Marienerscheinungen

"Eine wirklich kreative kulturelle Leistung"

Pilger laufen auf dem Kreuzweg im Härtelwald der Saar-Gemeinde Marpingen. Jedes Jahr reisen rund 60 000 Gläubige hierher, um an dem Marien-Erscheinungsort zur Muttergottes zu beten.
So etwas wie das deutsche Lourdes: Marpingen im Saarland. 60.000 Gläubige kommen Jahr für Jahr hierher. © dpa / picture alliance / Oliver Dietze
Monique Scheer im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 07.05.2017
Die Kulturwissenschaftlerin Monique Scheer beschäftigt sich mit Marienerscheinungen. Und sie hat festgestellt: Besonders in schweren Zeiten zeigt sich die "Mutter Gottes" besonders häufig. Die Erscheinungen zeigen dabei ein bestimmtes Muster - bis heute.
Kirsten Dietrich: Um Maria und Marienfrömmigkeit geht es heute hier in "Religionen". Vom portugiesischen Fatima haben wir gerade gehört, und Fatima steht in einer Reihe mit anderen Orten, an denen Maria den Gläubigen erschien: Lourdes und La Salette in Frankreich, Beauraing und Banneux in Belgien – aber auch zum Beispiel in Kibeho im ostafrikanischen Ruanda. Und das sind nur einige der auch von der katholischen Kirche anerkannten Orte. Daneben gibt es Erscheinungen, die große Mengen von Gläubigen bewegt haben, aber die nicht offiziell als übernatürlich anerkannt sind. Marpingen und Heroldsbach in Deutschland zum Beispiel, oder bis in die heutige Zeit Medjugorje in Bosnien-Herzegowina. Was macht diese Begegnungen mit Maria, der Mutter Gottes, so faszinierend? Und was sind ihre verbindenden Elemente? Darüber habe ich mit Monique Scheer gesprochen. Sie ist Kulturhistorikerin und Ethnologin an der Universität Tübingen und sie hat zu Marienfrömmigkeit geforscht. Ich wollte von ihr wissen, was sie als Ethnologin an Marienerscheinungen fasziniert.
Monique Scheer: Als Kulturwissenschaftlerin lese ich Marienerscheinungen in erster Linie als Indiz für breitere Stimmungen und Befindlichkeiten in der Bevölkerung oder in einem Teil der Gesellschaft. Deshalb ist der Kontext, in dem diese Erscheinungen passieren, immer sehr wichtig, der historische Kontext. Es ist auch eine Frage, wann Marienerscheinungen überhaupt bekannt werden. Prinzipiell passiert an jedem Tag eine Marienerscheinung irgendwo auf der Welt. Jeden Tag hat irgendjemand mal eine Vision von der Mutter Gottes oder anderer himmlischer Wesen. Die Frage ist, wer hört darauf? Es wird dann interessant, wenn Menschen das wissen wollen und mehr wissen wollen und anderen Menschen davon erzählen und eine Bewegung sich entwickelt wie im Falle von Fatima und anderen Erscheinungen, die im 19. und 20. Jahrhundert passiert sind. Wenn das passiert, dann ist irgendwas los in der Gesellschaft, und diese Erscheinung antwortet darauf, und dann wird es für die Kulturwissenschaft interessant.
Dietrich: Das heißt, es ist kein Zufall, dass Maria diesen Hirtenkindern in Fatima zum ersten Mal 1917 erschienen, mitten im Ersten Weltkrieg. Portugal ist ein Jahr zuvor in den Krieg mit hineingezogen worden.
Scheer: So ist es, ja. Man muss sich das so vorstellen, dass auch da auf dem Land – diese Erscheinungen passieren ja meistens in ländlichen Gebieten –, die Männer abgezogen worden sind oder gegangen sind zu dieser Front, die ganz weit weg war. Die Leute wussten nicht so genau, wie weit weg das ist und wie lange sie wegbleiben werden und wann sie zurückkommen und was da passiert. Und in dieser Situation ist es ja nicht überraschend, wenn dann Kinder von ihrem Tag draußen auf der Wiese mit den Schafen und Ziegen zurückkommen und sagen, wir hatten heute Besuch von einer Frau aus dem Himmel. Dann wollten sie hören, was diese Person vielleicht weiß darüber. Man kann es in den Protokollen der ersten Befragungen der Mädchen - und da war auch ein Junge dabei - lesen, dass da viele Fragen und Antworten um die Thematik des Krieges kreisten, gerade in den ersten Tagen.

