"Manchmal gehe ich in die Proben und staune"

Claus Peymann im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 04.10.2011
Theaterengel und Theatermagier nennt Claus Peymann den US-amerikanischen Regisseur Robert Wilson. Das Berliner Ensemble habe ihm ermöglicht, sein eigenes Laboratorium in Deutschland zu errichten, so der Intendant der einst von Brecht gegründeten Bühne.
Liane von Billerbeck: Robert Wilson wird 70 heute. Am 4. Oktober geboren in Waco, Texas 1941, ein Mann, der sagt, dass ein Künstler nicht die Aufgabe habe, Antworten zu geben, sondern Fragen zu stellen. Wilson hatte als Junge mit einer Sprachbehinderung zu kämpfen, und manche sagen, dass diese Erfahrung und seine spätere Arbeit mit Behinderten, auch zu seiner Art, Theater zu machen, geführt habe. Die einen sprechen immer wieder von wunderbaren Inszenierungen, mit denen der Regisseur sein Publikum beglückt hat, die anderen von zahllosen Wiederholungen. Wilson ist nicht nur Regisseur, Autor, er ist auch Architekt, Lichtdesigner und Bühnenbildner. Und ein Ort, an dem er immer wieder inszeniert hat und vermutlich auch wieder inszenieren wird, das ist Brechts einstiges Theater am Schiffbauerdamm, das Berliner Ensemble. Dort ist Claus Peymann der Hausherr, und mit ihm habe ich kurz vor unserer Sendung gesprochen. Guten Morgen, Herr Peymann!

Claus Peymann: Hallo, guten Morgen!

von Billerbeck: Robert Wilson wird heute 70. Was wünschen Sie ihm?

Peymann: Ach du lieber Gott! Dass er so naiv und so forschend und suchend bleibt, wie er das die letzten Jahrzehnte gemacht hat. Das ist ein ganz großartiger, universeller Künstler, für mich immer das bessere Amerika. Immer wenn ich mich gerade über Amerika furchtbar geärgert habe, denke ich immer an Bob, und dann weiß ich, dass dort Träumer und großartige Theatermenschen leben wie auch bei uns. Ein Amerikaner, der eigentlich ein Europäer ist, ein ganz großartiger Mann. Ich wünsche ihm vor allen Dingen heute Morgen einen herzlichen Glückwunsch nach New York, denn da feiert er ja.

von Billerbeck: Wie haben Sie beide sich eigentlich kennengelernt?

Peymann: Also ich kann es Ihnen jetzt nicht mehr genau sagen, es liegt Jahrzehnte zurück. Da habe ich "Einstein on the Beach" gesehen in Hamburg, ich habe seine großen Aufführungen, monumentale Aufführungen von 12 Stunden Dauer in Paris gesehen, aber ich habe auch seine ganz einsamen, dunklen Inszenierungen gesehen, in denen er selber gespielt hat, mit einem jungen Amerikaner, der praktisch kontaktlos lebte. Und da hat er durch Monotonie der Wiederholungen, durch – ja, fast eine Art therapeutisches Theater gemacht. Ein ganz schwarzes, konzentriertes Theater, in dem er selber auch – damals ein schöner, eleganter, junger Mann – praktisch selber gespielt hat: Ein seltsames Anklopfen, ein magisches Suchen nach Verbindung, eine Sprache abseits der Sprache, eine Musikalität, die die Seelen erreicht. Diese seltsame Urzelle seines Theaters finden Sie auch heute in unseren Aufführungen, die er am BE hat, in "Lulu" oder in "Sonette" oder in der "Dreigroschenoper", da findet man immer noch diesen seltsamen Kern, der ihn so einmalig macht als Regisseur.

von Billerbeck: Er hat Sie in einem Interview mal einen Freund, einen Begleiter, wohlwollenden Begleiter seiner Arbeit und einen extrem korrekten Menschen genannt. Klingt so ein Lob aus dem Munde Wilsons?

