Mark Terkessidis über den deutschen Kolonialismus

Demokratie braucht die Erinnerung der Vielen – und den Streit!

29:26 Minuten
Unter Aufsicht eines deutschen Kolonisten verladen Arbeiter 1914 in Kamerun Kakaobohnen.
Unter Aufsicht eines deutschen Kolonisten verladen Arbeiter 1914 in Kamerun Kakaobohnen. © picture alliance/dpa/akg-images
Moderation: Susanne Führer · 14.09.2019
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Migration hat aus Deutschland eine „Gesellschaft der Vielheit“ gemacht, sagt der Publizist Mark Terkessidis. Das hat Folgen für die Erinnerungskultur: Endlich wird über die deutsche Kolonialzeit und ihre Auswirkungen in der Gegenwart gesprochen.
Zum ersten Mal steht "die Aufarbeitung des Kolonialismus" als Auftrag im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Nicht nur Museumsleute diskutieren über koloniale Raubkunst und die Frage, wie mit ihr umzugehen sei. Die Staatsministerinnen Monika Grütters und Michelle Müntefering meinen, "es gilt aus der Falle der eurozentrischen Perspektive herauszukommen".
Beispiele für die aktuelle Debatte über die deutsche Kolonialgeschichte, die "der beharrlichen Arbeit der postkolonialen Initiativen zu verdanken" sei, meint der Publizist Mark Terkessidis, der soeben das Buch "Wessen Erinnerung zählt?" veröffentlicht hat. Diese Initiativen seien auch getragen von People of Colour, das heißt von Nachfahren von Menschen afrikanischer Herkunft aus einem kolonialen Kontext.
Aufgrund der Migration sei Deutschland inzwischen eine "Gesellschaft der Vielheit" und zu der gehöre eine multiperspektivische Erinnerungskultur.
"Das Multiperspektivische beinhaltet Streit. Ich kann nicht sagen, ich weiß schon, wie das Mahnmal aussehen muss oder ich weiß schon, wie der Lernort aussehen muss. Ich brauche erstmal den Prozess und den Streit, um überhaupt zu wissen, welche Art von kolonialer Geschichte, von Antirassismus an diesem Lernort eigentlich stattfinden soll. Da muss ich einfach mal Leute zusammenbringen und diesen Prozess anstrengen."
Zur Zeit gibt es verschiedene Mahnmale für verschiedene Opfergruppen, "und dann bringen wir noch ein paar Tafeln an. Das ist dann alles abgezirkelt, aber den Streit haben wir nicht. Und den sollten wir haben!"
(sf)

Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandfunk Kultur: Lange Zeit wurde Deutschlands Rolle als Kolonialmacht und deren Folgen hierzulande nur von Spezialisten diskutiert. Das hat sich inzwischen geändert. Der Publizist, Psychologe und Pädagoge Dr. Mark Terkessidis beschäftigt sich seit längerem mit dem Postkolonialismus. Er hat nun ein Buch zum Thema vorgelegt: "Wessen Erinnerung zählt?"
Sie sind Mitte der 60er-Jahre geboren. Was haben Sie eigentlich in bundesdeutschen Schulen über den deutschen Kolonialismus gelernt?
Terkessidis: Das ist eine leicht zu beantwortende Frage: gar nichts. Also, ich kann mich nicht erinnern, dass das überhaupt mal irgendwann eine Rolle gespielt hat.
Deutschlandfunk Kultur: Insgesamt kann man feststellen, ist das Wissen in unserer Generation ziemlich gering. Warum, meinen Sie, ist das so unter den Tisch gefallen?
Terkessidis: Das hat, glaube ich, sehr viele Gründe. Zum einen ist es so, dass Erinnerungspolitik in der Bundesrepublik natürlich wahnsinnig stark von der Erinnerung an die Shoah beherrscht war. Das war ein Verbrechen von so ungeheuerlichem Ausmaß, dass es natürlich notwendig war, sich damit vielleicht auf eine sehr singuläre Art und Weise zu beschäftigen.
Dann war es so, dass die deutschen Kolonien in Afrika, die man im engeren Sinne als Kolonien betrachtete, 1919 verloren gegangen sind. Das klingt komisch, aber sie sind verloren gegangen mit dem Vertrag von Versailles und unter Mandat gestellt worden. Das heißt, die Phase war im Vergleich zu anderen Kolonialreichen relativ früh zu Ende – scheinbar.
Und der dritte Punkt ist, dass 150 Jahre lang polnischsprachige Gebiete zwar Teile von Preußen und dem Deutschen Reich waren, besetzt waren, kolonisiert waren, wenn man so will, aber wir das nicht als Kolonisation bezeichnen; das betrifft den ganzen "Drang nach Osten".
Deutschlandfunk Kultur: Und zwar bis heute.
Terkessidis: Das wird einfach aus diesem Kontext ausgeschlossen, weil es Europa ist und, wie soll ich sagen: Wenn es um Europa geht, dann darf es keine Kolonien geben, was de facto einfach nicht stimmt. Es stimmt auch nicht in Bezug auf andere Landstriche. 50 Jahre hat Zypern zu Großbritannien gehört. Das war auch eine Kolonie.
Deutschlandfunk Kultur: Es gibt ja diese sogenannte Salzwasserthese, wonach immer ein Meer zwischen der Kolonialmacht und den Kolonisierten zu liegen habe, also die geographische Entfernung zählt.
Terkessidis: Das ist die übliche Vorstellung, dass das Meer dazwischen liegt.

