Mann: Täter, Frau: Opfer?

Wie Geschlechterrollen unser Verhalten bestimmen

Ein junge Frau geht durch eine Unterführung.
Frauen werden leicht zu Opfern, Männer zu Tätern. - Ein überholtes Rollenbild oder Realität? © imago/photothek
Von Maike Strietholt · 02.07.2018
Über 80 Prozent der Gewaltstraftaten in Deutschland werden von Männern begangen. Frauen tauchen vor allem als Opfer in der Statistik auf. Alles eine Frage der gesellschaftlichen Prägung? Oder spielen auch genetische Voraussetzungen auch eine Rolle?
Im Trainingsraum des Hamburger Sportcenters "Hankook" liegen fünf Jungs um die 13 Jahre rücklings auf dem Boden und machen Bauchübungen. Trainer Thomas zählt laut mit und hält hintereinander jedem eine Boxpratze hin.
Die Jungs rappeln sich schwer atmend wieder auf. Es geht in Zweierteams und mit Boxhandschuhen weiter. Der Trainer macht mit und motiviert dabei immer wieder.
Hinter der Glasscheibe schaut Olaf Jessen zu, Inhaber des Sportcenters. "Das ist erst einmal tatsächlich ein Boxtraining", erläutert er. "Aber ein gefiltertes Boxtraining – weil, es geht eigentlich um eine pädagogische Arbeit. Dass die Kinder wirklich sehr viel zusammenarbeiten, dass also Interaktion ist. Das heißt, die Partnerberührung, Partnerarbeit ist hier im Vordergrund."

Boxen als Anti-Gewalttraining

Die Kinder und Jugendlichen, die hier herkommen, sind in der Schule in Sachen Gewalt auffällig geworden – durch körperliche Übergriffe oder durch Mobbing. Über das Programm "Boxschool", an dem über 30 Hamburger Schulen teilnehmen, haben die Schüler und Schülerinnen nun die Gelegenheit, sich in einer ganz anderen Art und Weise zu begegnen – und das während der Schulzeit.
"Das heißt, sie bekommen einen Vertrauensvorschuss, dass sie hierherkommen. Dann setzen wir uns erst einmal zusammen, besprechen einige Sachen – die so am Tage oder in der Woche passiert sind, arbeiten erstmal auch die Vorfälle auf. Dann machen wir ein schönes Training, damit die körperlich loslassen können und auch den Kopf ein bisschen freikriegen, natürlich auch Regeln, Disziplin und Respekt zu lernen. Und dann machen wir gemeinsam ein Mittagessen."
Ein Rundumprogramm, einmal pro Woche. Sich dem Thema Gewalt über eine populäre Sportart wie Boxen zu nähern, funktioniere besonders gut:
"Es geht wirklich darum, das Körperliche zu spüren. Und auch Grenzen zu erfahren, was es bedeutet, stark zu sein. Bei Liegestützen und bei Kraftübungen kann man das alles ausprobieren. Und wir haben es auch tatsächlich, dass wir auch jüngere Kinder haben, die dann im Training viel stärker sind als die Großen."
Sportliches Durchhalten sei häufig Kopfsache, sagt Jessen. Ebenso wie es mentale Stärke erfordere, Provokationen gelassen zu ertragen. Denn die sind meistens Auslöser für eine gewalttätige Reaktion – so wie dieser Junge nach dem Training berichtet:
"Schlägereien. Die haben mich provoziert. Manchmal schlage ich sie, manchmal nicht."

Ein Drittel beim Box-Training sind weiblich

Boxen, Liegestützen, stark sein – das klingt nach einem Programm für Jungs. Aktuell ist aber knapp ein Drittel der Teilnehmenden im "Boxschool"-Programm weiblich. Das Training ist bei beiden Geschlechtern dasselbe, teils wird auch gemischt trainiert. Wenn Mädchen gewalttätig werden, ist das aus der Erfahrung von Olaf Jessen keineswegs harmloser als bei Jungs:
"Wenn die Mädchen auffällig sind, dann sind sie auch schon ziemlich heftig auffällig."
Dieses 14-jährige Mädchen äußert sich – nach den Gründen für ihre Teilnahme am "Boxschool"-Programm gefragt – jedenfalls ganz ähnlich wie der Junge zuvor:
"Ja, weil die provoziert haben. Jetzt habe ich es gelernt. Ich ärger nur manchmal."

