Marode Schulgebäude in Berlin

Im Keller sprudelt das Grundwasser

Außenansicht der Andreas-Oberschule (Gymnasium) im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg
Das Andreas Gymnasium steht seit Jahren in der Rangliste maroder Berliner Schulgebäude weit oben. © imago / Manja Elsässer
Von Verena Kemna · 25.01.2017
Berlins Schulen bröckeln: Klassenräume sind gesperrt und Toiletten nicht benutzbar. Während im Bezirk Neukölln Brennpunktschulen saniert werden, bleiben andere auf der Strecke, beklagen Eltern und Lehrer in der Hauptstadt: zwei Beispiele aus Wedding und Friedrichshain.
Gleich im Eingang der Erika-Mann-Grundschule hängen die Urkunden mit den Auszeichnungen. Darunter findet sich eine Nominierung für den Deutschen Schulpreis, eine Teilnahme an einem Projekt für Toleranz und demokratisches Handeln. Seit drei Jahren ist Birgit Habermann verantwortlich für über sechshundert Schüler von der ersten bis zur sechsten Klasse.
Birgit Habermann: "Wir haben 80 Prozent Kinder nichtdeutscher Herkunft. Das bleibt auch relativ konstant und 70 Prozent, manchmal auch mehr Kinder kommen aus sozialschwachen Familien, erhalten Unterstützung vom Staat und außerdem sind wir eine inklusive Schule. Das heißt, wir haben zehn Prozent Kinder mit besonderem Förderbedarf und den entsprechenden Bedürfnissen."

Eine theaterbetonte Grundschule im Wedding

Die Erika-Mann-Grundschule im Berliner Wedding liegt in einem sozialen Brennpunkt und gilt als vorbildlich. Schulleiterin Birgit Habermann sitzt im Rektorenzimmer an einen großen runden Holztisch. Sie erzählt: Schon mit der Neugründung vor 20 Jahren war klar, dass der Alltag hinter den denkmalgeschützten Mauern ein besonderes Profil erfordert. Schließlich brauchen Grundschüler, die in der Mehrzahl zuhause Arabisch oder türkisch, aber nicht deutsch sprechen, besondere Zuwendung. Kindliches Theaterspiel hat sich bewährt. So steht das Profil einer theaterbetonten Grundschule bis heute. Das heißt, zwei Stunden Theater pro Woche, außerdem Tanz.
"Über die Jahre machen wir die Erfahrung, dass die Kinder von der ersten Klasse an so stolz auf der Bühne stehen und wachsen an ihrem Können, dass uns das eigentlich Recht gibt. Also das 'Ich kann Gefühl' über Theater oder insgesamt über die kreativen Kompetenzen, führt zu Mut sich an andere Aufgaben heranzutrauen."
Ein kurzer Blick auf die Uhr, Zeit für die "Lifespeaker". Die Schulleiterin öffnet die Tür zum Sekretariat. Zwei Jungs und zwei Mädchen packen ihre prallen Rucksäcke in die Ecke. Sie freuen sich auf das, was kommt. Alle vier haben schon oft Gäste durch das Schulhaus geführt. Bis zu dreißig Besuchergruppen aus Deutschland und Europa kommen jedes Jahr, um mehr über das integrative Unterrichtskonzept und die kreative Aufteilung der Räume zu erfahren.
"Hallo, ich bin Asya, ich bin elf Jahre alt und gehe in die Klasse 6b – Mein Name ist Lea-Sophie Bauer, ich bin zehn Jahre alt und gehe auch in die Klasse 6b – Mein Name ist Milo, ich bin elf Jahre alt und gehe in die 6a – mein Name ist Nathan, ich bin elf und gehe auch in die 6a."

