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Film "World Brain"
Netzmythen und die physische Realität des Internets

Kann man mithilfe von Wikipedia im Wald überleben? Was haben Haie mit dem Internet zu tun? Das sind Fragen, mit denen sich der Film "World Brain" der französischen Künstlerinnen Stéphane Dégoutin und Gwenola Wagon beschäftigt.

Von Kathrin Hondl | 10.03.2015
    Die Silhouette eines Mannes, der mit seinem Finger auf das Wort Wikipedia zeigt, ist vor der Internetseite der Online-Enzyklopädie Wikipedia zu sehen.
    Wikipedia bietet auch eine Anleitung zum Feuer machen. (picture alliance / dpa / Robert Schlesinge)
    Ein hungriger Hai schwimmt seine Runden, irgendwo in den Tiefen eines Ozeans. Plötzlich nähert er sich einem dicken Kabel am Meeresgrund – und schnappt zu: Der Hai attackiert das Internet. Denn das Tiefseekabel übermittelt Daten, unsere Daten, die im Netz unterwegs sind.
    Solche Bilder von den physischen Orten der sogenannten virtuellen Welt sind wichtig, sagt Filmemacher Stéphane Dégoutin:
    "Deshalb wollten wir diese Orte gleich am Anfang des Films präzise beschreiben. Rein virtuelle Debatten interessieren uns nicht. Wir leben nicht in einer Welt der Ideen, Theorien und Algorithmen, wie uns viele weismachen wollen. Die mögen zwar eine Rolle spielen für das Internet, aber es sind sicherlich noch ganz andere Dimensionen möglich."
    Riesige anonyme Datencenter
    Von der Welt der Haie und Tiefseekabel führt uns der Film "World Brain" zurück an Land, in riesige anonyme Datencenter: Peinlich saubere, krankenhausähnliche Hallen, wo in endlos wirkenden Schrankreihen die grünlichen Lichter der Internetserver blinken.
    "Hier leben wir", sagt die Off-Stimme. "In diesen Serverfarmen sind unsere Facebook-Freunde gespeichert, die Artikel, die wir lesen, der Verlauf unserer Google-Recherchen, unsere Fotos, Videos, Emails, Blogs, unsere sozialen und ökonomischen Aktivitäten – unser gesamtes Leben im Internet, beziehungsweise: ganz einfach unser Leben."
    Die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion verschwimmen, als der Film die High-Tech-Orte der weltweiten Vernetzung verlässt und einer Gruppe von sogenannten Forschern in den Wald folgt.
    "Es ist ein alter Menschheitstraum, nackt im Wald zu leben, in Kontakt mit den Tieren", sagt Stéphane Dégoutin. "Unsere Idee war, das Unmögliche vielleicht möglich zu machen, im metaphorischen Sinn, durch Vernetzung. Insofern wäre der Traum von wildem Leben und direktem Naturkontakt mit hoch technologischer Hilfe möglich."
    Mit Wikipedia Feuer machen
    Sprich: mithilfe des Internets. Bei Wikipedia zum Beispiel findet sich eine Anleitung zum Feuer machen. Dank Schwarmintelligenz leben alte Gesellschaftsutopien wieder auf. Revolutionsromantik im Internetzeitalter.
    "Man kann die Gesellschaft mit Wikipedia neu erfinden, indem man mit Wikipedia Feuer macht. Was allerdings sehr kompliziert ist. Wir brauchten zwei Drehtage, bis es brannte."
    Die Forscher im Wald beziehen sich auch auf frühere Netzutopien, wie sie zum Beispiel Anfang der 1970er-Jahre im "Whole Earth Catalog" formuliert wurden - einer Anthologie der Gegenkultur, die Apple-Gründer Steve Jobs einmal als Vorläufer der Suchmaschinen bezeichnete.
    "Das elektrische Zeitalter bietet uns ein globales Netzwerk, das einem zentralen Nervensystem ähnelt. Das Gehirn ist der Ort der Interaktion, wo jegliche Eindrücke und Erfahrungen ausgetauscht und übersetzt werden können. Es wird uns also möglich, auf die Welt in ihrer Gesamtheit zu reagieren."
    Doch "World Brain" erinnert immer wieder auch daran, dass wir, die Internetnutzer, die Visionen der Internetpioniere längst ad absurdum geführt haben.
    "Wir sind abhängig von der Verbindung mit dem Netz. Wir amüsieren uns mit Katzenvideos, während außer Kontrolle geratene Algorithmen im Internet unser Geld verspielen."
    "World Brain" ist ein informativer, intelligenter und gleichzeitig sehr poetischer und politischer Film. Er erzählt nicht nur vom Internet und seinen Mythen und Utopien, er spielt auch formal mit den Möglichkeiten des Netzes. Die interaktive Seite, auf der der Film im Internet zu sehen ist, bietet eine Fülle an zusätzlichen Informationen und Bildern – einen "Ozean der Referenzen", wie Gwenola Wagon sagt.
    "Es ist kein streng linearer Film, man kann auch einzelne Kapitel sehen. Jedes Kapitel kann auch für sich allein stehen. Wie ein kleines Gedicht oder eine kleine Fabel."