Jungs "werden eher motiviert" zurückzuschlagen

Bei der Beratungsstelle Gewaltprävention in Hamburg, die Gewaltfälle an Hamburger Schulen sammelt und auswertet, sieht Leiter Christian Böhm zumindest den Bereich der körperlichen Gewalt eindeutig männlich geprägt. Im Schuljahr 2016 / 2017 wurden der Beratungsstelle rund 130 Gewaltdelikte gemeldet – vorwiegend Fälle von gefährlicher Körperverletzung oder Raub und Erpressung. Sexualdelikte und Straftaten gegen das Leben seien zum Glück eher die Ausnahme. Christian Böhm:
"Bei den körperlichen Gewalttaten ist ein Schwerpunkt schon bei Jungs, das heißt, wir sind bei 85, 90 Prozent Tatverdächtigen bei Jungs – aber auch bei 60, 70 Prozent Geschädigten bei Jungs. Wenn wir das allerdings ausweiten würden auf das Phänomen Mobbing, dann sind wir da eher in einer Gleichverteilung. Möglicherweise würden da auch Mädchen überwiegen."
Wenn es denn konkrete Zahlen dazu gäbe. Mobbingfälle sowie kleinere Übergriffe werden der Beratungsstelle oftmals gar nicht gemeldet. Fallen Schüler und Schülerinnen auf, folgen Mediationsgespräche, eine Vermittlung in die Boxschool oder ins Trainingsprogramm "Cool in School", das seit gut zehn Jahren an Hamburger Schulen stattfindet.
Helge Pfingsten-Wismer ist dort Trainer und hat eine Vermutung, wieso die körperlichen Übergriffe überwiegend auf das Konto männlicher Schüler geht. Er sieht das gesellschaftliche Umfeld als Auslöser dafür, dass "Jungs tendenziell eher motiviert werden – von ihren Eltern oder Mitschülerinnen und Mitschülern – zurückzuschlagen, sich nichts gefallen zu lassen. Und dass es gesellschaftlich weniger anerkannt oder akzeptiert wird, wenn Mädchen körperliche Gewalt ausüben."

Gewalt statt Argumente

Um die tieferliegenden Gründe für gewalttätiges Verhalten zu verstehen, helfe aber bei beiden Geschlechtern ein Blick in die Biografie – immer wieder gebe es da ein "schwieriges Elternhaus" mit psychischen Belastungen oder Suchterkrankungen der Eltern, oft auch Überforderung durch alleinerziehende Elternteile. Und dann sei die Frage, wie innerhalb der Familie mit Konflikten umgegangen wird – noch einmal Christian Böhm:
"Manchmal hängt es natürlich auch damit zusammen, wie ihnen Verteidigungsstrategien bei irgendwelchen verbalen Angriffen zur Verfügung stehen oder wie sie letztendlich auch gelernt haben, wie man sich durchsetzt – in ihrer Biografie, in ihrer Familie. All dieses spielt eine Rolle, wie schnell ein Kind, ein Jugendlicher zuschlägt."
Denn Gewalt führt zumindest kurzfristig zu einem Erfolg – sei es Anerkennung, das Gefühl von Macht oder schlichtes In-Ruhe-gelassen-werden, weswegen es eben auch nicht die besonders "harten" Typen seien, die zu Gewalt neigten, weiß Olaf Jessen von der "Boxschool":
"Das sind ganz häufig ganz, ganz arme Seelen! Sehr emotionale Menschen, mit denen wir zu tun haben. Das ist ein Hilferuf! Weil sie gar nicht wissen, anders umzugehen."
Körperliche oder psychische Gewalt als hilflose Reaktion, wenn andere Formen der Kommunikation versagen. Oder als strategische Maßnahme, um Anerkennung und Macht zu erlangen. Verhaltensmuster, die sich offensichtlich schon früh in der Kindheit einschleifen und insbesondere Jungs ihr Leben lang begleiten. Denn die Zahlen der Gewaltfälle an Hamburger Schulen lassen sich durchaus auf das Erwachsenenalter übertragen: Über 80 Prozent aller Gewaltstraftaten in Deutschland werden von Männern begangen.

Der Mann - das schwache Geschlecht?

