Manfred Görtemaker: Thomas Mann und die Politik

Rezensiert von Joachim Scholl · 05.08.2005
Thomas Manns Engagement gegen das Nazi-Regime hat den Eindruck entstehen lassen, der Literat habe sich im Laufe seiner politischen Entwicklung von einem strammen Nationalisten zu einem entschiedenen Demokraten entwickelt. Manfred Görtemaker hat nun in seinem Buch "Thomas Mann und die Politik" eindrucksvoll belegt, dass Mann eine innere Hinwendung zur Demokratie unmöglich war.
Thomas Mann: "Es ist die Stimme eines Freundes, eine deutsche Stimme, die Stimme eines Deutschlands, das der Welt ein anderes Gesicht zeigte und wieder zeigen wird als die scheußliche Medusenmaske, die der Hitlerismus ihm aufgeprägt hat. Es ist eine warnende Stimme. Euch zu warnen ist der einzige Dienst, den ein Deutscher wie ich Euch heute erweisen kann."

Thomas Mann im März 1941. Über die BBC spricht er aus dem amerikanischen Exil zu deutschen Hörern. Bis zum Kriegsende wird der Schriftsteller immer wieder seine literarische Arbeit unterbrechen, an den "Josephs"-Romanen, an "Lotte in Weimar", am "Doktor Faustus", um politische Essays zu verfassen, Vorträge zu halten und leidenschaftliche Appelle an seine Landsleute zu formulieren. Die Stoßrichtung ist klar: gegen Hitler, den Nazi-Terror, für die Alliierten, die Demokratie, den freien Geist.

Vor allem dieses entschlossene Engagement Thomas Manns während der Diktatur hat in den Jahrzehnten nach seinem Tod das Bild einer kontinuierlich reifenden Entwicklung im politischen Denken und Handeln entstehen lassen, ein Bild, das den Wandel vom einst apolitischen Künstler über den strammen Nationalisten des Ersten Weltkriegs bis hin zum entschiedenen Demokraten festschreibt. Diese Vorstellung, die sich mit der respektgebietenden literarischen Leistung und dem enormen öffentlichen Renommee des Dichters gut verträgt, hat erstaunlich lange angehalten und selbst gewichtige Einsprüche prominenter Kenner wie Joachim Fest oder Marcel Reich-Ranicki überstanden.

Erst die biographische Welle der 90er Jahre, allen voran Klaus Harpprechts Monumentalwerk, setzte neue, wirkungsvolle Akzente. Jetzt sprach man offen und ausführlich darüber, wie fern Thomas Mann die Politik im Grunde lag, über die chauvinistischen Ausfälle ab 1914, sein zunächst so zögerliches Verhalten im Exil und über die vielen Verstiegenheiten und eklatanten Fehleinschätzungen seiner späteren politischen Publizistik. Die kritische Linie dieser Bewertungen setzt nun Manfred Görtemaker fort; mit der sachlichen Akkuratesse des Wissenschaftlers entfaltet er Thomas Manns politische Biographie und Rolle. Unaufgeregt im Ton, deutlich in der Aussage:

"Thomas Manns elitäres künstlerisches Bewusstsein und mehr noch sein Geniegedanke, dessen wichtigster Maßstab Goethe war und der daneben eigentlich nur Wagner und Nietzsche gelten ließ, machten eine innere Hinwendung zur Demokratie unmöglich. Das allgemeine Wahlrecht, parlamentarische Regeln, Freiheit und Gleichheit blieben ihm ein Leben lang fremd. An Amerika bewunderte er später ebenfalls nicht die Demokratie, sondern Präsident Franklin D. Roosevelt – und an diesem wiederum seine Autorität, Macht und Durchsetzungsfähigkeit, die ihn zum einzigen ernsthaften Gegner Hitlers qualifizierten."

Dieser Passus gehört bereits zu den Schlussfolgerungen, die Manfred Görtemaker durch eine präzise Lektüre des gewaltigen Materials an politischen Schriften und Reden, Briefen und Tagebuch-Notizen überzeugend belegen kann. Thomas Manns Verständnis von Politik war im Kern von Literatur und Philosophie bestimmt, blieb letztlich immer ästhetisch. Goethe und Tolstoi, die Romantik und der deutsche Idealismus, Schopenhauer, Nietzsche und Wagner bildeten zeitlebens den Ideenraum für seine politischen Spekulationen. In diesem geistigen Kontext vollzog Thomas Mann abenteuerliche Operationen und Frontwechsel, die er nicht als Bruch, sondern als Fortentwicklung konstanter Grundsätze empfand. Seine berühmte "Wende" zur Demokratie 1922 in der Rede "Von deutscher Republik" fußt demnach auf demselben Prinzip wie die vier Jahre zuvor publizierten "Betrachtungen eines Unpolitischen", in denen Thomas Mann auf 600 Buchseiten alles daran setzte, die westlich-demokratische Zivilisation zum Erzfeind deutschen Wesens und deutscher Kultur zu stilisieren.

