert und ihre 16 Monate jüngere Schwester Stéphanie vom Abendbrot-Tisch der Familie abgeführt. Sie waren ihre Vorbilder, als Marthe beschloss, für die französische Armee als Spionin zu arbeiten.
"Der Krieg musste beendet werden. Je mehr Informationen ich sammeln konnte, desto schneller konnte das passieren. Dafür war ich bereit, mein Leben zu riskieren. Ich hatte großes Glück - wie immer in meinem Leben. Ich fand sehr wichtige Informationen."

Zehn Kilometer Fußmarsch zum Westwall

Als Krankenschwester Martha Ulrich gab sie vor, ihren Verlobten Hans, einen verschollenen Soldaten, zu suchen. Es gelang ihr, zum Militärdienst gezwungene Französinnen als Informantinnen zu rekrutieren. Sie hatte gehört, wie diese in Freiburg französisch miteinander flüsterten.
Nach einem zehn Kilometer Fußmarsch zum Westwall entdeckte sie kurz vor Kriegsende, dass die legendäre Verteidigungslinie dort bereits evakuiert war. Und auf dem Weg an die Schweizer Grenze stieß sie auf einen Hinterhalt der Wehrmacht im Schwarzwald. Unterwegs musste sie oft in brenzligen Situationen improvisieren.
"Ich hatte keine Zeit, Angst zu haben. Ich war auch erfolgreich, weil niemand so einem kleinen Ding wie mir zutraute, eine Spionin zu sein."

1945 erhielt Cohn das französische Kriegskreuz

Ihre Arbeit war so wichtig und erfolgreich, dass die ungewöhnliche Spionin schon 1945 das französische Kriegskreuz bekam. Im Jahr 2000 wurde ihr die französische Militärmedaille verliehen. Ein Orden, den unter anderem Winston Churchill erhielt. Selbst Marthes Mann, Major Cohn, wusste bis dahin wenig über die Geheimdienstarbeit seiner Frau.
"Ich wusste, als ich sie in Genf kennenlernte, dass sie während des Krieges in der französischen Armee gewesen war. Sie hat mir im Laufe der Jahre ein paar Begebenheiten erzählt, aber ich habe nie gefragt, was sie nach Deutschland und in die Armee gebracht hat."
Die beiden trafen sich 1953 in Genf. 1958 zogen sie um in die USA, heirateten und bekamen zwei Söhne. Heute reist Marthe Cohn um die Welt, um von ihrer Zeit als Spionin zu erzählen. Dabei geht es Cohn nicht um Ruhm oder Ehre:
"Für mich ist es wichtig, dass Leute wissen: Juden haben gekämpft. Sie wurden nicht nur gefangen, in Lager gebracht und getötet. Viele Juden haben im Widerstand gekämpft. Das zu vermitteln, ist heute meine Mission."
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