Alles eine Frage der Prägung, der gesellschaftlichen Akzeptanz oder gar Anerkennung männlicher Gewalt? Oder gibt es auch genetische Voraussetzungen, die erklären, wieso Männer ganz offensichtlich so viel stärker zu körperlichen Übergriffen neigen?
Der Neurobiologe und Hirnforscher Gerald Hüther hat ein Buch mit dem Titel "Männer – Das schwache Geschlecht und sein Gehirn" geschrieben. Bis auf das Y-Chromosom seien die Geschlechter genetisch identisch:
"Männer haben ein X und ein Y, und Frauen haben zwei X. Ab einer bestimmten Phase der Embryonalentwicklung werden Gen-Sequenzen auf diesem Y-Chromosom aktiviert, und diese Aktivierung führt dazu, dass anstelle dieses weiblichen Geschlechtsorgans dann ein männliches entsteht – mit Hoden. Und vorgeburtlich diese Hoden dann auch schon anfangen, Testosteron zu produzieren. Wir kennen ja Testosteron als Anabolikum, das heißt, da wird dann schon mehr Muskelmasse angelegt. Und natürlich gibt es auch Einflüsse von Testosteron auf die Hirnentwicklung. Die Bestandteile im Hirn sind ja bei Mädchen und Jungs gleich – und ich vergleiche es immer gern mit einem Orchester: Das heißt, da gibt es genauso viele Instrumente da oben. Aber bei den Jungs führt die Wirkung des Testosterons dazu, dass die Pauken und Trompeten mehr in die erste Reihe kommen. Und dass hängt damit zusammen, dass bestimmte Bereiche im Hirn, die dann für späteres Durchsetzungsvermögen zuständig sind, dass die etwas schneller reifen und komplexer werden."
Jungs haben also Merkmale, die Mädchen nicht haben – und das war es? Nicht ganz, sagt Gerald Hüther. Jungs fehle auch etwas Entscheidendes.
"Auf den ersten Blick scheint es so, als ob der Unterschied wäre, dass Männer ein Y haben und Frauen nicht. Das bedeutet aber biologisch noch etwas ganz anderes, nämlich: Die Männer haben keine zwei X! Und das X-Chromosom ist ziemlich groß, dort liegen ganz viele Enzyme und Strukturproteine verankert als genetische Sequenzen. Und das bedeutet: Wenn auf dem einen X-Chromosom irgendetwas genetisch verankert ist, was nicht so ganz hundertprozentig funktioniert, gibt es keinen Ersatz. Die weibliche Zelle hätte die Möglichkeit, dann ein Enzym oder ein Strukturprotein, was nicht gut kodiert ist, auf dem einen X-Chromosom, es einfach von dem anderen abzuschreiben. Das können Männer nicht, und deshalb sind Männer gehandicapt, von Anfang an. Das ist so, als ob man mit einem Auto umherfährt und hat kein Ersatzrad dabei. Und das führt dazu, dass männliche Föten schon vorgeburtlich labiler sind, konstitutionell schwächer!"

Jungen auf der Suche nach Sicherheit

Diese konstitutionelle Schwäche führt laut Hüther bei Jungs zu einer anderen Form der Orientierung in der Welt:
"Wenn man mit so einer gewissen Schwäche zur Welt kommt, dann ruht man nicht so sehr in sich! Und dann muss man versuchen, Sicherheit zu finden. Und das tun die Jungs, indem die sich sozusagen von Anfang an eher festklammern – also nicht nur an der Mama, sondern alles, was mächtig ist, was kraftvoll aussieht, was stark aussieht, so als könne es die Welt erobern – das hat für Jungs eine magische Anziehungskraft. Da können sich die Eltern Mühe gegeben, diese Gerätschaften wie Panzer oder Gewehre oder Feuerwehrautos zu verstecken – dann nimmt das Kind am Ende eben Dinosaurier. Weil die sind eben auch so groß!"
Kann bei Jungs diese konstitutionelle Schwäche in Kombination mit einem ausgeprägteren Durchsetzungsvermögen und Antrieb auch für ein verstärkt aggressives Verhalten verantwortlich sein? Gerald Hüther sieht eine gewisse Prädisposition – aber "da muss man sich wirklich nochmal darüber unterhalten, ob das Aggressivität ist oder ob das der Einsatz von Körperkraft ist zur Durchsetzung eigener Interessen – und dann wäre es eine Bewältigungsstrategie zur Überwindung einer Schwäche. Dann fängt es an, ja viel interessanter zu werden! Dann wäre der Schläger kein Starker, sondern einer, der es nötig hat zu schlagen, weil er sich anders nicht durchsetzen kann. Das ist eine Bewältigungsstrategie, die man sich als Junge, wenn man in diese Welt hineinwächst, aneignen muss, damit man dort Halt findet. Damit man dort eine gewisse Position hat, aus der heraus man agieren kann. Und in einer anderen Welt, wo das nicht von den ganzen erwachsenen Männern so vorgemacht würde, würden auch die Jungs eine andere männliche Sozialisation durchlaufen."
Natürlich seien das alles nur Durchschnittswerte, ergänzt Hüther, diese Merkmale träfen längst nicht auf jeden Jungen zu.