Peymann: Ich habe keine Ahnung, wie er das gemeint hat. Ich weiß es nicht. Also wenn wir reden oder wenn wir arbeiten, ist das eigentlich immer ein gemeinsames Suchen. Und ob ich ein so korrekter Mensch bin – ich habe keine Ahnung. Ich ermögliche ihm halt, hier an dem sein eigenes Laboratorium in Deutschland zu errichten, ja vielleicht sogar in Europa. Ich weiß, dass er nirgends lieber arbeitet als bei uns, und es sind immer natürlich für alle Beteiligten wahnsinnige Abenteuer. Ich kann Ihnen gar nichts sagen, was für eine "Dreigroschenoper", die wir ja heute Abend in New York spielen, ich glaube, acht- oder zehn Mal, und ihm zum Geburtstag, was das für eine logistische Aufgabe für ein Theater ist. Das sind Herausforderungen, die auch, sagen wir mal, die Beleuchtung oder den Ton in einer Weise herausfordert – man ahnt es gar nicht. Wir müssen immer am Tag vorher ein leichtes Stück spielen. Dann wird die ganze Nacht durchgearbeitet. Das sind Wunderwerke der Präzision, die er einem Theater aufzwingt. Und ich rolle ihm halt, weil ich ihn so sehr liebe und weil ich eben finde, dass man einem solchen Genie eine Heimat bieten muss, … Und so ist eben das BE in den letzten Jahren mit vielen Aufführungen – "Lulu", "Sonette", "Dreigroschenoper", aber auch "Wintermärchen", "Leonce und Lena" – ist da praktisch seine Heimat geworden.

von Billerbeck: Eine Begegnung, die zwei Künstler danach dazu brachte, sich quasi gegenseitig zu beeinflussen, das war der Kontakt zum DDR-Dramatiker Heiner Müller, den Robert Wilson kennengelernt hat. Was fanden die beiden aneinander, dass sie sich so nahe waren und immer wieder geguckt haben, was macht der eine, was macht der andere?

Peymann: Ich meine, für mich ist es bis heute ein Wunder. Ich war ja auch mit dem Müller relativ befreundet, wir haben in Bochum seine ganzen Stücke uraufgeführt, als ich dort Theaterdirektor war. Begriffen habe ich das nie. Aber es gibt solche Paare. Auch meine lange Arbeit mit Thomas Bernhard zum Beispiel ist ja auch so ein Fall der vollständigen Gegensätzlichkeit. Also hier der seltsam protestantische Regisseur Peymann und dort dieser barocke antikatholische Thomas Bernhard, so ist der Anarchist und Dickkopf und seltsame Straßenjunge Heiner Müller und der abfliegende Amerikaner aus Texas. Weil sie so verschieden waren, haben sie sich gegenseitig magisch angezogen. Ich habe ja oft auch die beiden zusammen beobachtet. Die Vereinigung fand dann immer eigentlich über den Whiskey und den Wodka statt, und dann haben sie beide sich eigentlich angestaunt wie zwei seltsame Wesen aus ganz verschiedenen Welten. Also ich glaube, das sind manchmal die Reizungen, die durch solche Gegensätze entstehen, und davon lebt ja auch das Theater. Erklären kann man es sich nicht, außer durch den enormen Reiz der Unterschiedlichkeit. Hier, der DDR-Kommunist Heiner Müller und auch so ein bisschen der Brechtsche Theaterprolet, und auf der anderen Seite dieser hochgradig musikalische, irgendwo in den Sphären dahinfliegende, seltsame Theaterengel und Theatermagier, Theaterzauberer Bob Wilson – es ist schön, dass das Theater diese Begegnungen, die irgendwo jenseits der Ozongrenze stattfinden, dass das Theater solche Begegnungen ermöglicht. Und ich bin stolz, dass mein Theater, das Berliner Ensemble, der Arbeitsplatz und das Laboratorium eben für Bob ist.

von Billerbeck: Claus Peymann ist mein Gesprächspartner. Wir sprechen über Robert Wilson. Der Theatermann wird heute 70 Jahre alt. Die Deutschen brauchen immer einen Grund, hat Wilson mal in einem Interview gesagt. Das heißt, alles, was er da treibt auf der Bühne, muss er den Schauspielern erklären. Ist das für Wilson dann nicht besonders schwer, mit deutschen Schauspielern an einem deutschen Theater, dem Berliner Ensemble, zu arbeiten?

