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Jens Rehn: "Nichts in Sicht"
Das nennt man Fortschritt

Jens Rehns Novelle "Nichts in Sicht" erschien 1954. Sie gehört zu den literarischen Werken, die von Kritikern immer wieder angepriesen wurden, aber dennoch nie ein großes Publikum fanden - das könnte sich jetzt ändern.

Von Cornelius Wüllenkemper | 11.07.2018
    Buchcover Jens Rehm: "Nichts in Sicht" und im Hintergrund ein Schlachtschiff
    Tot im Meer - "Nichts in Sicht" von Jens Rehm wurde neu aufgelegt (dpa)
    Vor einem halben Jahrhundert befand Marcel Reich-Ranicki, Jens Rehns Novelle sei ein "zeitgeschichtliches und künstlerisches Dokument", und auch Siegfried Lenz sprach von einem der "wichtigste epischen Dokumente des vergangenen Krieges." Die beiden Hauptfiguren in Jens Rehns Novelle, ein schwerverletzter Bomberpilot der US-Airforce und ein U-Boot-Offizier der deutschen Marine sind mehr als nur Kriegsopfer. Sie stehen vielmehr für die Verlorenheit des Menschen angesichts des erbarmungsglosen, ebenso unaufhaltsamen wie sinnlosen Laufs der Dinge. "Nichts in Sicht" ist ein Stück zutiefst existentialistischer Literatur, das in einer Reihe steht mit Albert Camus "Der Fremde", mit Jean-Paul Sartres "Der Ekel" oder mit Samuel Becketts "Warten auf Godot". Im Unterschied zu Becketts absurder Szenerie wissen Rehns Figuren allerdings sehr genau, dass sie umsonst warten. Der US-Pilot und der deutsche Offizier, im Text nur "der Einarmige" und "der Andere" genannt, stehen für eine universelle Einsamkeit.
    Vom Durst gezeichnet
    "Die Dünung war vollständig eingeschlafen. Die Sonne brannte auf die reglose See. Über dem Horizont lag leichter Dunst. Das Schlauchboot trieb nur unmerklich. Der Einarmige beobachtete unablässig die Kimm. Der Andere schlief. Es war nichts in Sicht."
    Diese lakonischen Anfangssätze zeigen, dass Rehns Parabel nicht nur höchst reduzierte Anti-Kriegsliteratur mit maximaler Wirkung ist. Sie ist zugleich der Monolog eines Menschen, gerichtet an einen abwesenden Gott, an eine verlorene Hoffnung, an die ausbleibende Rettung. Der US-Pilot stirbt bereits im ersten Kapitel an seiner Schussverletzung, von seinem Leichnam will der andere Schiffbrüchige auf dem winzigen Rettungsboot sich derweil nicht trennen. Er vegetiert von nun an vom Durst gezeichnet nachts im kalten Dunkel des Meeres, tagsüber schutzlos in der gleißenden Sonne. Allein treibt er so dem Tod entgegen.
    "Das Schlauchboot klebte wie festgenagelt. Es machte keine Fahrt nirgendwohin. 'Nirgendwohin!' sagte er. 'Das ist ein feiner Weg.' - 'Nirgendwohin, jetzt weiß ich es endlich!' sagte er nochmals. 'Und du?' fragte er den Toten. 'Auch nirgendwohin? Das nennt man Fortschritt. Oder bist du etwa schon angekommen? Wie kann man aus dem Nirgendwohin irgendwo ankommen?' Der Tote antwortete nicht, wie üblich. Den Anderen erbitterte das Ohne-Antwort-bleiben. Er wusste, dass es Unsinn war, darauf zu warten. Er wusste, dass es Schwachsinn war, sich mit einem toten Mann unterhalten zu wollen. Er wusste, dass seine Gedanken gefährlich waren. Er wusste alles sehr genau. Aber er konnte nicht anders. Es war eine Faszination. Er musste reden, Dinge sagen, von denen er wusste, im Augenblick des Aussprechens, dass er sie nicht sagen durfte, um nicht überzuschnappen."
    Sehnsucht nach Etwas
    Die Handlung von Rehns Novelle beschränkt sich fast ausschließlich auf das Verrinnen von Zeit: Das Rauchen von Zigaretten, die abgezählten Schlucke aus der Whiskey-Flasche und das Auf- und Untergehen der Sonne über der erbarmungslosen Leere des Ozeans. Nur die Erinnerungen der beiden totgeweihten Schiffbrüchigen an ihre Geliebten, ihre Träume und Wahnvorstellungen, ihr körperlicher Verfall und das zunehmende Delirium verleihen dem Text eine innere Dynamik. Dazwischen wird in Passagen wie aus einem Lexikon referiert, über das Verhalten menschlicher Haut bei großer Sonneneinwirkung, über die Soda-Preise in den USA und die Definition der Begriffe "Hoffnung" und "Halluzination", über die Konsistenz von Meerwasser und den Prozess des Verdurstens. Jens Rehns kurze, schmucklose Sätze machen keine Konzessionen an den Leser, verzichten auf jegliche klassische Dramaturgie.
    In der Entstehungszeit des Textes in der 1950er Jahren gehörte Rehn zur Berliner "Gruppe der Zwölf", die sich auf ein sachliches, "von Faxen" befreites Schreiben einschwor. Es ist gerade das Fehlen jeder Sentimentalität, das Rehns Novelle eine große literarische Wucht verleiht. Sein Text hat über die Zeit kein bisschen an Aktualität verloren. Die Assoziationen, die er auslöst, haben sich natürlich gewandelt. So ist es unmöglich, heute "Nichts in Sicht" in die Hand zu nehmen, ohne an die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer zu denken. "Wo das Nichts in Sicht kommt, meldet sich unwillkürlich die Sehnsucht nach dem Etwas", schreibt die Kritikerin Ursula März in ihrem sehr lesenswerten Nachwort über die ungebrochene Bedeutung von Rehns Novelle. Und tatsächlich führt uns dieser Text mit bestechender Klarheit eine zeitlose Gleichzeitigkeit vor Augen: Das unerbittliche Schicksal des Einzelnen, das sich im Ozean des Weltgeschehens verliert.
    Jens Rehn: "Nichts in Sicht"
    Schöffling & Co, Frankfurt a. M., 176 Seiten, 20 Euro