Ungleichbehandlung schon von Geburt an

Dominantes männliches Verhalten als erlerntes, kulturelles Phänomen – davon sind auch Almut Schnerring und Sascha Verlan überzeugt. Das Autorinnenpaar beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit geschlechtsspezifischer kindlicher Prägung und führt unter anderem Fortbildungen zu geschlechtssensibler Bildungsarbeit in Kindertagesstätten durch. Die Ungleichbehandlung beginnt früh. Sascha Verlan:
"So ist es zum Beispiel so, dass Jungen, sobald sie krabbeln können, einen viel größeren Bewegungsradius zugestanden bekommen als Mädchen. Also Mädchen werden viel früher wieder zurückgerufen, setz dich doch mal her, während Jungs bewusst oder unbewusst halt einfach angeregt werden, sich weiter zu entfernen, die Welt zu entdecken. Und wenn die Kinder ein bisschen älter sind und beispielsweise auf dem Spielplatz irgendetwas passiert, die Kinder sich wehtun, dann wird bei den Jungs tendenziell eher mal so kurz drüber gewischt und gesagt: Ist nicht so schlimm, klettere wieder hoch! Während die Mädchen zu verstehen bekommen, dass sie das nächste Mal doch ein bisschen vorsichtiger sein sollen, dass sowas nicht wieder passiert. Und dann haben wir nachher natürlich solche Folgen, wie dass Männer insgesamt mehr Raum einnehmen als die Mädchen, auch dann später sehr viel unvorsichtiger, risikobereiter sind als die Mädchen."
"Ob das in Kindertagesstätten passiert oder auf dem Spielplatz oder in der Schule: Die Erwachsenen meinen, sie würden keine Unterschiede machen. Aber sie haben gegenüber Jungen einfach eine ganz andere Erwartungshaltung, wie die sich angeblich benehmen. Und Kinder spüren, was von ihnen erwartet wird. Das heißt nicht, dass sich nicht viele anders und dagegen entwickeln. Aber grundsätzlich mal ist es ja menschlich, dazu gehören zu wollen und richtig sein zu wollen."
Und was angeblich richtig ist, zeigen den Jungs und Mädchen nicht nur die Eltern.

Star Wars für Jungen, Prinzessinnen für Mädchen

"Wenn man guckt, wie Jungs medial und mit Spielwaren sozialisiert werden, dann kommen wir sehr schnell zu Star Wars, Ninja Go et cetera – also Fantasiewelten, wo es darum geht, das Böse zu besiegen. Dann geht es weiter Richtung Ego-Shooter. Und da geht es nie um Kooperation, da geht es nie um Empathie. Sondern es geht immer darum sich durchzusetzen, der Härteste, der Stärkte, der Coolste zu sein, sich abzusetzen von den anderen. Und die Hauptbotschaft ist natürlich: Sei alles, bloß kein Mädchen!"
"Wenn man sich einfach mal anschaut, was es für Duschgels und Shampoos für Kinder gibt: Es gibt tatsächlich ein Shampoo für harte Kerle, eines, das heißt 'Super-Hero' oder 'Mutig'. Und dem gegenüber steht die pinke Variante: 'Traumtänzerin', 'Wunderschön', oder 'Daddies Prinzessin'."
"Bei den Mädchen geht es immer um Magie und um Fantasie und um Felltiere, um lange Haare, sich um sich kümmern, um Kommunikation natürlich und um die beste Freundin."
"Wenn Jungs groß werden, lernen die sehr viel weniger differenziert im Durchschnitt, ihre Gefühle wahrzunehmen und zu benennen. Auch dazu gibt es ja ganz viele unterschiedliche Studien, dass viele Jungs und eben später auch Männer oft gar nicht erkennen, dass das, was sie als Wut empfinden, eigentlich Schmerz ist oder Enttäuschung oder Trauer oder nochmal ein anderes Gefühl – weil, alles fühlt sich irgendwie nach Zorn an, und irgendwas Externes, irgendjemand anderes ist Schuld an diesem Gefühl. Und nicht die Person selbst, die das Gefühl spürt! Man spricht dann von Externalisierung – die Schuld außen suchen, anstatt erst mal zu gucken: Was habe ich gemacht oder wie gehe ich selbst mit diesem Gefühl um."
"So eine typische Situation in der Kita oder auf dem Spielplatz: Ein Junge bewirft ein Mädchen mit Sand oder zieht an den Haaren. Dann ist das erst einmal normal, das wird dann dem Jungen auch so zugestanden – weil: Die Jungs sind ja eben so. Und dem Mädchen wird dann oft noch gesagt: Ja, der kann dir das halt nicht besser zeigen – aber eigentlich mag er dich ja. Da ist dann der Brückenschlag in die Erwachsenenwelt offensichtlich: Das Mädchen lernt, das hinzunehmen und sogar noch als Kompliment zu lesen. Und der Junge lernt natürlich, dass er damit durchkommt."