Postkoloniale Initiativen haben Druck gemacht

Deutschlandfunk Kultur: Kommen wir zurück zu "kein Thema im Schulunterricht" und heute. Man kann ja feststellen, es tut sich etwas: Zum Beispiel steht zum ersten Mal "die Aufarbeitung des Kolonialismus" ausdrücklich als Auftrag im Koalitionsvertrag; die beiden Staatsministerinnen Monika Grütters für Kultur und Michelle Müntefering für auswärtige Kulturpolitik haben im vergangenen Dezember in der FAZ gemeinsam einen Artikel veröffentlicht. Darin heißt es, Deutschland müsse sich seiner Kolonialgeschichte stellen, eine Rückgabe – es geht um die koloniale Raubkunst - sei erst der Anfang. Und darin findet sich auch der erstaunliche Satz: "Wir meinen: Es gilt aus der Falle der eurozentrischen Perspektive herauszukommen." Also, man kann sagen, die Debatte ist schon ziemlich breit geworden. – Wo sehen Sie die Ursachen?
Terkessidis: Das ist der beharrlichen Arbeit der postantikolonialen Initiativen zu verdanken. In den Städten haben sich seit vielleicht zehn Jahren überall solche postkolonialen Initiativen gebildet. Die kamen nicht aus dem entwicklungspolitischen Kontext, sondern hauptsächlich aus universitären Kontexten, die auch getragen waren von sogenannten "People of Color", also abstammungsmäßig von Personen afrikanischer Herkunft, wenn man das so global sagen kann, die Erfahrung mit Rassismus in der Bundesrepublik gemacht haben.


Auch die persönliche Betroffenheit von einem Wissen, das aus der Kolonialgeschichte stammt, hat dazu geführt, dass man gesagt hat: Es kann ja wohl nicht sein, dass es noch Straßen gibt, die nach sogenannten Kolonialhelden benannt sind. Es kann nicht sein, dass da noch Denkmäler rumstehen, die die Kolonialgeschichte abfeiern. Es kann nicht sein, dass Objekte aus der Kolonialzeit in Museen eingelagert sind, gezeigt werden und man benennt diesen Kontext nicht mit. – Das hat sehr viel Druck erzeugt, erstaunlich viel Druck. Denn dass das im Koalitionsvertrag steht, hat nichts damit zu tun, dass die Regierung plötzlich von sich aus zur Besinnung gekommen ist, sondern mit der beharrlichen Arbeit dieser Initiativen.
Der Publizist Mark Terkessidis
Der Westen habe immer einen Januskopf gehabt, sagt der Publizist Mark Terkessidis: Auf der einen Seite wurde die Demokratie eingeführt, im gleichen Moment sei er in Sklaverei verwickelt gewesen.© die arge lola, Kai Loges + Andreas Langen
Das ist, wie gesagt, ein neuer Ansatz: Wir sind jetzt eine Gesellschaft, in der auch Personen leben, deren Eltern aus – wie auch immer – kolonialen Kontexten stammen, deren Eltern nach Deutschland emigriert sind, deren Großeltern vielleicht schon nach Deutschland emigriert sind und die eine ganz eigene Geschichte mitbringen. Das erweitert den Kontext, in dem diese Dinge diskutiert werden.

