Marburger Bund: Selbsttötung nicht als Norm propagieren

Rudolf Henke im Gespräch mit Birgit Kolkmann · 15.12.2008
Der Vorsitzende des Marburger Bundes, Rudolf Henke, hat die Ausstrahlung des Dokumentarfilms über die begleitete Selbsttötung eines Mannes im britischen Fernsehen kritisiert. Der Film vermittle, "dass so etwas normal sei, dass man sich selbst sein Lebensende setzt und als ob das im Grunde der natürliche Umgang mit dem Sterben sei. Und das ist eine Norm, die man nicht propagieren sollte". Henke betonte jedoch, dass Patientenverfügungen für Ärzte bindend seien: "Weder ein Kranker noch ein Schwerstkranker, noch ein sterbender Mensch verliert das Recht auf Selbstbestimmung".
Birgit Kolkmann: Möchten Sie vor laufender Kamera sterben? Oder anders gefragt, möchten Sie einem anderen Menschen beim Sterben im Fernsehen zuschauen, weil er sich wegen unerträglichen Leidens selbst das Leben nimmt und sein Recht auf Sterben dokumentieren will? So hat es der britische Universitätsprofessor Craig Ewerts gemacht. Es ist zwei Jahre her, seit er in der Schweiz im Beisein seiner Frau und eines britischen Fernsehteams einen tödlichen Giftcocktail zu sich nahm und selbst das Beatmungsgerät ausschaltete. Er wollte damit ein Zeichen setzen, nicht für Voyeure, sondern pro Sterbehilfe. Ewert starb in einer Züricher Klinik des Schweizer Sterbehilfevereins "Dignitas". Vergangenen Mittwoch wurde die Dokumentation im britischen Fernsehen ausgestrahlt. Und seitdem ist auch bei uns die Diskussion wieder entbrannt. Wir begrüßen jetzt den Vorsitzenden des Marburger Bundes, des Verbands der angestellten und beamteten Ärzte in Deutschland, bei uns in der "Ortszeit". Guten Morgen, Rudolf Henke!

Rudolf Henke: Guten Morgen, Frau Kolkmann!

Kolkmann: Herr Henke, haben Sie diesen Film ansehen können?

Henke: Ja.

Kolkmann: Was waren Ihre Gefühle dabei?

Henke: Ja gut, ich habe natürlich in meinem beruflichen Leben schon häufig Menschen sterben sehen. Ich weiß, dass es Menschen gibt, die von der Selbsttötung Gebrauch machen. Ich bin davon nicht so stark emotional erfasst, nehme ich an, wie viele andere, für die das völlig ungewöhnlich ist. Und ich weiß aus Reaktionen von Menschen, mit denen ich darüber gesprochen habe, dass sie ja mit einer Mischung aus Faszination und Verstörung reagieren.

Kolkmann: Ist die Reaktion auch noch eine Folge der Tabuisierung dieses Themas in unserer Gesellschaft nach wie vor?

Henke: Ja. Der Tod ist tabuisiert. Die Tatsache, dass unser Leben mit dem Tod endet, dass wir Sterbliche sind, ist eine Tatsache, die in der öffentlichen Kommunikation mindestens, soweit sie kommerzialisiert ist, wenig Bedeutung hat, außer halt in Kinofilmen, wo das dann meistens ein gewaltsamer Tod ist. Wir setzen uns mit unserer eigenen Sterblichkeit zu wenig auseinander. Und dann geht es uns bei einem solchem Film, glaube ich, so ähnlich wie es mir mit 18 Jahren ging, als ich zum ersten Mal dabei war, als ein Mensch starb.

Kolkmann: Craig Ewert hat sich das sehr gut überlegt. Können Sie seine Gründe nachvollziehen?

Henke: Ja, ich kann seine Gründe nachvollziehen, aber ich bin mir nicht so sicher, ob er wirklich überblickt, welche Wirkungen er damit anstößt. Denn er propagiert ja damit über das eigentlich eitle Vorführen seiner eigenen Situation hinaus, dass so etwas normal sei, dass man sich selbst sein Lebensende setzt und als ob das im Grunde der natürliche Umgang mit dem Sterben sei. Und das, finde ich, ist eine Norm, die man nicht propagieren sollte und die, glaube ich, auch die Einzigartigkeit der Situation für den jeweiligen Einzelnen durch diese mediale Vervielfältigung aus ihrem persönlichen Charakter reißt.

Kolkmann: Haben wir denn eigentlich das Recht, seine Entscheidung, dieses vor einem Fernsehteam zu tun, ethisch zu bewerten?

