Marcel Reich-Ranicki

"Einer, dem alle zugehört haben"

Andrew Ranicki, Sohn von Marcel Reich-Ranicki, seine Tochter Carla Ranicki (2. v. l), Klaus Wowereit (2. v. r.), Regierender Bürgermeister von Berlin, Hellmuth Karasek (r.), langjähriger Weggefährte, und Stefan Grützmacher, Vorstandsvorsitzender der Gasag
Andrew Ranicki, Sohn von Marcel Reich-Ranicki, seine Enkelin Carla Ranicki (2. v. l), Klaus Wowereit (2. v. r.), Regierender Bürgermeister von Berlin, Hellmuth Karasek (r.), langjähriger Weggefährte, und Stefan Grützmacher, Vorstandsvorsitzender der Gasag © picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka
Von Otto Langels · 19.09.2014
Ein Jahr nach seinem Tod hat die Stadt Berlin Marcel Reich-Ranicki mit einer Gedenktafel an dem Wohnhaus geehrt, in dem der Literaturexperte in den 1930er-Jahren mit seinen Eltern lebte. Zur Enthüllung kam auch Sohn Andrew.
"Man kann ohne Übertreibung feststellen, ganz Deutschland trauerte, als er am 18. September 2013 starb. Es ist an der Zeit, auch den großen Reich-Ranicki in Berlin, in der Stadt seiner späten Kindheit und Jugend, zu ehren."
Erklärte Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit bei der Enthüllung einer Gedenktafel in Berlin-Wilmersdorf. In der Güntzelstraße 53 hatte Marcel Reich-Ranicki mit seinen Eltern von 1934 bis 38 in einem einfachen Mietshaus gewohnt. In der Nähe war er aufs Gymnasium gegangen.
Dort blieb er zwar von antisemitischen Anfeindungen der Mitschüler verschont und entdeckte im Deutschunterricht seine Liebe zur Literatur, aber als Jude wurde er von Schulausflügen und Sportfesten ebenso ausgeschlossen wie vom Geschichtsunterricht:
"Ich lebte in der Schule in einer ständigen Angst."
Erinnerte sich Marcel Reich-Ranicki später an seine Jugend in Berlin.
Angst vor Anordnungen der Behörden
"Ich fürchtete nicht, die Mitschüler würden mir was antun oder die Lehrer. Ich fürchtete die Anordnungen der Behörden, ich fürchtete, dass ich eines Tages die Zeitung aufmachen werde und lesen werde, ab heute dürfen Juden nicht mehr zur Schule gehen."
Das Abitur durfte Marcel Reich-Ranicki noch ablegen, seinen Wunsch, Germanistik und Literatur zu studieren, musste er jedoch aufgeben. "Um der Weltfremdheit die Krone aufzusetzen", schrieb er später in seinen Erinnerungen, habe er um ein Gespräch mit dem Rektor der Berliner Universität gebeten. "Er hat mich empfangen und war überaus höflich. Offenbar wollte er nicht sagen, dass Juden zum Studium nicht mehr zugelassen seien."
"Hier war dem jungen Juden von der Friedrich-Wilhelms-Universität, der heutigen Humboldt-Universität, das Studium verweigert worden. Von hier aus wurde er als 18-Jähriger plötzlich früh morgens aus seiner Wohnung heraus deportiert."
Im Warschauer Ghetto lernte er seine Ehefrau Tosia kennen. Mit ihr gelang ihm die Flucht, beide überlebten den Holocaust im Versteck. Nach dem Krieg arbeitete Marcel Reich-Ranicki für den polnischen Geheimdienst und im Außenministerium, bis er 1958 in die Bundesrepublik übersiedelte und sich als Literaturexperte schnell Respekt und Ansehen erwarb.
Auch im hohen Alter ein streitbarer Mann
"Marcel Reich-Ranicki war nicht nur Deutschlands größter Literaturkritiker, er war ja selbst ein Star, einer, dem alle zugehört haben, der die Menschen erreicht und viele auch berührt hat, der nicht nur geschätzt, sondern auch geliebt wurde."
Daher nun, ein Jahr nach seinem Tod, die Ehrung mit einer Gedenktafel an dem früheren Wohnhaus in der Güntzelstraße. Zur Enthüllung war Marcel Reich-Ranickis Sohn Andrew, Mathematiker an der Universität Edinburgh, nach Berlin gekommen:
"Es spielte sich zum Beispiel. seine erste tiefe Beziehung zu einer Frau hier ab, mit der Untermieterin Lotte. Hier auf diesem Balkon hat er seinen ersten Kuss empfangen."
Die Gespräche mit Lotte wurden damals immer länger und immer schöner, erinnerte sich Marcel Reich-Ranicki in seiner Autobiografie, bis die Balkonidylle abrupt endete. Die Untermieterin kündigte ihr Zimmer, weil sie fürchten musste, als Nichtjüdin wegen angeblicher "Rassenschande" belangt zu werden.
Marcel Reich-Ranicki besuchte sein altes Wohnhaus noch einmal 1999. Da war er längst ein angesehener, auch noch im hohen Alter streitbarer Mann, den vor allem das Literarische Quartett im ZDF bekannt gemacht hatte. Reich-Ranicki:
"Wir können nur abschließen mit dem Wort von Brecht aus dem Sezuan-Drama: Und also sehen wir betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen."
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