Der deutsch-amerikanische Germanist Erich Heller hat die "Betrachtungen eines Unpolitischen" als "Quellenreservoir für Thomas Manns schöpferisches Leben" bezeichnet und schon 1959 darauf aufmerksam gemacht, dass ganze Passagen der "Betrachtungen" wortwörtlich in den großen und viel beachteten Vortrag "Deutschland und die Deutschen" einflossen, den Thomas Mann 1945 in der Washingtoner Library of Congress hielt – mit gewissermaßen umgekehrten Vorzeichen: Nun waren deutsche Innerlichkeit, der Hang zur Mystik und Musik nichts Großartiges mehr, sondern fatal, weil verantwortlich für das Desaster des Nationalsozialismus. Auch Manfred Görtemaker hebt die zentrale Bedeutung der "Betrachtungen eines Unpolitischen" hervor, zunächst als Credo einer zutiefst verunsicherten Künstlerseele, die dann aber am einmal erarbeiteten, für politisch relevant erachteten Fundus zäh festhielt. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, wie unwillig, unter welchen Mühen Thomas Mann politisch schrieb – als reine Pflichterfüllung, "Gewissensdienst" nach seinen Worten. Dass er dennoch tief verstimmt war, wenn das Ergebnis nicht auf begeisterte Zustimmung stieß, erzählt Görtemaker mit einiger Süffisanz am Beispiel der Rede "Schicksal und Aufgabe", in der Thomas Mann 1943 vor amerikanischen Zuhörern seinen eigenwilligen Ansatz von Demokratie erläuterte, nämlich nicht etwa als, Zitat, "Anspruch und Sichgleichstellen von ‚unten‘, sondern als Güte, Gerechtigkeit und Sympathie von 'oben'." Thomas Mann hatte dabei Präsident Roosevelt als machtvollen, ‚guten‘ Autokraten vor Augen und wohl auch den damals gerade vollendeten Josephs-Roman, in dem er den religiös-philosophischen Gedanken vom heilbringenden "Segen von oben" entwickelte. Demokratie als milde Gabe nach unten durchgereicht? Das kam gar nicht gut an beim Publikum, der Autor war stinksauer über das "grenzenlos naive Volk", wie er bei anderer Gelegenheit die Amerikaner nannte. Görtemaker betont immer wieder den Unmut, die Lustlosigkeit, mit der Thomas Mann seiner selbstgestellten politischen Aufgabe nachkam. Auch die Radio-Propaganda gegen Hitler war keine Ausnahme.

"Für Thomas Mann persönlich war die Abfassung der Texte, die er für die regelmäßigen Sendungen zu besorgen hatte, zunehmend eine Last, obwohl die angriffslustigen Polemiken gegen Hitler und sein Regime auch ihr Gutes hatten: Sie befreiten ihn von nagenden Selbstzweifeln und den sonst so häufig depressiven Anwandlungen, die bei ihm in diesen Jahren kaum auftraten. [...] Was er inhaltlich mit seinen Sendungen, über den Wunsch zur Beseitigung Hitlers und seiner Schergen hinaus, zu vermitteln hoffte, ist leicht zu sagen: nichts. Natürlich ließ er sich teilweise auf amerikanische (und englische) Argumente und Parolen ein. Aber in Wahrheit war er ihnen gegenüber gleichgültig. [...] Im Tagebuch notierte er dazu: "Demokratischer Idealismus? Glaube ich daran? Denke ich mich nicht nur hinein, wie in eine Rolle?"

Manfred Görtemakers Monographie ist seit langem die erste und überfällige Gesamtdarstellung von Thomas Manns verschlungener politischer Biographie. Glänzend geschrieben, dabei philologisch exakt, ohne Polemik und dennoch entschieden, wird der Band zum Handbuch für die Forschung werden und hoffentlich darüber hinaus eine große Leserschaft finden. Schade ist nur, dass der Autor bei seiner Interpretation auf einen Text vom März 1939 verzichtet: auf "Bruder Hitler". Darin spricht Thomas Mann von einer merkwürdigen Seelenverwandtschaft mit der verkrachten, verhunzten Künstler-Existenz Hitlers. Hier ist der Schriftsteller auf ureigenem Terrain, der Welt seiner frühen Erzählungen, der dekadenten Bohème. Da kennt er sich richtig aus und entwirft ein Meisterstück politischer Psychologie; bis heute hat es Bestand. Eine Analyse Manfred Görtemakers dazu wäre sicherlich interessant. Thomas Mann allerdings, der stets resistent und hochempfindlich auf jegliche Form der Kritik reagierte, hätte für dieses spannende und lehrreiche Buch wohl nur ein Wort gefunden, jenes Wort, das oft in seinen Tagebüchern auftaucht, wenn seine Größe angezweifelt wird: "Unverschämt!"

Manfred Görtemaker: Thomas Mann und die Politik.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2005