Schöne Erinnerungen an die 100-Jahrfeier

Lea-Sophie trägt einen schulterlangen blonden Pferdeschwanz. Ungeduldig läuft die Zehnjährige vorneweg, einen langen breiten Flur entlang. Vorbei an einer weit geöffneten Klassenzimmertür. Drinnen sitzen Zweitklässler, die mit Mausklicks bunte Bilder am Monitor bewegen. An den Wänden im Flur hängen von den Schülern gemalte Bilder. Von der Decke baumeln aus Pappmaschee gebastelte Zahlen. Es ist eine Eins mit zwei Nullen. Die 100-Jahrfeier der Schule ist noch nicht lange her, erklärt Lea-Sophie:
"Also wir gehen jetzt in die lebende Höhle. Manche sagen, dass es die Wohnung des Silberdrachen ist, andere eben auch nicht. Da kann man auch in der Pause hingehen und ich mag sie persönlich sehr gerne."
Für das Drachenmotiv haben sich die Schüler schon vor Jahren im eigenen Schülerparlament entschieden. Der Grundstock wurde gemeinsam mit Architekturstudenten entwickelt. Ein symbolischer Drachenschweif durchzieht die Schulflure, von der Decke baumeln bunte Drachen, es gibt Drachenmöbel und eine Spiegelgalerie. Fast täglich entstehen neue Ideen. Milo bleibt vor einer weiß gestrichenen Metalltür stehen:
"Also ich schließe jetzt die lebende Höhle auf!"
Ein Raum unter freiem Himmel öffnet sich, es ist eine Art große Veranda mit direktem Blick auf den Schulhof. Trockener Efeu hängt in einer Ecke vom obersten vierten Stockwerk des alten Gemäuers herab. An den dürren Ästen eines Baumes baumeln CDs und bunte Wollfäden. In der Ecke, ein Holzschuppen. Asyas Gesicht strahlt vor Begeisterung. Selbst im Winter bei Minusgraden lässt sich die Faszination der "lebenden Höhle" erahnen:
"Man sieht hier zum Beispiel eine Badewanne, die in die Erde reingelassen wurde. Dann sieht man hier ganz viele Bäume mit sehr viel Schmuck, Anhängern. Man kann hier auch sehr verschiedene Sachen basteln mit Steinen mit Muscheln mit Kastanien, ganz unterschiedlich."
Wer darf denn hier rein in die "lebende Höhle"?
"Das dürfen eigentlich alle Kinder in den Pausen. Es gibt eine AG und auch am Nachmittag bei der AG kann man hier hin und seiner Fantasie freien Lauf lassen."
Rucksäcke hängen an einer Garderoba in einer sanierungsbedürftigen Grundschule in Berlin (13.02.2009).
Rucksäcke in einer sanierungsbedürftigen Grundschule in Berlin.© imago / Rolf Zöllner
Einer von vielen schönen Orten an denen sich die Schüler gerne aufhalten. Die vier wissen alles über ihre Schule. Dass der Silberdrache in der Milchbar schläft, dass ein halbes Jahr tägliches Kakaotrinken pro Schüler 30 Euro kostet, dass in den ersten drei Klassen fast immer zwei Pädagogen gleichzeitig arbeiten. Jahrgangsübergreifendes Lernen, also gemeinsamer Unterricht bis zur dritten Klasse ist in dieser offenen Ganztagsschule völlig normal. Zurück im Büro der Schulleiterin, erklärt Birgit Habermann, was "Integrativer Sprachunterricht" bedeutet:
"Das heißt, da sind zwei Lehrer in der Klasse. Einer, der hauptamtlich die Stunde macht und einer, der die Kinder unterstützt. Insbesondere im Sprachlernen, also das heißt, Wortschatzaufbau, Satzstrukturaufbau, was auch immer passt, aber das eben nicht abgekoppelt von der Klasse, sondern mit den anderen Kindern zusammen."