Flüchtlingsbewegungen und globale Zusammenhänge

Deutschlandfunk Kultur: Sie sagten, die Initiative käme aus den Universitäten, im Grunde eine Graswurzelbewegung aufgrund der Postcolonial Studies, die es ja seit einigen Jahrzehnten gibt. Möglicherweise mag auch ein Grund die Flüchtlingsbewegung der vergangenen Jahre sein, so dass auch die deutsche Bundesregierung gezwungen war, sich mehr mit den Verhältnissen in Afrika zu beschäftigen und dort etwas näher hinzublicken und es dann vielleicht auch aus diesem Grund in den Fokus zu nehmen.
Terkessidis: Ja. Ich war ein bisschen erstaunt über die Rede, die die Kanzlerin 2015 darüber gehalten hat, warum wir jetzt Geflüchtete aus Syrien aufnehmen müssen. Da meinte sie dann, was man über Syrien im Fernsehen gesehen hätte, wäre immer so weit weg erschienen. Und man hätte immer das Gefühl gehabt, das hat ja nichts mit uns zu tun. Und dann stellt man fest, dass das, was in Aleppo passiert, auch in Essen und in Stuttgart Konsequenzen haben würde. Sie hat sozusagen den Raum nochmal neu definiert, in dem Deutschland agiert, in dem das, was irgendwo passiert, Rückwirkungen auf Deutschland hat, in dem das, was wir tun, Wirkungen irgendwo hat.
Ich war erstaunt über diese Rede, weil ich dachte: Okay, 2015 hat die Kanzlerin praktisch begriffen, was Globalisierung ist. Das ist dann ein bisschen schockierend eigentlich, dass die Leiterin des größten, wirtschaftlich stärksten Landes in Europa das erst 2015 versteht. Aber tatsächlich hat diese sogenannte Flüchtlingskrise massiv etwas ausgelöst, auch im Hinblick darauf, dass man auf solche Dinge nicht vorbereitet ist, dass man die Konflikte, die woanders stattfinden – obwohl Syrien quasi die Grenze Europas ist – einfach nicht zur Kenntnis nimmt, dass man sich in einen globalen Kontext einbetten muss.
Ich glaube, das führt schon zu einem neuen Verständnis dafür, wie man in der Welt steht.
Deutschlandfunk Kultur: Ich sehe meine Rolle nicht als Kanzlerverteidigerin, aber für diesen Fall möchte ich anmerken, dass für eine Rede einer Politikerin andere rhetorische Regeln gelten als an einer Universität. Sie kennen ja den berühmten Satz, man müsse die Menschen mitnehmen.
Terkessidis: Darf ich mal was einwenden? Das Auswärtige Amt hat um die gleiche Zeit herum zum ersten Mal eine Abteilung eingesetzt, die sich damit beschäftigt hat, wie man Konflikte prophylaktisch behandelt, also wie man Konflikte identifiziert und prophylaktisch behandelt. Dafür hat sie Leute gesucht.
Ich habe mal angerufen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und wollte wissen, wie die Zahlen zusammengesetzt sind, auf denen die Schätzung basiert für die Geflüchteten, die nach Deutschland kommen, die das Bundesamt rausgibt. Und es gibt gar kein Modell, nach dem die diese Schätzung machen, das machen die Pi mal Daumen.
Also, ich wäre da nicht so sicher. Ich würde auch sagen, es könnte auch Strategie sein, aber ich befürchte wirklich, dass es das nicht ist. Das heißt nicht, dass Frau Merkel in jeder Beziehung keine Ahnung von dem hat, was sie tut. Das habe ich gar nicht gesagt.

Kolonialgeschichte erzählt von Gewalt und Widerstand

Deutschlandfunk Kultur: Herr Terkessidis, den Punkt können wir jetzt nicht klären. Kommen wir mal wieder zu unserem Ausgangspunkt zurück, zu dem geringen Wissen, was es im Allgemeinen gibt. Ich kann zumindest von den bundesdeutschen Bürgern sprechen, im Schulunterricht in der DDR mag das Thema anders behandelt worden sein. Man kann ja festhalten: Wenn in der Vergangenheit über deutsche Kolonien gesprochen wurde, dann ja meist mit dem Tenor – Sie haben das vorhin auch angedeutet – Deutschland ist erst ganz spät überhaupt zur Kolonialmacht geworden, was an der späten Reichsgründung liegt, und hatte nur ganz wenige Kolonien nur für ganz kurze Zeit. Und außerdem war ja nicht alles schlecht. Das sieht man daran, dass es die Straßen und die Eisenbahnstrecken heute noch gibt. – Das war jetzt Ironie. Ich hoffe, das hat man auch im Radio gehört. – Welches Wissen, welche Erzählung würden Sie dem entgegensetzen?
Terkessidis: Ja, dem kann man nun wirklich sehr viel entgegensetzen. Ganz kurz auf den Punkt mit der DDR zurück: Die DDR hatte zum Beispiel im Gegensatz zur Bundesrepublik eine ganz enorme historische Forschung über den Kolonialismus. Es gab da auch keine Ambivalenzen darüber, wie man den Kolonialismus findet. Das ist alles nach der Wende abgewickelt worden, und diese Leute sind häufig an US-Universitäten gegangen und haben dort zu den Themen weiter geforscht. Das ist eine interessante Geschichte, die wir schon mal verloren haben, denn die hatten ja auch die Archive.
Verlassen und ausgetrocknetes Land beherbergt im Hintergrund eine Hausruine.
Das Bahnhofsgebäude der Bahnstation Garub aus der deutschen Kolonialzeit inmitten der Namibwüste.© imago images/ imagebroker
Was ich dem entgegensetzen würde, ist im Grunde ganz einfach. Es gibt eine massive Gewaltgeschichte des deutschen Kolonialismus. Der Bau von Eisenbahnen und Infrastruktur war ja im Großen und Ganzen nicht etwa durch Humanitätsgründe bedingt, sondern dadurch, dass man Absatzmärkte schaffen wollte und Rohstoffe zurücktransportieren wollte. Das war sehr eigennützig gedacht. Und darüber hinaus basierte die deutsche Kolonialherrschaft häufig auf der fast bewussten Vernichtung jeder traditionellen Lebensverhältnisse dort. Also, man versuchte, die Leute in wie auch immer kapitalistische Arbeitsverhältnisse rein zu zwingen, auch durch Zwangsarbeit, und musste somit die Subsistenz-Landwirtschaft und Viehzucht beenden. Das hat man auch ganz bewusst gemacht.
Von vornherein kann man die deutsche Kolonialherrschaft, zumal in Afrika und in der Südsee, auch erzählen als Geschichte von Widerstand. Es hat massive Aufstände gegeben von Anfang an gegen die doch recht brutale Herrschaft. Das hat nicht nur in Deutsch-Südwest-Afrika zu dem bekannten Völkermord geführt, sondern das hat auch in Deutsch-Ost-Afrika Schätzungen sagen zu zwischen hundertfünfzig- und dreihunderttausend Toten geführt.