"Jungs nerven einfach!"

"Das ist ein Multifunktionsraum, hier wird auch gegessen, also hier können wir eine lange Tafel ausbauen. Und dann gibt es hier draußen auch noch einen kleinen Garten, der dann natürlich jetzt im Sommer auch genutzt wird. Und eine Werkstatt, aber die ist nochmal über den Hof drüber. Wenn sie über 18 sind, können sie die Räume auch eigenständig nutzen. Allerdings dann auch jungs- und männerlos."
Heike Rupp arbeitet seit 25 Jahren im Mädchentreff des Hamburger Stadtteils Sternschanze. Täglich nutzen zwischen acht und 25 Mädchen und junge Frauen das offene Angebot. Sara und Özlem, 18 und 21 Jahre alt, stört es keineswegs, dass hier keine Jungs sind: "Ja, Jungs nerven einfach!"
"Man würde vielleicht nicht so eng miteinander sein, sage ich mal! Ich glaube Jungs, wenn sie mit jemandem reden, denken nicht gleich daran, was Gefühle bei jemandem auslöst. Wenn ich jetzt mit jemandem rede und merke: Oh, ich verletze ihre Gefühle damit, dann würde ich das eher sein lassen oder es auf eine gute Weise sagen. Ich glaube, Jungs würden das einfach raushauen – oder dass dann, neben anderen Jungs, einfach cool geredet wird: 'Guck mal, ich mach sie jetzt gerade runter' oder so etwas. Ich glaube, so etwas gibt es einfach zu oft."
"Auch wenn ich dominanter rüberkam, auch in der Klasse war es früher so, dann war es immer so das Klischee: Mädchen dürfen sich nicht so verhalten, das gehört sich nicht so für ein Mädchen. Ich diskutiere dann einfach nicht mehr mit der Person. Ich halte mich dann zurück, weil ich weiß: Es bringt gar nichts mehr, mit der zu reden."
"Ich glaube, die Interessen sind einfach ganz anders!"
Auf die Frage, ob zum Beispiel die Werkstatt nicht auch für Jungs interessant sein könnte, reagiert Sara vehement: "Doch, könnte sein – aber es ist unsere Werkstatt!"

Geschütze Räume für Frauen

Für Heike Rupp, seit 30 Jahren in der Mädchenarbeit tätig, ist diese Reaktion nicht verwunderlich. Sie habe ihren Ursprung in der Erfahrungswelt von Mädchen und jungen Frauen:
"Wer ist lauter, wer setzt sich mehr durch? Das erlebst du auch am Arbeitsplatz, das erlebst du überall – und das ist genau ein Abbild eins zu eins auch in den Einrichtungen. Ich habe in gemischten Einrichtungen auch gearbeitet, und da ist das wirklich der Fall, dass Mädchen in die zweite Reihe abrutschen. Wir sprechen hier immer noch von bestimmten Hierarchien und von einem Patriarchat – das ist so! Wir reflektieren permanent, ist es eigentlich überhaupt noch notwendig, solche Räume vorzuhalten! Darauf arbeiten wir hin, dass es nicht in irgendeiner Weise separiert werden sollte oder müsste. Das wäre super, und das wäre auch ein Appell an unsere Herren Kollegen, dass sie in gemischtgeschlechtlichen Einrichtungen bewusste Jungenarbeit machen, geschlechtsreflektierende Jungenarbeit, so wie wir hier feministische Mädchenarbeit betreiben. Das gibt es – aber das gibt es leider noch nicht genug."

