Marathon-Seniorin Sigrid Eichner

"Laufen, solange die Füße tragen"

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Extremläuferin Sigrid Eichner im Jahr 2011 im Alter von 70 Jahren. In der Sporthalle in Beelitz-Fichtenwalde kommt die Teilnehmerin des Laufes von Horn nach Berlin nach der vorletzten von 13 Etappen unter.
Sigrid Eichner lief 2011 knapp 800 Kilometer von Horn am Neckar nach Berlin. Damals war sie 70. © imago / Christian Schroth
Von Caroline Kuban  · 28.07.2019
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Aus einer Jogging-Runde wurden mehr als 2000 Rennen. So viele Marathon-Läufe wie die 78-jährige Sigrid Eichner hat wohl keine andere Frau weltweit bestritten. Sie sagt: "Das Laufen macht den Kopf frei." Aufhören ist für die Seniorin unvorstellbar.
"In der Laufszene bin ich der Sturmvogel", sagt die Marathonläuferin Sigrid Eichner. "Weil meine Haare im Wind immer so flattern oder geflattert haben, als sie noch länger waren – wenn sie bergrunter gut laufen können, dann sieht das ganz gut aus."
Bei ihrem ersten Lauf war Eichner schon 40 Jahre alt. Eine Ingenieur-Ökonomin und Mutter von drei kleinen Kindern, die mal Zeit für sich brauchte. Aus einer Jogging-Runde wurde ein Wettkampf fürs Leben. Mehr als 2000 Marathonläufe hat die 78-jährige Berlinerin mittlerweile bestritten. So viele wie wohl keine andere Frau weltweit.
An der Wohnzimmerwand in ihrer Wohnung in Berlin-Friedrichshagen hängen 875 Medaillen, im Zimmer nebenan stehen die 268 Pokale. "Dazu für jedes Jahr ein Laufordner, und dann gesammelt nach Art der Läufe: 48 Stunden, 24 Stunden, Halbmarathon, 6 Stunden, 10 Kilometer und so weiter und so fort, fürs Guinnessbuch der Rekorde."
Eigentlich ist ihr die Aufnahme ins Guinnessbuch gar nicht so wichtig, aber Eichner hofft, dadurch einen Sponsor zu finden. Denn Startgebühren und Fahrten kosten immer mehr. Die Läuferin ist 1,60 Meter groß, 40 Kilo leicht und trägt Konfektionsgröße 34.
Die 78-jährige Sigrid Eichner steht vor mit einem Bärenpokal vor ihrer Medaillenwand.
Eichner mit Bärenpokal vor ihrer Medaillenwand© Caroline Kuban
Mit einer Betriebssportgemeinschaft fing alles an. Damals lebte Eichner mit ihrer Familie in Schwedt. Regelmäßig nahm sie dort am "Meilenlauf" teil. Mit den Kindern an der Hand lief sie durch den Wald, auf der Jagd nach Wimpeln, die man für jede absolvierte Meile gewinnen konnte. Später zog sie nach Berlin, in den Ostteil der Stadt, schloss sich einer Laufgruppe an. Allein mit drei Kindern, der Mann immer auf Montage, da hatte man nie Ruhe, sagt die 78-Jährige. Da brauchte sie einen Ausgleich.
"Früh um den Häuserblock gelaufen vor der Arbeit. Das Laufen macht den Kopf frei. Mit dieser Bewegung haben sie auch Zeit für sich, man kann nachdenken, es lösen sich Probleme von alleine, weil man mal Zeit hat, sich mit allem zu beschäftigen, und man wird nicht gestört durch Telefon oder irgendetwas Anderes."
Nun läuft sie schon seit mehr als 30 Jahren, ist immer unterwegs. Ankommen will sie trotzdem nicht.

Richtig los ging es nach dem Mauerfall

"Es gab Jahre, da bin ich 6000 Kilometer im Wettkampf gelaufen. Jetzt laufe ich zwischen 3000 und 4000, ich laufe nicht mehr so viel. Erstens brauche ich länger zum Regenerieren, zweitens sind die Preise teurer, drittens sind die Wege weiter, so etwas kommt dann noch alles mit dazu."
Zu DDR-Zeiten gab es wenig große Läufe, erzählt Eichner. Den Rennsteiglauf, wo sich alles traf, den Harz-Gebirgslauf im Oktober, Marathon-Läufe in Leipzig, Jena und Karl-Marx-Stadt.
Richtig los ging es für sie aber erst nach dem Mauerfall. Jetzt läuft sie Marathon in Paris, New York, Taipeh und Tokio. In der Antarktis rennt sie neben Pinguinen, in Island muss sie in einer Holzhütte Schutz vor einem Schneesturm suchen. Nur durch das Laufen habe sie die Welt entdeckt, sagt Eichner. Jedes Jahr nimmt sie am Berlin-Marathon teil. Und am Mauerweglauf. Gerade die 161 Kilometer auf dem ehemaligen Grenzstreifen liegen ihr besonders am Herzen, sagt die 78-Jährige.
"Ich fand das gut, dass man an das gedacht hat, das eben nicht so gut war. Dass man der Opfer gedenkt; dass man froh ist, dass die Mauer jetzt weg ist; dass man die ganze Geschichte ein bisschen aufarbeitet, und das macht eben die LG Mauerweg, und das finde ich eben gut."

Schmerz ist kein Thema

Eichner ist sparsam und streng zu sich. Wann immer es geht, reist sie in Fahrgemeinschaften oder nimmt billige Busse. Sie schläft in Jugendherbergen oder mit anderen Läufern in der Sporthalle des Veranstalters. Ihre Laufschuhe trägt sie solange, bis sie sich auflösen.
"Die hab ich dann an den Stellen, wo sie mich drücken, aufgeschnitten. Das ist der operierte Zeh, der braucht auch ein bisschen mehr Platz als die anderen, ja was sollen Sie machen? Wenn man die Schuhe kauft, merkt man das ja nicht. Erst, wenn sie laufen. Und ich habe auch meistens eine Schere mit."
Über Verletzungen und Beschwerden redet sie nicht gerne. Natürlich blieben bei langen Läufen Probleme nicht aus, aber die müsse man eben überwinden.
"Was vom Laufen kommt, geht vom Laufen auch wieder weg. Meistens, ja. Es tut zwischendurch mal das Knie weh, wenn Sie lange bergab gelaufen sind, oder wenn Sie steil berghoch gestiegen sind, aber es beruhigt sich nach einer Weile wieder. Wäre ja schlimm, wenn nichts weh tut, dann macht man es nicht richtig. Oder wenn man hinterher nicht merkt, dass man erschöpft ist, dann hätte man mehr geben können."
Und so ist auch Aufhören für sie überhaupt kein Thema. "Solange die Füße tragen, solange werd' ich laufen."
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