Migration führt zu neuen Perspektiven

Deutschlandfunk Kultur: Ich habe das Bild gerade auch sehr grob gezeichnet, denn ich glaube – auch dank der verdienstvollen Arbeit unter anderem von Jürgen Zimmerer – der Völkermord an den Herero und Nama, dazu ist noch ein Gerichtsverfahren anhängig, ist inzwischen weiter in das Bewusstsein gedrungen.
Auf jeden Fall merken wir ja an diesem Punkt, dass die Leitfrage immer ist: Aus wessen Perspektive schreiben wir Geschichte? Ich denke da an Brechts berühmtes Gedicht "Fragen eines lesenden Arbeiters": "Der junge Alexander eroberte Indien. - Er allein? - Cäsar schlug die Gallier. – Hatte er nicht wenigstens einen Koch dabei?" Und eine lesende Arbeiterin würde wohl noch andere Fragen stellen.
Das scheint mir jetzt das Entscheidende zu sein, auch an der neuen Debatte, nicht nur, dass jetzt überhaupt über den deutschen Kolonialismus geredet wird, dass er überhaupt Thema ist, sondern es wird anders darüber geredet. Siehe den vorhin von mir zitierten Artikel der Staatsministerinnen: "Es gilt aus der Falle der eurozentrischen Perspektive herauszukommen." – Diese Bewegung hat doch zumindest begonnen.
Terkessidis: Die hat auf jeden Fall begonnen. Im Grunde war es ja traditionell so, dass in der deutschen Gesellschaft die Perspektive der anderen immer von deutscher Seite aus mitgetragen wurde. Lustigerweise ist das sogar Teil des imperialen Denkens in Deutschland, dass man schon immer besonders einfühlsam gewesen sei bei den eigenen Kolonialversuchen. Weil Deutschland mal Anfang des 19. Jahrhunderts durch Napoleon selbst eine koloniale Episode erlitten hat, hatte man das Gefühl, dass man die unterdrückten Völker dieser Welt, egal, wo sie denn auch immer sind, besonders gut verstehen könnte. Das heißt, auch was Polen betraf, schwankte die deutsche Öffentlichkeit immer so hin und her zwischen einer Begeisterung für die "edlen Polen", besonders dann, wenn sie gegen die russische Herrschaft rebelliert haben, und autoritären Bestrebungen: "Die können nicht alleine. Die haben nur polnische Wirtschaft. Denen müssen wir mit starker Hand zur Seite stehen."
Dieser Moment brachte auch oft antikoloniale Ideen mit sich, nämlich sich mit den anderen zu identifizieren. "Ich erzähle die Geschichte aus der Sicht eines Südseehäuptlings", so Erich Scheuermann in dem berühmten Buch "Papalagi" zum Beispiel, was in den 60er-Jahren eine Renaissance erlebt hat, "und versetze mich dabei in die anderen hinein". Im Grunde produzierte er hauptsächlich Klischees.
Und ab einem gewissen Zeitpunkt haben die anderen natürlich widersprochen. Der antikoloniale Widerstand hat die Perspektiven sehr stark verändert, aber vor allen Dingen die Migration, glaube ich. Es ist vor allem auch die Migration, die die Dinge verändert hat, weil in dem Moment diese Perspektiven in die Gesellschaft selbst mit hineingekommen sind.
Deutschlandfunk Kultur: Also die schiere Anwesenheit von Menschen, die einen anderen Erfahrungsraum haben.
Terkessidis: Ja. Irgendwann stellt man sich natürlich Fragen: Warum werde ich eigentlich auf eine bestimmte Art und Weise behandelt?
Auf die eigene Geschichte geguckt: Mein Vater ist aus Griechenland eingewandert. Als die Griechenlandkrise ausbrach und der griechische Ministerpräsident vor einer sonnigen Insel abgebildet wurde und die Bildzeitung dazu schrieb "Hier bettelt der Grieche um unser Geld" – das ist so ein Moment, wo die Geschichte wieder aufgerufen wird, die Geschichte des bankrotten, nicht lebensfähigen Griechenlands, das sozusagen von deutschem Geld erschlossen werden muss und dem geholfen werden muss. Dann aber schlägt das um in diesen Moment, wo die ja angeblich nur in der Hängematte liegen und unser Geld wollen.
Es gibt eine Kontinuität darin, und in dem Moment, in dem die Herkunft eine gewisse Sensibilität mit sich bringt, beginnt man sich damit zu beschäftigen.
Das gilt vielfach. Ich glaube, dass auch die polnischen Geschichten in Deutschland überhaupt nicht ausbuchstabiert sind aufgrund dieser Geschichte, die immer sehr auf Assimilation gedrängt hat, dass die anderen Geschichten aus dem südeuropäischen Raum noch nicht aufgearbeitet worden sind.