Das Dampfkesselmodell der menschlichen Sexualität

Frauen, die sich in unangenehmen oder Konfliktsituationen tendenziell zurücknehmen und auf geschützte Räume zurückgreifen. Männer, die daran gewöhnt sind, sich ungehindert Raum nehmen zu können. Ein Wegbereiter auch für sexuelle Übergriffe? Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal weiß, dass das Bild des Mannes, der "nicht anders kann", in Bezug auf Sexualität eine lange Tradition hat.
"Das ist das Dampfkesselmodell der menschlichen Sexualität, das ist im 18., 19. Jahrhundert aufgekommen. Das war die Vorstellung: Der Mann hat den heißen, inneren Samen – der muss raus, raus, raus – wie so ein Dampfkessel. Wenn der nicht ejakuliert wird, dann explodiert der Mann sozusagen. Also das Dampfkesselmodell bedeutet halt, dass die Frau mit allem, was sie macht, die muss mit jeder Handlung dafür sorgen, dass der Mann nicht von seinen Trieben überwältigt wird. Also sie darf keinen Minirock tragen, weil sonst kann er sich ja gar nicht beherrschen."
Alles Belange längst vergangener Zeiten? Mitnichten. Als 2011 die ersten so genannten Slutwalks stattfanden, also weltweit Frauenrechtsdemonstrationen, war die Vorstellung vom triebgesteuerten Mann auf feministischer Seite noch allgegenwärtig:
"Es gab immer noch so Handzettel wie: 'Männer, ihr könnt eure Triebe nicht unter Kontrolle halten – aber ihr könnt eure Handlungen unter Kontrolle kriegen!' So funktioniert ja auch männliche Sexualität nicht! Die gesellschaftlichen Narrative sind: Der Mann muss es immer wieder probieren, die Frau muss Nein sagen, sonst ist es zu billig, sonst ist es für den Mann nicht interessant, sonst hat er nicht die Befriedigung der Jagd. Das sind die sexuellen Botschaften, die wir bekommen. Und dann sagen wir Jugendlichen: Aber, sobald ihr Sex habt, müsst ihr total genau wissen, wie ihr ehrlich kommunizieren könnt und ihr müsst ein Nein verstehen. Es geht schon darum, eine Sexualkultur zu verändern, Empathie zu schulen."
Und auch eigene Grenzen verteidigen zu lernen. In Hochschulseminaren erfährt Sanyal immer wieder, dass dies keineswegs selbstverständlich für junge Menschen ist – vor allem nicht für Frauen:
"Für mich war das Verblüffende, dass es meistens darum ging, mit den Leuten darüber zu reden, dass sie sich selber das Recht genommen haben, Nein sagen zu können. Und dass uns das ja abtrainiert wird in der Gesellschaft: Mach keinen Ärger, jetzt bist du schon wieder diejenige, die sich beschwert. Und bei Sex soll es dann plötzlich funktionieren. Jede fünfte Vergewaltigung ist ein Vergewaltigungsversuch, weil sich das Opfer erfolgreich wehrt! Ich habe mit Wendo-Trainerinnen gesprochen: Bei sexueller Belästigung ist es sogar in 90 Prozent der Fälle so, dass sich die Situation entweder auflöst oder für uns persönlich wendet, wenn wir uns wehren. Das sind ja ganz wichtige Informationen, die wir überhaupt nicht bekommen. Stattdessen, jede Nachricht gibt uns ja das Gefühl: Die Welt ist gefährlich und wir können nichts machen!"