Peymann: Also wenn Sie das sehen würden, mit welcher Faszination da so etwa mit Angela Winkler oder anderen großen Schauspielern, mit welcher Faszination man da miteinander musiziert – er ist ja im Grunde ein Regisseur, der malt. Die Schauspieler wissen, sie sind in einer bestimmten Weise Material. Das hören Schauspieler gar nicht gern, wenn man ihnen das sagt, aber wenn der Bob dabei ist, dann werden selbst die größten Schauspielergenies werden dann zu einer Farbe – wobei dann immer noch der große Schauspieler noch herausragt aus dem Ensemble. Und so ist ja auch die Geschichte Bobs mit dem deutschen Theater eine Geschichte auch der ganz großen Schauspieler. Das war ja die Hauptperiode, das war Wuttke, Minetti, das war Ilse Ritter und eben Angela und Stefan Kurt und wie sie alle heißen. Es sind die ganz Großen, die angezogen werden von Wilson. Und vielleicht ist auch da der Kontrast der Reiz. Aber er erfordert eine Disziplin – manchmal stehen die Schauspieler noch wenige Tage vor der Premiere morgens ab zehn bis abends um elf im Grunde in einem magischen Feld, in dem sich eine Hand bewegt, ein Scheinwerfer an und aus geht, ein Bild wechselt, und das alles in einer gewissen konzentrierten Statik. Manchmal gehe ich in die Proben und staune, bei mir herrscht eine ganz andere Wildheit, und da ist eben eine gezügelte, im Grunde wirklich wie eine große Mozartsymphonie, in der auch jeder Ton gespielt wird und ausgefeilt ist, wenn Simon Rattle dirigiert, und dann erst geht die Fahrt ab, und dann entsteht auch eine Wildheit wie etwa in den "Sonetten".

von Billerbeck: Wilsons Inszenierungen, das weiß jeder, der sie gesehen hat, gerade am Berliner Ensemble, die wirken ja bis ins kleinste durchkonstruiert. Keine noch so kleine Bewegung eines Schauspielers, die geschieht da irgendwie freihändig. Jedes Augenzwinkern scheint geplant. Ist Wilson ein Kontrollfreak?

Peymann: Ja, gut, der Begriff hat einen negativen Beigeschmack. Ich meine Kontrollfreaks sind eigentlich alle guten Regisseure, verstehen Sie? Wir sind ja das Auge des Zuschauers unten, und natürlich ist Präzision nicht eine Berufsspezialität von Bob Wilson, diese Präzision finden Sie im "Zerbrochenen Krug" von Peter Stein oder in meinen Aufführungen oder in Aufführungen von Andrea Breth, also das glaube ich nicht. Er ist eine Mischung von höchster mathematisch-musikalischer Logik, aber wenn ich mit ihm über Stücke rede, wenn wir überlegen, was macht er als Nächstes – und wir planen ja für die übernächste Saison wieder eine neue Produktion mit Bob –, dann ist das schon auch ein Forschen in dem großen Repertoire des europäischen Welttheaters. Und wenn dann eine solche Produktion wie "Sonette" entsteht, etwas ganz Ungewöhnliches – also auf der Basis dieser wunderbaren Shakespeareschen Gedichte einen Theaterabend zu zaubern mit Rufus Wainwright –, dann ist das Präzision und Wildheit in einem, also gezähmte Explosionen.

von Billerbeck: Nun gibt es ja zunehmend Kritiker – man konnte das nach den letzten Inszenierungen von Robert Wilson lesen –, die sagen: Der wiederholt sich, der dreht sich im Kreis, der schlägt keine Funken mehr. Man könnte ja auch sagen: Wo Wilson draufsteht, ist immer auch Wilson drin. Zu welcher Seite neigen Sie?

Peymann: Also wissen Sie, das ist ein solcher Blödsinn. Sie erkennen doch beim ersten Ton: Das ist Bach. Sie erkennen beim ersten Ton: Das ist Mozart. Und ...

von Billerbeck: Und Sie erkennen beim ersten Bild: Das ist Wilson.

Peymann: Ja, und warum soll das nicht so sein? Er ist nicht bequem, er fordert sich heraus bis an den Rand der Zerstörung, und – ich weiß es nicht – was heißt Wiederholungen? Sie erkennen den Meister an seiner Handschrift, und so ist es eben auch bei Wilson, und ich finde das einfach ganz lächerlich, was die Leute schreiben, und uninteressant.

von Billerbeck: Claus Peymann über den Theaterregisseur Robert Wilson, der heute 70 wird. Wir gratulieren dem einen und sagen dem anderen danke für das Gespräch!

Peymann: Wiedersehen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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