Konkurrenz der Opfergruppen

Deutschlandfunk Kultur: Emilia Smechoswki nennt das "Wir Streber-Migranten".
Kommen wir zu Ihrem Buch zurück, was den Titel trägt: "Wessen Erinnerung zählt?" Wir kennen Erinnerung ja häufig als - Sie nennen das "kompetitive Erinnerung", ich sage es mal weniger vornehm, als eine Opferkonkurrenz. Wir haben Mahnmale für diese und für jene Gruppe, und jetzt kommt eine neue Gruppe. Dann gibt es häufig die Angst, "die verdrängen jetzt unsere Erinnerungen. Die nehmen jetzt mir diesen Status weg".
Ich habe ein ganz blödes Beispiel aus Twitter. Ein Mann hat geschrieben: "Ich habe jetzt diesen Tweet gelöscht, weil ich einen wahnsinnigen Shitstorm von Nazis bekommen habe." Dann bekam er die Antwort: "Wärst du eine schwarze Frau, wäre es alles noch viel schlimmer gewesen."
Terkessidis: Ja. Die kompetitive Erinnerung ist ein nicht unbeträchtliches Problem. Man geht ja immer davon aus, im Antirassismus sind hauptsächlich die Guten tätig. Und jeder, der antirassistische Positionen vertritt, hält sich natürlich für gut. Aber letztendlich sind Antirassisten auch nur Menschen und haben auch ein Interesse daran, den eigenen Machtbereich auszudehnen. Das heißt, man kann daraus auch eine moralische Perspektive stricken, die darauf besteht, dass die eigene Opferperspektive die ist, die alleine gültig ist, und dass die anderen Opferperspektiven darin weniger Gültigkeit haben.
Ich finde, es ist eine problematische Perspektive, sich selbst als ausschließliches Opfer zu definieren und die Privilegien immer nur auf der anderen Seite zu verorten. Wir sind alle ambivalent. Wir haben Opfererfahrungen, wir haben aber auch Tätererfahrungen.
Es ist ein Bereich, der umkämpft ist. Jüdische Historiker haben über Israel geschrieben, dass die israelische Regierung die Erinnerung an den Holocaust instrumentalisiert, um andere Erinnerungen beiseite zu drängen und die als besonders singulär herauszustellen. Und die israelische Regierung hat in ihrer Haltung zu dem Völkermord in Armenien zum Beispiel gezeigt, dass sie durchaus in der Lage ist, sehr kompetitiv zu sein; sie möchte nicht, dass es noch eine andere Geschichte gibt, die damit in Konkurrenz kommt.
Und das ist ja auch durchaus nachvollziehbar. Die handeln auch politisch. Das muss man nicht in jeder Beziehung verurteilen.

Gesellschaft der Vielheit

Deutschlandfunk Kultur: Es ist ja vor allen Dingen so, dass gemeinsame Erinnerungen – wenn wir als eine bestimmte Gruppe feierlich irgendeines Ereignisses gemeinsam gedenken, – so etwas wie Gemeinschaft stiften. Das ist ja durchaus gewollt. Insofern ist die Antwort: Ja, wir haben eine "Gesellschaft der Vielheit" – Sie nennen das so, weil Sie die "Vielfalt", glaube ich, überstrapaziert finden – und sagen: Gut, ihr alle habt Erinnerungen, da machen wir eben eine multiperspektivische Erinnerungskultur, – das ist vielleicht auch nicht die Antwort, oder?
Terkessidis: Doch, finde ich schon. Kurz zu dem Begriff "Vielfalt". Mir hängt dieser Begriff so ein bisschen zum Hals raus, weil, es gibt immer diesen Moment, wo "die Guten" zu den Leute sagen, die gegen Einwanderung sind: "Ja, aber die Vielfalt, das ist doch die totale Bereicherung für uns." Und dann heißt es in der interkulturellen Woche wieder "Vielfalt ist das Beste gegen Einfalt" und ähnliches.
Wenn jetzt neben mir 500 Leute in die zentrale Unterbringung für Geflüchtete einziehen, dann muss ich den Leuten doch nicht sagen, "das ist eine echte Bereicherung für dich". Das ist manchmal auch wirklich eine Belastung.
Wichtig ist, diese Gesellschaft ist so mittlerweile, diese Gesellschaft ist eine Vielheit. Dieser Begriff ist auch philosophisch gesehen stärker. Es steckt auch ein bisschen dahinter zu sagen: Ich will gar nicht zu diesem Einheitsbrei zurück. Ich will gar nicht zu diesem Moment zurück, wo wir denken, wir könnten harmonisch, freundlich alle in einer kuhäugigen, monoethnischen Gesellschaft leben. Das wird nicht mehr der Fall sein.
Deutschlandfunk Kultur: Also: multiperspektivische Erinnerungskultur.
Terkessidis: Das Multiperspektivische beinhaltet Streit. Ich kann nicht sagen, ich weiß schon, wie das Mahnmal aussehen muss oder ich weiß schon, wie der Lernort aussehen muss. Aber scheinbar scheint man das ja immer schon zu wissen. Das heißt, ich brauche erstmal den Prozess und den Streit, um überhaupt zu wissen, welche Art von kolonialer Geschichte, von Antirassismus an diesem Lernort eigentlich stattfinden soll. Da muss ich einfach mal Leute zusammenbringen und diesen Prozess anstrengen.
Und das ist interessant. Momentan zirkeln wir diese Erinnerungen einfach nur ab. Es gibt das Mahnmal für den Holocaust, und dann gibt es das Mahnmal für den Kolonialismus, und dann gibt es das Mahnmal für die vergessenen Opfer des Nationalsozialismus. Und dann bringen wir noch ein paar Tafeln an. Das ist dann alles abgezirkelt, aber den Streit haben wir nicht. – Und den sollten wir haben!

