Marquis de Sade

Der Quentin Tarantino des 18. Jahrhunderts

Eine Skulptur zum Gedenken an den Adligen und Autor Marquis de Sade (r) vom russischen Künstler Alexandre Bourganov steht vor dem Schloss in Lacoste im Departement Vaucluse in Frankreich, dem Wohnsitz von Marquis des Sade.
Skulptur des Marquis de Sade vor seinem ehemaligen Wohnsitz, dem Schloss in Lacoste. © dpa/ picture alliance / Jens Kalaene
Von Katharina Döbler  · 21.07.2014
Der Marquis de Sade war ein intelligenter Psychopath, der seine Obsessionen zum Kult erhob. Der Schweizer Historiker Volker Reinhardt widmet ihm nun eine neue Biografie - und begibt sich auf die Suche nach der Natur des Bösen.
Heutzutage kann man die nach ihm benannten sexuellen Perversionen im Fernsehen betrachten: Der Marquis de Sade (1740-1814) regt niemanden mehr auf. Seine einst verbotenen Schriften sind mittlerweile kanonisiert und die Frage, ob er nun ein Vorkämpfer der Revolution war oder ein selbstherrlicher Aristokrat, löst schon lange keine Debatten mehr aus.
Nach dem heutigen Stand des Interesses und der Erkenntnis gehört der "göttliche Marquis" (so nannte ihn der Dichter Guillaume Apollinaire) in die Kategorie intelligenter Psychopathen; man könnte ihn sich vielleicht am ehesten als eine Art Quentin Tarantino des 18. Jahrhunderts vorstellen, der seine speziellen Defizite und Obsessionen zum Kult erhob.
Sex-Orgien und wütender Atheismus
Doch der Schweizer Historiker Volker Reinhardt, Spezialist für die italienische Renaissance, untersucht Leben, Werk und Wirkung des Marquis de Sade nicht aus der Gegenwart heraus, sondern mit dem Instrumentarium seines Fachs; dass er solide ökonomische und politische Fakten zugrunde legt, hilft die Legenden zurechtzustutzen. Denn der Lebenslauf dieses provencalischen Adeligen war zunächst nicht untypisch für die alte, bereits einflusslose Aristokratie unter Ludwig dem XV., weder seine Karriere als Kindersoldat noch die Geldheirat und die Vorliebe für sexuelle Orgien.
Reinhardt untersucht vor allem de Sades Verhältnis zur Gesellschaft des Ancien Régime, die ihn privilegierte und die er, voller Verachtung, so sarkastisch und perfide beschrieb - vor allem den "120 Tagen von Sodom".
Wie sehr er dabei an das Denken seiner aufklärerischen Zeitgenossen anknüpfte, sich an Rousseaus Vorstellungen von der Natur des Menschen rieb und diese Theorien mit seinem wütenden Atheismus und seinen sexuellen Vorlieben zu verknüpfen versuchte, zeichnet Reinhardt anhand der Schriften genau nach. Der Untertitel "Die Vermessung des Bösen" bezeichnet den – hochinteressanten – Aspekt, unter dem er dieses Material organisiert.
De Sade ließ seinen schwarzen Fantasien freien Lauf
Der Sexualverbrecher de Sade, nach mehreren Jahren im Gefängnis, ließ seinen schwarzen Fantasien hemmungslos ihren Lauf, und gleichzeitig dachte er (in dem philosophischen Roman "Aline et Vercours") über eine Gesellschaftsform nach, in der der Schaden, den der Mensch dem Menschen zufügt, möglichst gering ausfiele.
Optimistisch war er diesbezüglich nicht. Das Böse als Teil der menschlichen Natur: das war Thema und Leitstern seines Schaffens, und er durchdachte es bis zum Überdruss, von der Vergewaltigung bis zum Massenmord in immer neuen Varianten. Es gibt wohl wenige Menschen auf der Welt, die sein schwer erträgliches und ermüdendes Werk, dieses Zeugnis exzessiver Imagination, radikaler Selbsterforschung und intellektueller Wut, wirklich gelesen haben.
Reinhardt versucht verdienstvollerweise keine gültige Deutung, sondern fokussiert seine Biografie auf die philosophische Kernfrage nach dem Bösen in ihrem sozio-historischen Umfeld. Und unter diesem Aspekt wird der adelige Wüstling, der "unglückliche Zweibeiner", wie er sich selbst bezeichnete, zweihundert Jahre nach seinem Tod noch einmal interessant.

Volker Reinhardt: De Sade oder Die Vermessung des Bösen
C.H. Beck, München 2014

464 Seiten, 24,95 Euro