Henke: Ja, wir haben das Recht, alle Entscheidungen, die Menschen um uns herum treffen und auch alles, was wir selber tun, ethisch zu bewerten. Warum sollte im Umgang mit dem Tod nicht die Möglichkeit bestehen, dass ethisch zu bewerten? Ich weiß nicht, ob man sich seines Urteils so unendlich sicher sein darf. Aber das Recht dazu haben wir natürlich. Er selber nimmt, glaube ich, auch eine ethische Bewertung vor.

Kolkmann: Wenn Sie sagen, dass Sie eine etwas pragmatischere Einstellung haben als Arzt, wie sehen Sie es dann, dass in Deutschland dieses Thema immer dann sehr schnell, sehr ideologisch diskutiert wird und eben nicht pragmatisch, im Hinblick darauf, wie man zum Beispiel Menschen, die sterben wollen, besser helfen kann oder wie man sich überhaupt mit Problemen der alternden Gesellschaft auseinandersetzt?

Henke: Ja, ich glaube, es hat etwas damit zu tun, dass wir selten Gelegenheit haben, in überhaupt öffentlichen Debatten heute noch zu einer differenzierten Diskussion zu kommen, weil wir ja so eine Gesellschaft geworden sind, in der immer das Wegzappen droht und in der die Reize, um uns zu halten, immer stärker werden. Insbesondere Fernsehen, glaube ich, ist ein sehr emotionales Medium, dass durch emotionale Bindung hält. Und ich glaube, dass viele Macher von Fernsehen auch ein Stück weit mit dieser Emotionalität arbeiten müssen, damit sie entsprechend Quote machen.

Kolkmann: Sie sagen, die Diskussionen werden oft nicht differenziert genug geführt. Sicher nicht nur, um Quote zu machen, auch für den politischen Raum gilt das vielleicht. Was, glauben Sie, woran es liegt, dass wir gerade mit diesem wichtigen Thema Patientenverfügung, Regelungen für das Ende des Lebens, für ein Ende des Lebens mit Würde nicht wirklich weiterkommen?

Henke: Ja, man muss sich dann mit der Rechtslage, die gilt, auseinandersetzen und die sich in Deutschland weniger durch Aktivitäten des Gesetzgebers, sondern mehr durch Richterrecht entwickelt hat und auch durch die Richtlinien, die die Bundesärztekammer für die Ärztinnen und Ärzte verabschiedet hat. Und wenn ich mir das Regelwerk, das da ist, angucke, dann meine ich eigentlich, dass wir für die ganz überwiegende Mehrzahl der Situationen kluge und gute Regeln haben. Patientenverfügungen, die Patienten treffen, sind bindend. Sie sind von den Ärzten zu respektieren, wenn sie einem informierten Einverständnis entsprechen und die Situation, um die es geht, beschreiben und treffen. Dann müssen die Ärztinnen und Ärzte sich daran halten. Weder ein Kranker noch ein Schwerstkranker, noch ein sterbender Mensch verliert das Recht auf Selbstbestimmung.

Kolkmann: Sind Sie schon mal in einen echten Konflikt gekommen trotzt Patientenverfügung?

Henke: Ja.

Kolkmann: Wie war der?

Henke: Ja, ich will jetzt hier nicht allzu Persönliches ausbreiten. Aber die Situation, die deutlich macht, wie schwierig das ist, ist etwa die, dass jemand in jüngeren gesünderen Jahren ausschließt, dass jemals bei einer Reanimation stattfinden darf, dann einen Unfall oder eine akute Krankheit erleidet, kurz nach dem Herzkreislaufstillstand getroffen wird und dann reanimiert werden kann mit großer Aussicht auf Erfolg. Und erst, nachdem das passiert ist, stellt man dann fest, da lag eine Patientenverfügung vor, in der stand drin, dass er das nicht wollte. Und wenn es jetzt gut geht und er zurückkehrt ins Leben, wird er einem in der Regel hinterher dankbar sein, dass man die nicht gefunden hat und sich nicht dran gehalten hat. Wenn er das gar nicht mehr sagen kann, dann entsteht eine für die Ärzte sehr belastende Situation. Denn wenn der jetzt im Wachkoma liegt, dann ist eben die Frage, wie geht das jetzt alles weiter. Denn wahrscheinlich wird er dann für diese Situation, die entstanden ist, keine Verfügung getroffen haben und die Reanimation war ja.

Kolkmann: Vielen Dank, Rudolf Henke, der Vorsitzende des Marburger Bunds zum Thema Sterbehilfe und Patientenverfügung.