Markus Stenz dirigiert Mahlers 10. Sinfonie

Letzte Worte

Blick in das Gewandhaus Leipzig auf das Gewandhausorchester, das am 11.03.2015 zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse spielt.
Das Gewandhausorchester in seinem Leipziger Saal © dpa / picture alliance / Hendrik Schmidt
12.02.2016
Für den erkrankten scheidenden Chefdirigenten Riccardo Chailly ist kurzfristig Markus Stenz eingesprungen. Er übernahm den singulären Programmpunkt, die 10. Sinfonie Gustav Mahlers in der ergänzten Fassung von D. Cooke.
In Riccardo Chaillys zehnjähriger Amtszeit als Gewandhauskapellmeister spielten die Sinfonien Gustav Mahlers immer eine große Rolle. Nun wollte er die letzten Monate in Leipzig mit einer Aufführung der zehnten Sinfonie einleiten. Eine akute Erkrankung hat das verhindert, doch Chaillys Kollege Markus Stenz konnte auf die Schnelle gewonnen werden, alle drei Abende in der ersten Februarwoche zu übernehmen.
Stenz ist seit 2012 Chefdirigent des Radio Filharmonisch Orkest (RFO) in Hilversum und ab der Spielzeit 2015/16 Erster Gastdirigent des Baltimore Symphony Orchestra (BSO). Davor war er elf Jahre Kölner GMD, also Chef des Gürzenich-Orchesters. Dieses Orchester hat als Uraufführungsorchester von Mahlers Fünfter Sinfonie eine ebensolch starke Mahlertradition wie das Concertgebouworkest Amsterdam, dem Riccardo Chailly vor seiner Zeit in Leipzig lange Jahre als Chefdirigent verbunden war.
Im Gegensatz zu etlichen anderen Mahler-Koryphäen haben weder Chailly noch Stenz eine Scheu vor dessen unvollendeter Zehnter Sinfonie. Mahler hatte sie im Sommer 1910 konzipiert, mitten in einer schweren Ehekrise. Die Auseinandersetzung mit seiner Frau Alma ist in diesem Fragment auf vielen Skizzenblättern zu finden; verzweifelte Kritzeleien des Todgeweihten ("Ach! Ach! Ach! / Leb' wol mein Saitenspiel!") stehen dort ebenso wie musikalische Chiffren, die von Musikwissenschaftlern auf Alma Mahler bezogen werden konnten.
Als Mahler im Mai 1911 starb, lag keiner der fünf geplanten Sätze in Reinschrift vor; die Herausgeber der Gesamtausgabe konnten nur die Skizzen zum einleitenden Adagio mit mäßig gutem Gewissen für die musikalische Praxis entziffern. Arnold Schönberg und Anton Webern lehnten eine Fertigstellung des Fragments ab, um die sie Mahlers Witwe gebeten hatte. Diese rätselhafte Hinterlassenschaft führte der britische Musikologe Deryck Cooke Jahrzehnte später in einer ambitionierten "performing version" aller fünf Sätze zusammen. Die Musikwelt ist seitdem gespalten: Ist es legitim, Mahlers letzte Visionen fortzuschreiben? Reicht das Material tatsächlich für eine nahezu abendfüllende Sinfonie aus? Auf die Antworten von Markus Stenz und des Gewandhausorchesters kann man gespannt sein.
Gewandhaus Leipzig
Aufzeichnung vom 4. Februar 2016
Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 10 Fis-Dur
(Aufführungsfassung von Deryck Cooke)
Gewandhausorchester Leipzig
Leitung: Markus Stenz
anschließend:
"...als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könnte, was wir noch nicht wissen sollen..."
Olaf Wilhelmer im Gespräch mit Jens Malte Fischer