Manifest eines selbstbewussten Osteuropas

31.01.2008
Der 1960 geborene Andrzej Stasiuk gilt als einer der berühmtesten lebenden polnischen Schriftsteller. In den Texten des Bandes "Fado" zeichnet er ein Bild des Ostens, der sich vom Westen leiht, was er braucht. Ironisch malt er aus, wie demnächst Zigeuner "auf den Champs-Élysées ihr Lager aufschlagen".
"Reiseskizzen" ist eine zu kurz greifende Gattungsbezeichnung für dieses Buch von Andrzej Stasiuk. Denn in den polnischen Beskiden, der Slowakei, Rumänien, Albanien oder Montenegro erblickt der polnische Autor in "Fado" immer nur dasselbe oder sehr ähnliches. Aber Skizzen sind es: Versuche, das Flüchtige, wenig Beachtete, schnell wieder Verschwundene behände mitzuschreiben, ihm so Gestalt und Würde zu geben und vor dem Vergessen zu bewahren: "Ich beschreibe all das, weil kein anderer es tut."

Polens wohl berühmtester lebender Schriftsteller, 1960 geboren und seinen Nimbus als knorriger Öffentlichkeitsverweigerer sorgsam pflegend, wird zunehmend zum Propheten eines anderen Ostens. In "Die Welt hinter Dukla" hat er 1997 einer kargen, menschenleeren Gegend in Südostpolen ein transzendentes Leuchten verliehen. In "Unterwegs nach Babadag", einem ersten Band mit Reiseskizzen, sang er 2004 dem Verfall und der Zeitlosigkeit in Ost- und Mitteleuropa faszinierende Loblieder.

Beide Sujets finden sich natürlich auch in "Fado". Der heterogene Band versammelt neben Kindheitserinnerungen, zärtlichen Beobachtungen seiner Tochter und einer Meditation über das Gedenken an unbekannte Tote auf verlassenen Friedhöfen zu Allerseelen auch manche journalistische Gelegenheitsarbeit, etwa über Euro-Geldscheine oder eine Belgrader Konferenz über Danilo Kiš. Im Zentrum von "Fado" aber formuliert Stasiuk erzählend und reflektierend, tastend und fordernd so etwas wie ein Manifest eines selbstbewussten Osteuropa, das Westeuropa mit seinen eigenen Waffen zu schlagen und so zu überleben gedenkt.

Im montenegrinischen Badeort Budva dröhnt laute Musik über den Strand, überall wird gegrillt, Zuhältertypen mit Sonnenbrillen steuern schwere deutsche Autos rücksichtslos in die spazierende Menge hinein, halbnackte Frauen staksen auf 15-cm-Absätzen umher, abends flackert Stroboskoplicht über Tanzende und die auf dem Bürgersteig schlafenden Kinder, neben denen eine Pappschachtel für Geld steht. Die Berge gleich hinter der Stadt lassen diese "billige Imitation der Neuzeit" vergessen, als hätte es sie nie gegeben. In der archaischen Einöde suchen Esel und Ziegen nach Essbarem, die Häuser haben Fenster wie Schießscharten: hier herrscht die Blutrache. Nur die Autos erinnern in dieser "äußerst realen Vergangenheit" an das 21. Jahrhundert.

Aus solchen aufblitzenden Miniaturen gewinnt Stasiuk das Bild eines Ostens, der sich vom Westen leiht, was er braucht, und es verwandelt – so, wie die von dem polnischen Romantiker bewunderten Zigeuner. Im albanischen Pogradec sieht Stasiuk die Landschaft zur Kulisse werden, "die Kleider zu Kostümen, die Gesichter zu Masken, die Gesten zu Spiel". Die Wirklichkeit zum Theaterstück, zum Traum. Einem schäbigen, schreibt Stasiuk: Der Osten verändere eben lieber das Bild der Welt als diese selbst. Und er ziehe die Emotion der Vernunft vor, weil letztere ihm nur die wenig beneidenswerte eigene Situation zeige und in der Vergangenheit immer für Katastrophen gesorgt habe. "Nicht ausgeschlossen", ruft Stasiuk siegesgewiss in Richtung Westen, "dass unsere kontinentale Mission die Deformation eurer Errungenschaften ist, ihre Zersetzung, groteske Verwandlung und Parodie, die ihnen das Leben verlängert."

Das sind starke Töne. Sie klingen nach Identitätspolitik. So haben vor nicht langer Zeit Minderheiten wie Schwarze, Schwule, Lesben die negativen, auf sie gemünzten Begriffe mit neuem, positivem Inhalt gefüllt. Statt "Reclaim the streets" also "Lobet den Verfall"? Viele Osteuropäer werden wohl nicht trauern wollen über den Verlust von "Chaos, Unordnung, Verantwortungslosigkeit, Sorglosigkeit", von Tagträumerei, gepflegtem Selbsthass und grundlosem Überlegenheitsgefühl.

Diese Aufzählung Stasiuks klingt selbstironisch, ist es aber nicht nur. Die Errettung der Realität geringsten Ranges, ein Topos der polnischen Literatur, wird bei ihm zum Lebensgefühl. Dazu gehört, dass er in einem rumänischen Provinzhotel vor dem Frühstück erst mal gelassen die defekte, alles überschwemmende Toilette repariert. Und dem Westen ausmalt, demnächst würden Zigeuner "auf den Champs-Élysées ihr Lager aufschlagen, bulgarische Bären (..) auf dem Berliner Ku’damm ihre Kunststücke vorführen, halbwilde Ukrainer" vor den Toren Mailands "frauenfeindliche Kosakeneinheiten" gründen. "Und was die Albaner tun werden, übersteigt schlicht die menschliche Vorstellungskraft…"

Rezensiert von Jörg Plath

Andrzej Stasiuk, Fado.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.

Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2008. 160 S., 9,50 Euro