Marion Messina: "Fehlstart"

Schneller Sex geht immer

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Das Bild zeigt das Cover des neuen Romans von Marion Messina. Dieser heißt "Fehlstart".
Marion Messina schreibt mit vitaler Überzeugungskraft, urteilt unsere Kritikerin. © Hanser Verlag / Deutschlandradio
Von Meike Feßmann · 30.01.2020
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Marion Messina hat mit "Fehlstart" eine fulminante Coming-of-Age-Geschichte weiblicher Sexualität geschrieben - dringlich und vehement. In Frankreich wird die Autorin mit Houellebecq verglichen. Vollkommen zurecht.
In Frankreich wurde sie mit Michel Houellebecq verglichen - und in der Tat, da ist was dran. Nicht nur, was die Themen betrifft, sondern vor allem mit Blick auf den Stil. Marion Messina verfügt über den selbstsicheren Sound einer mit soziologischem Röntgenblick ausgestatteten Schriftstellerin.
Ihre Figuren wirken, als könnten sie einem jederzeit auf der Straße begegnen, und sind zugleich soziale Archetypen. "Faux départ", ihr 2017 erschienener Debütroman, liegt nun in der tonstarken Übersetzung von Claudia Steinitz auf Deutsch vor - die "Ausweitung der Kampfzone" einer neuen Generation.
Zwei junge Menschen stehen im Zentrum dieser leidenschaftlichen Versuchsanordnung. Aurélie, wie die Autorin 1990 in Grenoble geboren, hat sich fleißig durchs Abitur gekämpft, um zu studieren und später ihren Traum vom Eigenheim oder einem Loft zu verwirklichen. Sie hat Jura gewählt, um ihre Eltern zu beruhigen, der Vater ist Arbeiter, die Mutter verbeamtete Putzkraft.
Wäre Aurélie ihren Neigungen gefolgt, wäre es eher ein Literaturstudium geworden. Sie fühlt sich deplatziert im Hörsaal, in dem die "Bürgerkinder" überwiegen, ausgesetzt, einsam und unsichtbar. Schneller Sex geht natürlich immer, aber das ist nicht das, was sie sucht.

Unbezahlbare Wohnungen, prekäre Jobs

Ihr Stipendium ist knapp bemessen, bei einem Putzjob lernt sie Alejandro kennen. In Kolumbien gehörte er zur oberen Mittelschicht, als Student in Europa geht es ihm nicht besser als ihr.
Während sie sich von ihrer sozialen Schicht entfremdet, spürt er die Kluft zu seinem Heimatland. In Frankreich gehört er nicht dazu. Immerhin fällt es ihm leicht, aus seinem Latino-Image sexuelles Kapital zu schlagen.
So sagt er der schwerverliebten Aurélie gleich am Anfang, sie solle die Liebesnächte nicht mit einer Beziehung verwechseln. Er brauche seine Freiheit. Als er nach Lyon zieht, wagt sie den Neustart in Paris. Doch dort ist alles noch schlimmer. Unbezahlbare Wohnungen, prekäre Jobs, schließlich kriecht sie bei einem Mann in mittleren Jahren unter.

Asymmetrie der Geschlechter

Marion Messina schreibt mit vitaler Überzeugungskraft. Ihr Roman hat eine Dringlichkeit und Vehemenz, die selten ist. Die Autorin hat sichtlich nicht nur die großen Schriftsteller gelesen, die sie lässig herbeizitiert, von Borges über Cortázar bis zu Céline.
Sie kennt gewiss auch Annie Ernaux und Didier Eribon. Und vor allem scheint sie die Bücher der Soziologin Eva Illouz inhaliert zu haben. Dass die Befreiung der Sexualität vor allem den Männern nützt und zur Asymmetrie der Geschlechter auf dem Heirats- und Beziehungsmarkt führt, ist eine ihrer starken Thesen.
Als Houellebecqs erster Roman 1994 erschien, steckte die Pornographisierung der Gesellschaft noch in den Anfängen. Inzwischen wuchs eine ganze Generation junger Männer mit dem Bild der Frau als willigem Sexualobjekt auf, dem man ins Gesicht ejakulieren und in den "Arsch ficken" kann.
Unter dem Deckmantel eines vermeintlich größeren Projekts, der Entlarvung des "Mythos der Chancengleichheit", ist "Fehlstart" auch eine fulminante Coming-of-Age-Geschichte weiblicher Sexualität. Sie endet mit der ersten Abtreibung der Zwanzigjährigen.

Marion Messina: Fehlstart
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Hanser Verlag, München 2020
166 Seiten, 18 Euro

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