An die starke Jungfrau gewandt

Dietrich: Welche Funktion hat diese Marienerscheinung dann? Ist das eine tröstliche Geschichte, dass Maria, dass offenkundig da himmlische Erscheinungen, eine himmlische Kapazität mit in dieses Kriegsgeschehen involviert ist? Ist das der Grund, warum das dann so weite Kreise zieht?
Scheer: Ich habe das auf zweierlei Art gelesen: Einerseits ist es sicherlich ein Trost, aber man hat Maria angesprochen als Schutzheilige. Das ist vielleicht auch miteinander verwoben, weil wenn man das Gefühl hat, man wird beschützt im Himmel, dann spendet das auch Trost ein Stück weit. Aber es war nicht so, wie ich erwartet habe, als ich angefangen habe, mich damit zu beschäftigen, dass Leute zu Maria hingehen mit Trauergefühlen, weil sie Angehörige verloren haben im Krieg. Im Gegenteil, die Marienerscheinungen passierten dann auch später im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder in Zeiten, in denen man eine Bedrohung empfunden hat und Schutz gebraucht hat. Und da wandte man sich an diese starke Jungfrau, nicht so sehr an die leidende Mutter, sondern an die starke Jungfrau, die auch in früheren Kriegszeiten, bis zurück ins 17. Jahrhundert, immer wieder für die katholische Bevölkerung da gewesen ist.
Dietrich: Spielt damit dann auch zusammen, dass die Marienbotschaften, also was dann wirklich offenbart wird, wenn man es genau betrachtet, eher sehr traditionell, sehr konservativ und auch wenig emotional berührend sind? Das sind ja oft so Botschaften: Bleibt im Gebet, bleibt in der Kirche, haltet euch an das Überlieferte.
Scheer: Da muss man unterscheiden zwischen den Botschaften, die dann letzten Endes veröffentlicht werden, und den Botschaften, die verhandelt werden während des Ereignisses. Viele Marienerscheinungen werden ja nicht von der Kirche anerkannt. Diese Protokolle bleiben dann im Archiv. Die Erzählungen, was da passiert ist, diese Dinge werden nicht veröffentlicht, zumindest nicht offiziell. Und wenn man in diese apokryphen Schriften reinschaut, dann kommen ganz andere Themen zum Vorschein, die nicht so ganz banal klingen, wie das, was dann bei einer genehmigten, einer von der Kirche anerkannten Erscheinung dann rüberkommt. Da läuft es dann schon sehr nach dem Schema, geht brav in die Kirche, also die Institution Kirche wird gestützt, und es ist klar, dass Maria nichts verkünden darf, was der offiziellen Offenbarung, der biblischen Offenbarung widerspricht. Da wird schon auch geglättet und geschaut, dass das alles richtig rüberkommt.
Dietrich: Und was steht dann in den geheimen Protokollen der Marienerscheinungen?
Scheer: In Zeiten von Internet und so weiter sind diese Dinge nicht mehr ganz so geheim, wie sie vielleicht mal waren. Da werden auch ganz lokale Thematiken aufgegriffen. Eine Erscheinung, mit der ich mich intensiv beschäftigt habe, war die Marienerscheinung in Heroldsbach, Thurn, das ist eine Gemeinde in der Nähe von Bamberg. Die hatten zwischen 1949 und 1952 eine ganz lange Episode mit täglichen Marienerscheinungen, und da wurden bei den Ereignissen auch ganz spezifische Probleme der Gemeinde auch diskutiert sozusagen mit Maria, und sie hat Ratschläge gegeben, wie man diese Konflikte innerhalb des Dorfes schlichten könne. Das hat natürlich auch zu weiteren Konflikten geführt, weil nicht alle daran geglaubt haben, dass sie das wirklich sagt.
Dietrich: Was direkt zu der Frage führt, wie echt eigentlich diese Marienerscheinungen sind.
Scheer: Das entscheidet eine Kulturwissenschaftlerin nicht. Das liegt nicht in meinem Bereich, so was zu entscheiden. Wie gesagt, für mich sind das kulturelle Praktiken, die etwas ausdrücken über Einstellungen und Gefühle der Menschen. Außerdem interessiere ich mich dafür, welche Muster immer wieder aufgegriffen werden, reaktiviert werden. Wir können bei den Marienerscheinungen regelrechte Wiederholungsmuster sehen, die einerseits dafür sorgen, dass die Erscheinung glaubwürdig ist. Man sagt, man kann ja sehen, da erscheint sie ja wieder genauso wie damals dort und dort, und sie sieht genauso aus, wie wir das kennen von Lourdes und Fatima und sonst wo. Also ein Wiedererkennungswert ist wichtig, deswegen müssen bestimmte Muster wiederholt werden. Andererseits darf es nicht ganz exakt wiederholt werden, weil dann ist klar, dass das eine Fälschung ist, dass das einfach nur kopiert wird. Das ist wirklich eine kreative kulturelle Leistung, die da vollbracht wird, und das ist, was mich interessiert.