Verantwortung übernehmen

Deutschlandfunk Kultur: Es gibt ja Beispiele, da gibt es den Streit, rund um die Museen, rund ums Humboldt-Forum, wo es um die koloniale Raubkunst geht. Oder es gibt auch Streit um die Frage, wie weit die Kolonialzeit dazu führt, dass wir heute Verantwortung tragen beispielsweise für die Menschen aus Afrika, die versuchen zu uns zu kommen.
Sind wir moralisch verpflichtet sie aufzunehmen? Das meint zum Beispiel die Kapitänin Carola Rakete. Wie weit würden Sie gehen?
Terkessidis: Ich argumentiere im Großen und Ganzen nicht so moralisch. Moral ist immer so eine Sache in der Politik. Wofür ich auf jeden Fall argumentieren würde, ist, global gesehen so was zu identifizieren wie das, was Edward Said mal als "sich überschneidende Territorien" bezeichnet hat. Das heißt: Wenn aus afrikanischen Ländern Kamerun ganz oben steht auf der Liste der Länder, aus denen Geflüchtete kommen, dann muss ich erkennen, es gibt ein sich überschneidendes Territorium mit Kamerun, weil das mal eine deutsche Kolonie war. Es ist nicht so, als würden Konflikte aus Kamerun nach Deutschland exportiert, die wir nicht vorher nach Kamerun importiert haben.
Ich kann das mit ganz vielen Ländern aufmachen, mit Syrien zum Beispiel auch. Das ist so ein Terrain, auf dem die Verhandlungen stattfinden müssen. Ich weiß gar nicht genau, ob ich das als moralische Perspektive formulieren kann, aber es gibt schon eine historische Verantwortung, die man wahrnehmen kann, die man auch einfordern kann. Aber primär basiert es darauf, Politik als Raum zu definieren, der nicht hier im Container stattfindet, sondern der von vornherein transnational stattfindet und in dem ich einen Konflikt in Syrien oder Kamerun nicht als etwas sehe, was weit weg stattfindet, sondern auch als Teil einer Geschichte, in die wir verwickelt sind.
Deutschlandfunk Kultur: Teil einer Geschichte, in die wir verwickelt sind, ist dann aber etwas anderes, als wenn ich sage, es gibt so etwas wie eine Kollektivschuld. Weil Deutschland dort vor soundso vielen Jahren das und das getan hat, ist es heute verpflichtet …
Terkessidis: … Kollektivschuld ist auch wieder so ein moralischer Begriff. Was ist Kollektivschuld? Sind die Personen, die jetzt aufwachsen, noch schuldig in Bezug auf die Shoah? Deren Vorfahren haben möglicherweise irgendwann mal was getan …
Deutschlandfunk Kultur: ... Verbrechen begangen …
Terkessidis: … Verbrechen begangen, darüber kann ja kein Zweifel bestehen. Und diese Personen haben davon historisch profitiert. Wenn die Kapitaldecke deutscher Unternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg zwanzig Prozent höher war als vorher, dann muss man sagen: Es gibt einen Profit. Man profitiert auch davon, an einem bestimmten Ort aufzuwachsen. Man profitiert davon, die guten Jobs überhaupt im Angebot zu haben, die entsprechenden gesellschaftlichen Positionen usw. Darüber kann überhaupt kein Zweifel bestehen. – Aber Schuld? Von Schuld kann eigentlich keine Rede sein.
Selbst bei der 68er-Generation, die überhaupt erstmal die Erinnerungspolitik angestoßen und gesagt hat, "ihr müsst darüber reden, dass ihr mal Nazis gewesen seid", war von Schuld keine Rede. Die waren alle nach dem Krieg auf die Welt gekommen. Aber sie haben diese Verantwortung angenommen. Und Verantwortung finde ich einen viel besseren Begriff in dem Zusammenhang.