Frauen als Gewalttäterinnen

"Wenn meine Frau wütend war, war sie überhaupt nicht mehr zugänglich. Sie beleidigte mich, warf mit Gegenständen nach mir, ging mit Fäusten auf mich los. Ich fühlte mich dann sehr hilflos. Ich lebte nur noch im Schutzmodus, war sehr angepasst und permanent auf der Hut, wie auf der Flucht. Irgendwann eskalierte es, und ich hab mich im Schlafzimmer eingeschlossen. Als meine Frau dann die Tür eingeschlagen hat, habe ich die Polizei gerufen. Gemacht hat die Polizei nichts. Ich hatte große Schuldgefühle meiner Frau gegenüber und das Gefühl, versagt zu haben. Ich dachte, dass ich nicht richtig in der Lage war, Grenzen zu setzen. Meine Frau ist um einiges kleiner als ich, und ich könnte mich sicherlich wehren. Aber ich bin kein Mann, der sich prügelt – auch nicht mit anderen Männern. Einmal habe ich zurückgeschlagen, um mich zu wehren, da hat sie dann die Polizei gerufen und ich wurde aus der Wohnung gewiesen."
Hilfe bekam dieser 45-jährige Mann erst, als er sich an die 'Männerberatung Kiel' wandte, eine von bundesweit nur zehn Anlaufstellen für von häuslicher oder sexualisierter Gewalt betroffene Männer. Männer als Opfer tauchen hier im öffentlichen Diskurs deutlich weniger auf, Fälle gibt es aber in beiden Bereichen reichlich. Beraterin Angela Hartmann:
"Die Männerberatung ist ein Projekt vom Frauennotruf in Kiel, den gibt es schon seit knapp 30 Jahren, und wir haben in unserer Arbeit schon immer auch Anrufe von Männern gehabt, die nicht wussten, wohin sie sich wenden können. Und 2010, mit der Aufdeckung des Missbrauchsskandals an der Odenwaldschule und kurz darauf der Skandale, die in der Kirche öffentlich geworden sind, bekam das Thema immer mehr Öffentlichkeit, und viele Männer fühlten sich dadurch ermutigt, sich auch wirklich Hilfe zu holen."

Kaum Hilfe für männliche Opfer

Die Männerberatung startete 2012 zunächst als Modellprojekt, inzwischen hat sie drei Standorte in Schleswig-Holstein. Allein im Jahr 2017 suchten hier gut 170 Männer Hilfe.
"Das ist das Thema, das am meisten bei uns vertreten ist: Dass Männer zu uns kommen, die in der Kindheit sexuellen Missbrauch erlebt haben oder sexuelle Übergriffe. Häusliche Gewalt haben wir natürlich auch, und es gab gerade in den Anfängen der Männerberatung mehr Fälle von häuslicher Gewalt – aber auch da lag es daran, dass es gerade in den Medien mehr veröffentlicht wurde."
Im Bereich der häuslichen Gewalt ist die mutmaßliche Dunkelziffer an betroffenen Männern besonders hoch – und hier sind es oftmals Täterinnen. Die häusliche Gewalt einer Frau sei tendenziell eine andere als die eines Mannes, sagt Hartmann, die psychischen Folgen seien aber gleich schwer:
"Bei den Frauen ist die psychische Gewalt sicherlich ein größerer Faktor. Das fängt an mit Kontrolle, mit abfälligen Bemerkungen, mit Demütigungen. Und bis es dann zu den ersten Handgreiflichkeiten kommt, hat es in der Regel einen langen Vorlauf."
Auch die Anliegen von Männern und Frauen, die von sexueller Gewalt betroffen sind, ähneln sich. Angela Hartmann war vor Start der Männerberatung zehn Jahre lang im Frauennotruf tätig:
"Das Leid ist dasselbe, der Schmerz ist derselbe, und auch die Trauma-Folgestörungen sind oft sehr, sehr ähnlich. Wo es Unterschiede gibt, ist bei der Bewertung des erlittenen Leides und in der Rolle als Opfer. Zu gucken: Ja, ich bin Opfer, ich brauche Hilfe, und ich kann das nicht alleine. Im Beratungsprozess habe ich am Anfang sehr deutlich gemerkt, dass es sehr viel schwerer ist, die Männer auf der emotionalen Ebene zu erreichen. Also, Männer fühlen sich im kognitiven Bereich sehr viel sicherer, und es braucht länger, bis wirklich der emotionale Zugang gelingt."