Wenige Quellen zu Maria in der Bibel

Dietrich: Diese Figur Maria lädt ja auch fast zu dieser offenen Deutung ein. Sie spielt eine große Rolle, eine fast überwältigend große Rolle in der gesamten Tradition der Kirche, und trotzdem gibt es eigentlich ganz wenige wirklich inhaltliche Quellen dazu in der Bibel. Ist diese Offenheit der Figur Maria auch ein Grund dafür, warum eben mit Maria dann zum Beispiel über die Haltung zum Krieg diskutiert werden kann?
Scheer: Ja, es bietet sich an, wenn wenig vorgegeben wird von offizieller Seite, dass dann die Kreativität sich entfalten kann. Maria bietet sich auch an, weil es einfach wenige Frauenfiguren gibt. Das ist natürlich auch nicht irrelevant, dass das eine sehr wichtige Frau ist in der christlichen Mythologie.
Dietrich: Und dazu eine Frauenfigur, die ja auch durchaus ambivalent ist, die auf der einen Seite Mutter ist, auf der anderen Seite Jungfrau, und die dann im Glauben irgendwie in diesen beiden Funktionen zusammengebracht werden muss.
Scheer: Das sind natürlich Gegenstände intensiver Diskussionen, theologisch und auch kulturhistorisch, worauf es zurückzuführen ist, dass diese Eigenschaften zusammengebracht werden in dieser Figur. Ob Maria eher eine Frauenfigur ist, die zur Unterdrückung von Frauen beiträgt, weil sie ja auch Unmögliches verkörpert, oder ob es eine starke Frauenfigur ist, über die man sich freuen kann, dass Frauen überhaupt so eine Figur geboten kriegen in einer Religion. Nicht alle Religionen bieten so was überhaupt.
Dietrich: Was ist bei der Marienverehrung wichtiger: Das Gefühl, das Maria so anspricht, oder die theologischen Inhalte, für die sie steht?
Scheer: Gefühl ist auch für die Kulturwissenschaft eine Sache, die kontextuell eingebettet werden muss. Wir sind ja keine Psychologen, und wir interessieren uns für kulturelle Muster und Vorgaben, mit denen Menschen arbeiten können und ihre Gefühle vielleicht dann auch zum Ausdruck bringen können. Auf jeden Fall ist für die Gläubigen selber Gefühl sehr wichtig. Theologie auch, aber nicht immer weiß man so hundertprozentig Bescheid über die richtige Glaubenslehre in Bezug auf Maria oder sonstige Dinge. Da geht man vielleicht mehr nach Gefühl.
Dietrich: Die Marienverehrung wird ja heute vor allen Dingen als was ganz Altes, Traditionelles wahrgenommen, dabei ist sie eigentlich jedenfalls in der Form dieser Marienerscheinungen etwas durchaus Junges. Die begannen so Mitte des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts – 100 Jahre Fatima hatten wir ja eben schon gehört. Was ist das also für ein Verhältnis, Maria und die Moderne?
Scheer: Ein leichteres, als man denkt. Man liest Marienerscheinungen häufig als Rückschläge, als antimoderne Reaktionen. Und dann stellt man fest, komischerweise sind die Leute ja mit der Eisenbahn nach Lourdes gefahren, und die haben Filme gedreht über Fatima, und haben alle möglichen modernsten Technologien mobilisiert, um auch Propaganda für diese Bewegungen zu machen. Also sind sie vielleicht doch relativ modern vorgegangen. Ich denke, es wird häufig unterschätzt, wie gut Menschen in der Lage sind, im Kopf, in ihrem Herzen – wir gehen zum Arzt natürlich, wenn wir krank sind, aber wir beten auch, weil ich meine, das kann nicht schaden und widerspricht sich ja nicht unbedingt.
Dietrich: Welche Rolle spielt dann die Marienverehrung heute? Ist das immer noch eine aktuelle Form der Gegenwartsbewältigung, oder ist das eher ein Auslaufmodell?

"Maria ist ein Museumsobjekt"

Scheer: Die Marienverehrung hat es schwer seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. In den 60er-Jahren hat man ja in einem Modernisierungsschub gedacht, man müsse das mit der Marienverehrung ein bisschen zurückfahren nach einer Hochphase direkt nach dem Zweiten Weltkrieg - auch nicht von ungefähr, denke ich, nach dem Krieg wieder eine Phase, wo Maria sehr wichtig gewesen ist - und weil es auch für manche zu einer übertriebenen Marienfrömmigkeit gekommen ist, so um 1950 – 1954 hatte man das marianische Jahr –, da hat man dann Mitte der 60er-Jahre überlegt, jetzt machen wir vielleicht ein bisschen langsamer damit und versuchen, die Leute stärker auf Christus einzunorden. Seitdem sind dann alle, die dann doch festgehalten haben an Marienverehrung, eher in so eine rechte Ecke abgedriftet oder geschubst worden, sehr konservativ bis fundamentalistisch. Die Marienverehrungsorte sind zu Orten geworden, an denen zum Beispiel für die Lebensschutzbewegung sehr viel Propaganda gemacht wird. Das bringt so eine politische Linie rein, die auch als hyperkonservativ gesehen wird. Und insofern ist das nicht mehr so mehrheitsfähig, wie es mal gewesen ist. Inzwischen, muss man sagen, ist Maria eher ein Museumsobjekt. Man findet die Marienbilder hübsch, man findet sie ja überall, auch in der populären Kultur in einer verkitschten Form. Man sehnt sich so ein bisschen vielleicht nach einer mütterlichen Figur, zu der man beten kann, aber so richtig ernst nehmen tut man sie, fürchte ich, nicht mehr.
Dietrich: Wie lassen sich Marienerscheinungen heute deuten? Darüber habe ich mit der Kulturhistorikerin und Ethnologin Monique Scheer gesprochen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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