Schlechtes Gewissen hilft nicht weiter

Deutschlandfunk Kultur: Weil Schuldgefühle auch eine schwierige Angelegenheit sind, die können schnell in Aggression umschlagen.
Terkessidis: Ja. Ich plädiere auch immer dafür, strukturell etwas zu ändern. Um noch mal auf die Politik gegenüber Geflüchteten zurückzukommen: Wenn ich von historischer Verantwortung spreche, dann würde ich einen transparenten Rahmen schaffen, in dem Leute nach Deutschland kommen können, wenn sie auf der Flucht sind, und würde diesen transparenten Rahmen so gestalten, dass Leute dann auch rechtlich hier bleiben können usw. usw.
Wie dieser Rahmen genauer aussieht, darüber müsste man verhandeln. Aber wir wehren uns ja im Großen und Ganzen dagegen, überhaupt so eine Transparenz herzustellen. Wir handeln spontan, Krise, dann holen wir, dann machen wieder zu, usw. Das wäre die Idee der Verantwortung, strukturelle Probleme auf die Tagesordnung zu setzen.
Schlechtes Gewissen? Ich weiß nicht, ob das ein guter Ratgeber ist. Dann hat man ein schlechtes Gewissen und denkt, "oh Gott, ich habe so viele Privilegien". Und dann versucht man sich in seinem Alltagsleben ordentlich zu benehmen und achtet auf die richtige Sprachregelung, aber möchte nicht, dass das eigene Kind in Neukölln auf die Schule kommt mit den vielen Kindern mit Migrationshintergrund. Da guckt man dann lieber, dass man eine Schule hat mit zehn Prozent Kindern mit Migrationshintergrund, aber dass die politischen Sprachregelungen dort korrekt sind. Also, die individuellen Lösungen mit schlechtem Gewissen passen mir nicht so.
Und man hat ja auch gesehen, als während der Flüchtlingskrise das in Köln passierte …
Deutschlandfunk Kultur: … die Silvesternacht ...
Terkessidis: ... dass diese moralische Perspektive komplett umschlug.
Deutschlandfunk Kultur: "Jetzt haben die uns aber enttäuscht!"
Terkessidis: Genau. Es waren "die" überhaupt nicht, das wissen wir ja auch, aber viele dachten: Die Leute, denen wir doch immer helfen wollten, die müssen moralisch unambivalent sein. Und wenn die mal was machen, wenn die menschlich, allzu menschlich sind, dann kriegt man plötzlich schlechte Laune.

Wessen Erinnerung zählt?

Deutschlandfunk Kultur: Dann kommen wir mal zurück zu dem Streit, den Sie ja so hoch halten, Herr Terkessidis. Was sollte denn dabei herauskommen? Sie haben vorhin die verschiedenen Mahnmale genannt. Einen Gedenkort für die kolonialen Verbrechen gibt es ja noch nicht, das ist jetzt der neueste heiße Scheiß, angeregt von den Staatsministerinnen. Ich glaube, Sie haben die Befürchtung, dann wird so ein Gedenkort eingerichtet und damit ist es dann gut. "Tut uns leid, war nicht so gemeint." Oder: "War so gemeint damals, aber tut uns heute leid." – Und dann ist wieder Ruhe im Karton.
Aber wie stellen Sie sich denn vor, was sich aus diesem Streit an positiver Perspektive ergeben könnte?
Terkessidis: Na ja, das Buch heißt ja nicht umsonst "Wessen Erinnerung zählt?". Es formuliert erstmal eine Frage. Der erste Schritt wäre, die ganze Kolonialgeschichte überhaupt anzuerkennen.
Deutschlandfunk Kultur: Also Wissen erst einmal.
Terkessidis: Ja. Wir haben jetzt die Kolonien in Afrika mit auf der Agenda, aber die imperiale Geschichte in Bezug auf Ost-, Südost-Europa, Westasien usw. spielt im Großen und Ganzen immer noch keine Rolle. Ich plädiere dafür, was Aufklärung betrifft, bestimmte Dinge kreativer zusammenzudenken, als man das bislang getan hat.
Der zweite Punkt ist: Wie soll denn Erinnerung aussehen? Dieser Streit kommt schon dann, wenn Initiativen in Bezirken oder in kleineren Städten kommunal versuchen, Erinnerungsarbeit zu betreiben. Dann geht es immer darum, das in Stein zu meißeln. Aber ist das sinnvoll?
Deutschlandfunk Kultur: Straßenumbenennungen.
Terkessidis: Ja, und auch Erinnerungstafeln für bestimmte Personen, die mal irgendwo gelebt haben, Erinnerungstafeln, die auf bestimmte historische Ereignisse aufmerksam machen usw. Wer sieht das? Für wen ist das? Ist das für uns oder für wen ist das? Und haben wir damit die Debatte beendet?
Ich fand die Bemerkung von James E. Young interessant, der Erinnerungsstudien über das Holocaust-Mahnmal betreibt. Der meinte, gerade diese penible, quälende Debatte, die wir darüber geführt haben, sei das eigentlich interessante Ergebnis dieses Mahnmals gewesen. – Das finde ich gar nicht so schlecht. Wo führen wir diese Debatte? Wie können wir diese Debatte erst einmal darüber führen, wessen Erinnerung zählt und welche Erinnerung wir eigentlich brauchen?
Ich will das gar nicht dekretieren. Wofür ich mich interessiere, ist, wie Schulen das machen. Wie sieht Geschichtsunterricht in der Schule aus? Ist es, wenn wir über den Holocaust reden, sinnvoll, die Debatte über Erinnerung darauf zu beschränken, dass Kinder mit Migrationshintergrund sich auch zum Holocaust verhalten müssen? Oder müssen wir nicht das ganze Feld viel weiter fassen und sagen: Wenn wir über das Mittelalter reden, worüber reden wir da eigentlich genau? Ist es nicht die Perspektive der Kreuzzüge, die wir dann einnehmen, möglicherweise, oder eine eurozentrische Perspektive? Müssten wir nicht die anderen Perspektiven mit reinnehmen?
Ich will da gar nicht in Klischees verfallen. Ich möchte, dass die Kinder da etwas lernen, dass sie möglicherweise auch ihre Eltern, ihre eigene Geschichte befragen.