Am schlimmsten sind die Toiletten

Gemeinsames Lernen entspricht dem Credo der Schule. Damit alles noch besser gelingt, wünscht sich Birgit Habermann kleinere Klassen. Derzeit haben in den ersten drei Jahrgangsstufen etwa 25 Schüler gemeinsam Unterricht. Doch in Berlin sind Lehrer Mangelware. Sie werden dringend gesucht. Die Erika-Mann-Grundschule wird Geduld haben müssen. Auch der in Berliner Schulen berüchtigte Sanierungsstau wird in dieser Grundschule nicht auf den ersten Blick deutlich. Zwischen den doppelt verglasten Holzfenstern im Sekretariat stecken Putzlappen in den Ritzen. Heizungsluft zieht ungehindert nach draußen. Im ersten Stock fehlt der Internetanschluss. Die Mensaräume bräuchten dringend eine Lärmisolierung. Am schlimmsten aber sind die Toiletten, sagt Birgit Habermann:
"Die sind, ich weiß nicht wie alt und es riecht aus allen Rohren und es ist wirklich unangenehm. Vor allem weil manche Kinder es sich verkneifen auf die Toilette zu gehen weil sie das hier nicht mögen und das können wir nicht verantworten, das ist so unser Hauptproblem."
Gemessen an den Zuständen in anderen Berliner Schulen, steht dieses Gebäude noch gut da. Laut Senatsverwaltung liegt der Sanierungsbedarf an allen Berliner Schulen bei etwa vier Milliarden Euro. Glaubt man dem Wahlversprechen des Berliner SPD-Bürgermeisters Michael Müller, dann sollen in den nächsten zehn Jahren alle Schulen, die es nötig haben, saniert werden. Bisher wurden zugige Fenster und übler Toilettengeruch an der Erika-Mann-Grundschule nicht als dringend sanierungswürdig eingestuft. Schulleiterin Habermann hofft, dass sie mithilfe einer starken Elternvertretung bald mehr Gehör findet:
"Meine Hoffnung liegt jetzt tatsächlich da dran, dass sich etwas ändert."

Auch in Friedrichshain bröckelt es

Vom Wedding nach Friedrichshain. In der Nähe von Alexanderplatz und Ostbahnhof, versteckt zwischen Wohnblöcken und Hinterhöfen, liegt das Andreas Gymnasium. Seit Jahren belegt es in der Rangliste maroder Schulgebäude einen vorderen Platz. Von der graubraunen Fassade bröckelt der Putz, doch das eigentliche Übel liegt tief unter der Erde.
Schulleiterin Birgit Strohmeyer ist auf dem Weg treppab in die Kellerräume des Altbaus. Sie öffnet Türen. Wo früher die Bibliothek war, liegen Bücher und Papiere in Stapeln unsortiert herum:
"So ein feuchter Keller ist nun mal nicht gut für Bücher und hier kann auch kein Schüler arbeiten weil es alles ein bisschen muffig ist."
Putz blättert von den Wänden, es riecht nach feuchtem Schimmel. In einer grob zusammengehauenen Holztür hängt ein Sicherheitsschloss. Die "Andreas-Quelle" liegt direkt dahinter, nur ein paar Treppenstufen tiefer. An der Schule wissen alle 850 Schüler, was gemeint ist. Über einer schwarz-schlammigen Matschkuhle liegen Holzbretter. Pumpen ragen aus dem Matsch:
"Wenn die Pumpe sich verhakt, ist das Wasser auch schnell angestiegen bis zur dritten, vierten Treppe und das ist natürlich alles unschön weil irgendwelche braunen, schwarzen Schimmelpilze hier vorhanden sind, das ist nicht so gut."

In den Keller sprudelt seit 30 Jahren Grundwasser

Seit etwa 30 Jahren sprudelt Grundwasser in den Keller. Gerne würde Birgit Strohmeyer im Untergeschoss die Mensa unterbringen, eine Bibliothek und Aufenthaltsräume einrichten. Ohne Sanierung – eine Utopie.
Die Schulleiterin sitzt im Rektorenzimmer und blickt durch meterhohe doppelverglaste Holzfenster nach draußen. Dass es im ganzen Haus zieht, findet sie kaum noch erwähnenswert. Schüler und Lehrer leben schon zu lange mit den Unzulänglichkeiten des seit Jahrzehnten unsanierten Altbaus. Das schmutzige grau-braun der Fassade wirkt im Winter besonders hässlich. Im Sommer überwuchert Efeu den bröckeligen Putz. Beide Schulhöfe, eingerahmt von Wohnhäusern, Alt- und Neubauten sind unbefestigt. Nur, weil es an diesen Tagen frostig kalt ist, tragen Schüler und Lehrer keinen Matsch ins Gebäude.
Birgit Strohmeyer leitet die Schule seit einem Jahr:
"Der ehemalige Schulleiter sagte mir, er musste dem Bezirksamt sogar drohen, die Schule zu schließen, weil er die Sicherheitsmängel nicht mehr verantworten konnte. Aber jetzt peu à peu sind wir auf einem guten Weg. Also wir sind im Stadtumbau Ost Programm mit drin und wir sind alle froher Hoffnung, dass das wirklich auch umgesetzt wird und wir wirklich jetzt mit am Zuge sind hier."