Mütter als Täterinnen - ein Tabu

Der sei aber nötig, um das Trauma aufarbeiten zu können. Auch im Bereich der sexualisierten Gewalt sind die Täter zu 80 bis 90 Prozent männlich – bei männlichen wie weiblichen Opfern. Angela Hartmann schätzt, dass Jungs häufiger von sexuellem Missbrauch in der Kindheit betroffen sind als bisher angenommen. Studien hierzu schwanken zwischen fünf und 15 Prozent geschädigten Jungs – im Vergleich zu 15 bis 25 Prozent betroffenen Mädchen. Im Erwachsenenalter sind Männer weitaus seltener von sexuellen Übergriffen betroffen als Frauen.
Die von mehreren Bundesministerien finanzierte "Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs" geht davon aus, dass sexueller Missbrauch durch Täterinnen seltener entdeckt wird, weil solche Taten Frauen und insbesondere Müttern noch immer kaum zugetraut werden. Geforscht wurde in Deutschland über missbrauchende Frauen bislang wenig.
Männer und Frauen – von Natur aus unterschiedlich. Doch beeinflusst diese Unterschiedlichkeit auch die Neigung zu gewalttätigem Verhalten? Eine klare Grenzziehung zwischen genetischen und hormonellen Einflüssen sowie der sozio-kulturellen Prägung gestaltet sich schwierig.

Die Einteilung in zwei Geschlechter

Aber wem nutzt diese Andersbehandlung der Geschlechter eigentlich? Für Frauen wie Männer birgt sie ganz offensichtlich viele Probleme. Und wie sinnvoll ist eine bloße Einteilung in zwei Geschlechter?
"Wer sind diese Jungs und diese Mädchen? Schaue ich auf die Hormone, schaue ich auf die Gene, schaue ich auf die Körper, schaue ich auf die Sozialisation. Geschlecht ist ja vielmehr ein Kontinuum!"
"Mag sein, dass da Unterschiede sind. Aber die Frage ist: Wohin wollen wir damit? Wollen wir jetzt diese Unterschiede weiter fördern und Kinder immer weiter in diese Trennung hereinmanövrieren?"
"Wir wissen: Je mehr Menschen daran glauben, dass Männer und Frauen genuin unterschiedlich sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie sexuelle Grenzüberschreitungen zumindest theoretisch in Ordnung finden – auch dazu gibt es Forschung. Das heißt, es wäre ganz wichtig, die Gemeinsamkeiten zu betonen. Weil: Je mehr Menschen in der Lage sind, Empathie zu empfinden für andere Menschen, umso schwerer fällt es ihnen, Grenzen zu überschreiten. Das bedeutet aber auch Eigenempathie! Also, wenn wir Männern verbieten, in Kontakt mit ihren eigenen Gefühlen mit ihren eigenen Verletzlichkeiten zu sein, dann ist die Forderung, auf Frauen Rücksicht zu nehmen und deren Verletzlichkeiten wahrnehmen zu können, unrealistisch!"
"In der Vergangenheit sind Männer verführt worden. Diese Rollen, die ihnen von der Gesellschaft als Türen geöffnet worden sind, um ihre Schwäche durch die Übernahme einer möglichst bedeutsamen Funktion zu kompensieren – dann haben sich die Männer mit dieser übernommenen Funktion identifiziert und haben sich dann verwechselt. Wenn man dann manche Leute fragt: Wer bist du eigentlich? Dann sagen sie: Ich bin Arzt. Komisch, oder? Für die gesamte menschliche Entwicklung ist das nicht gut. Das ist nur gut für die Karriere und für die Gesellschaft, weil die solche rollenbesessenen Schauspieler gut gebrauchen kann – denen kann man ja alles versprechen! Und deshalb glaube ich, dass es viele Männer gibt, die diese Rolle als Mann, die sie da übernommen haben, sehr gerne spielen – aber noch gar nicht entdeckt haben, wer sie eigentlich als Mann sind. Und das gilt in gleicher Weise auch für die Frauen."
"Was brauchen sie? Ich denke, sie brauchen ein Stück Rückhalt, sie brauchen auch die Bestätigung – und vor allen Dingen: Sie brauchen auch andere Vorbilder! Ich möchte hier keine kleinen, verschüchterten Mädchen. Ich möchte gerne, dass sie ihre Lebensträume dann auch verwirklichen können – hier einzustehen und zu sagen: Ich mach das jetzt, und ich will das! Durchsetzungsvermögen – da müssen wir ein bisschen Nachhilfe leisten, weil das ja häufig von den Aufwachsensbedingungen nicht mitgegeben wird. Selbstwertgefühl – das ist der Punkt."
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