Streiten für die Demokratie

Deutschlandfunk Kultur: Sie loben den Streit und sprechen von einer "demokratischen Erinnerungskultur". Ist damit dasselbe gemeint?
Terkessidis: Die demokratische Erinnerungskultur ist natürlich eine, die immer auf die Vertiefung der Demokratie hinzielen sollte. Der Westen hatte immer einen Januskopf: Er hat auf der einen Seite die Demokratie überhaupt erst eingeführt, auf der anderen Seite war das aber der gleiche Moment, in dem der Westen verwickelt war in Sklaverei und Kolonialismus. Es gab immer ein Feld hier, auf dem man für die eigenen Bürger was tut. Und es gab immer einen Schauplatz noch woanders.
Deutschlandfunk Kultur: Die dunkle Seite der Aufklärung, die Rückseite der Aufklärung ist die "wissenschaftliche" Erfindung des Rassismus.
Terkessidis: Ja, aber auch die Praxis, die Praxis der Sklaverei, die Praxis des Kolonialismus.
Deutschlandfunk Kultur: Ich möchte nochmal zum Punkt "demokratische Erinnerungskultur". Dass nicht nur die Erinnerungen der weißen Feldherren zählen - also Caesar als Beispiel im Gedicht von Brecht –, darüber sind wir uns einig. Demokratische Erinnerungskultur, multiperspektivische Erinnerung klingt schön. Trotzdem glaube ich, muss es doch auch einen Punkt geben, wo nicht nur die Verschiedenheit der Perspektiven betont wird, sondern wo irgendwann auch die Gemeinsamkeit gesehen wird. Oder?
Terkessidis: Ja, aber die Gemeinsamkeit ist ja gerade der demokratische Rahmen. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass wir die Demokratie in der Bundesrepublik verstärken wollen. Das ist das gemeinsame Ziel überhaupt jeder Erinnerungsarbeit, die wir machen.
Wenn wir uns an den Holocaust erinnern, dann beschäftigen wir uns mit diesem Teil der deutschen Geschichte, um den Wert der Demokratie darin zu erkennen. Das heißt, wenn wir uns mit dem Kolonialismus beschäftigen, dann ist das genau der Moment, um sich mit der dunklen Seite, mit der anderen Seite der Demokratie zu befassen – oder auch der jeweiligen Diktaturen oder so –, mit dieser anderen Seite in unserer eigenen Geschichte zu befassen, um daraus den Schluss zu ziehen, unsere Demokratie zu stärken, zu begrüßen, wertzuschätzen und weiterzuentwickeln. Ich finde nicht, dass das nicht zu einem gemeinsamen Rahmen führt. Das ist, glaube ich, der relevante Moment daran. Und diesen Prozess muss es geben.
Deutschlandfunk Kultur: Und in diesem Sinne: Es lebe der Streit!
Terkessidis: Es lebe der Streit, ja.
Deutschlandfunk Kultur: Danke, Herr Terkessidis, für das Gespräch.
Terkessidis: Ich danke Ihnen auch.

Mark Terkessidis, Jahrgang 1966, ist Publizist, Psychologe und promovierter Pädagoge. Er hat sich mit Migration, Rassismus und (Post-)Kolonialismus befasst. Zuletzt veröffentlicht: "Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute", Hoffmann und Campe, 224 Seiten, 22, Euro

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