Marieke Lucas Rijneveld: "Mein kleines Prachttier"

Unter Monstern

09:31 Minuten
Buchcover zu "Mein kleines Prachttier"
Marieke Lucas Rijneveld steigt in "Mein kleines Prachttier" tief in die menschliche Psyche ein und geht an die Substanz. © Deutschlandradio / Suhrkamp Verlag
Von Lara Sielmann · 11.10.2021
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In diesem Dorf regieren Not, Gewalt und Schweigen. Moralische Maßstäbe sind außer Kraft gesetzt, auch als ein Mädchen wiederholt zum Opfer furchtbarer Verbrechen wird. Marieke Lucas Rijnevelt erzählt erneut von menschlichen Abgründen.
Einsam liegt er da, der Viehbauernhof einer dreiköpfigen Familie mitten auf dem niederländischen Land – Vater, Sohn und Tochter leben dort, weitgehend abgeschottet. Nur einer kommt in diesem Sommer im Jahr 2005 regelmäßig vorbei: der Tierarzt des Dorfes. Er nutzt jede Gelegenheit, um nach den Kühen zu schauen, nimmt sich Zeit beim anschließenden Kaffeetrinken, bei dem er die junge Tochter des Bauern nicht aus den Augen lässt. Sie ist sein "Augenstern", sein "kleines Prachttier", sein "Putto" und das sind nur einige der Kosenamen, die der Arzt für die Jugendliche hat.

Lastende Blicke

Sie finden sich auf fast jeder Seite in wilden, fiebrig ausufernden Liebesbekundungen wieder. Bei schmachtenden Blicken und spielerischen Berührungen bleibt es nicht, so viel lässt bereits die erste Seite erahnen – und auch, dass es sich dabei nicht um eine Liebesgeschichte à la Romeo und Julia handelt: "Du lagst in jenem störrischen Sommer wie ein Kalb in Steißlage im Kreißsaal meines vergifteten Verlangens […], wusste nicht, wie ich dich nicht hätte wollen können, dich, die himmlische Auserkorene".
Alles, was man von dem 14-jährigen Mädchen erfährt, fußt auf den Beobachtungen, Schilderungen, Analysen des Arztes. Einer Beichte gleich erzählt er diese Geschichte ihr und einer nicht weitergenannten Gruppe von Magistraten, die ebenso früh erahnen lassen, welches Verbrechen in diesem Sommer passiert ist.

Schweigen und arbeiten

Nur eins scheint wirklich sicher: Der Grundstein für das Unglück dieser Familie liegt in einem Unfall einige Jahre zuvor – seitdem herrscht Schweigen auf dem Hof und im Namen Gottes wird hart gearbeitet.
Der protestantische Glaube ist dabei allgegenwärtig, allerdings bringt auch er keine Rettung mehr. Das gilt nicht nur für die Familie, das gilt für das ganze Dorf. "The Village", nennt der 49-jährige Tierarzt es, und die Parallele zu dem gleichnamigen Hollywood-Film von M. Night Shyamalan aus dem Jahr 2004 ist mit Sicherheit kein Zufall (zumal der Roman vollgespickt ist mit popkulturellen Zitaten): Wie die Dorfbewohner im Film ist die Welt in "Mein kleines Prachttier" eine abgeschottete – das Monströse lebt allerdings in den Bewohnern selbst und liegt nicht in der Außenwelt von "The Village".

Konsequent schonungslos

Wie schon in ihrem Debütroman "Was man sät", für den Marieke Lucas Rijneveld und ihre englische Übersetzerin Michele Hutchison 2020 den "International Booker Prize" erhalten haben, geht es in diesem Buch um junge Menschen, die für ihr Alter zu viel aushalten und (er)tragen müssen oder mussten. Alleingelassen und verraten von den Erwachsenen versuchen sie das, was ihnen und um sie herum passiert, einzuordnen. Das Moralische bleibt in "Mein kleines Prachttier" außen vor – es gibt in dieser Geschichte kein Wertesystem, das die Figuren auffängt.
So wagt sich die Autorin tief in die menschliche Psyche, und scheut sich nicht zu zeigen, was sie dort vorfindet. Das kann beim Lesen an die Substanz gehen, und das muss es auch, sonst wäre es keine gute Literatur. Und die ist Marieke Lucas Rijneveld mit ihrem zweiten Roman gelungen: Schonungslos und konsequent erzählt er von den Abgründen des Menschen und seiner Bedürftigkeit nach Zuwendung in einer Welt, die nicht viel mehr zu bieten hat als Schein und Sprachlosigkeit.

Marieke Lucas Rijneveld: "Mein kleines Prachttier"
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
364 Seiten, 24 Euro

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