Bisherige Sanierungen reichen nicht

Das Dach ist neu gedeckt, die Elektroleitungen sind neu verlegt. In den vergangenen sechs Jahren wurden etwa 400.000 Euro investiert. Doch das reicht bei Weitem nicht. Am Andreas-Gymnasium hat die längst überfällige Bestandsaufnahme noch nicht einmal begonnen, wie in vielen anderen Berliner Schulen auch. Birgit Strohmeyer hat das Versprechen der zuständigen Behörden, dass es bald losgehen soll, mehr aber auch nicht. Über vier Millionen sind vorgesehen für neue Fenster, eine neue Fassade und befestigte Schulhöfe.
Berlin-Weißensee: Die Proteste an den Schulen weiten sich aus. Nach dem geplanten Lehrerstreik am 12. April 2000 wollen die Schüler zu einem großen Sternmarsch im Mai aufrufen. Andere hoffen, dass ihre marode Schule wenigstens teilweise saniert wird.
Marodes Schulgebäude in Berlin-Weißensee© picture alliance / dpa / Berlin Picture Gate
Tag der offenen Tür, ein frostiger Samstagvormittag. In den Gängen verteilen Schüler Flyer. In den Fluren stehen Tische mit selbstgebackenem Kuchen. Der Gewinn geht an die Kindernothilfe. Jede Stunde gibt die Schulleiterin in der Aula eine Einführung, in den Klassenräumen wird Theater gespielt und musiziert.
Ein junger Musiklehrer gibt den Takt vor. Melissa, 13 Jahre alt und Marion, zwölf Jahre alt, bemühen sich, den Rhythmus zu halten. Wir brauchen dringend mehr Räume für Musik, sagt Sebastian Burton in einer Trommelpause. Er ist einer von vielen jungen Lehrern, die neu an der Schule sind:
"Wenn man so guckt, es sind diverse Sachen schon saniert worden, also, ich glaube, ich habe die ganz schlimmen Zustände nicht kennengelernt. Kann durchaus noch schlimmer gewesen sein. Ich finde, es ist ein total nettes Kollegium, eine sehr aufgeschlossene Schülerschaft und es macht einfach Spaß."

Hauptsache, die Lehrer sind nett

Auch Melissa und Marion haben nicht viel an ihrer Schule auszusetzen:
"Also mir gefällt, dass die Lehrer nett sind und der Schulhof gefällt mir nicht so. Also mich stört der äußere Bereich, dass es nicht so bunt ist, dass es so gräulich ist, das ist halt langweilig. Aber sonst gefällt mir auch alles."
Nicht nur Schüler, auch die Elternvertreter haben am Tag der offenen Tür einen eigenen Stand. Johannes Schwarz, dessen Tochter die zehnte Klasse besucht, ist mit den Baumängeln der Schule bestens vertraut. Er sitzt in einem Klassenzimmer zwischen selbstgebackenen Kuchen und Kaffeekannen. Ohne den Druck der Eltern, meint er, wäre der Sportplatz heute noch eine leere Staubwüste. So hängt zumindest ein Basketballkorb.
Johannes Schwarz ist skeptisch. Seit Jahren beobachtet er, wie Senat und Bezirk sich gegenseitig verantwortlich machen:
"Ein grundlegendes Problem bei uns im Bezirk war, das kann ich von der Sanierung des Sportplatzes sagen, dass es kein Personal gab. Es gab zwar Mittel, die frei gestellt wurden, aber es gab kein Personal in den Bauämtern. Unser Antrag für den Sportplatz lag tatsächlich ein Jahr einfach da, weil ein großer Krankenstand im Bauamt war und eine Begehung nicht stattfand. Die Antwort war, der Sportplatz wird geschlossen."

Nur öffentlicher Druck hilft

Immer wieder Druck machen und Missstände öffentlich anprangern. Nur das hilft, so hat es Johannes Schwarz als Elternvertreter in den vergangenen Jahren erlebt. Er ist optimistisch, dass die Sanierung im nächsten Jahr endlich beginnt. Seine eigene Tochter wird die Schule in zwei Jahren verlassen:
"Wenn meine Tochter Abitur macht, wird hier vielleicht angefangen mit Bauen."
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