"Man versucht, uns mit einem Butterbrot weiter abzuspeisen"

Christian Stürmer im Gespräch mit Jürgen König · 30.08.2010
Als ein Leben in Armut beschreibt der Vorsitzende des Contergannetzwerks Deutschland, Christian Stürmer, den Alltag seiner Leidensgenossen. Nachdem sich die Politik nicht gesprächsbereit gezeigt habe, bliebe nur der Gang vor den Europäischen Gerichtshof.
Jürgen König: Contergan, dieser Begriff steht für tausendfaches Leid, Menschen, schon geboren mit verstümmelten Armen oder Beinen, nur weil die Mutter während der Schwangerschaft ein Beruhigungs- und Schlafmittel genommen hatte, das sich als fatal erweisen sollte – eben Contergan. Die meisten der heute noch etwa 2800 Contergangeschädigten sind um die 50 Jahre alt. Finanziell entschädigt wurden sie immer noch nicht ausreichend. Die aus einem Stiftungsfonds finanzierten Renten sind niedrig. Nachdem eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht nicht zugelassen wurde, erhebt heute das Contergannetzwerk Deutschland Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Bundesregierung. Christian Stürmer ist Vorsitzender des deutschen Contergannetzwerkes, das jetzt diese Klage erhebt. Herr Stürmer, ich grüße Sie!

Christian Stürmer: Ich grüße Sie auch!

König: Vielleicht einleitend: Beschreiben Sie uns doch einmal die Situation, in der Contergangeschädigte heute im Jahr 2010 leben!

Stürmer: Contergangeschädigte leiden unter Spät- und Folgeschäden. Also sie konnten nicht so intensiv ihrer Berufstätigkeit nachgehen, müssen verfrüht aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Es herrscht dort bitterste Armut teilweise, sie konnten kaum Rentenansprüche aufbauen. In einem Fall beispielsweise wurde eine Contergangeschädigte vor ein Strafgericht gestellt, weil sie ihre orthopädischen Schuhe nicht hat bezahlen können. Ich als Vorsitzender des Contergannetzwerkes erlebe jeden Tag, unter welcher Armut die deutschen Contergangeschädigten eben leiden.

König: In einer Presseerklärung teilte das Contergannetzwerk jetzt mit, Zitat: "Die Anrufung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte geschieht vor allem in der Hoffnung, dass sich nach den vergangenen Jahrzehnten die deutsche Politik wenigstens innerhalb dieses Verfahrens zu einem konstruktiven Gespräch auf Augenhöhe bereitfinden wird. Hat es also in den vergangenen Jahrzehnten solche Gespräche auf Augenhöhe gar nicht gegeben?

Stürmer: Nein, das war nicht der Fall. Also wir vom Contergannetzwerk gerade haben, bevor wir die Verfassungsbeschwerde eingereicht haben, uns die nicht vorhandenen Arme und Beine ausgerissen, um mit der deutschen Politik in ein Gespräch zu kommen. Das ist gescheitert. Einheitliche Texte verschickt sowohl von der SPD, die Grünen, die CDU, alle gleichsam die floskelhaften Ablehnungsformulierungen auf unsere Fragen zurückgesandt. Und uns blieb dann nichts anderes übrig, als dann zu versuchen, nach diesen Gesprächsangeboten, die wir gemacht haben, auf dem Rechtsweg unsere Ansprüche eben voranzutreiben. Wir haben also dann die Verfassungsbeschwerde eingereicht, die wurde halt nicht zugelassen. Und jetzt als Ultima Ratio, als wirklich letztes Mittel, haben wir eben die Klage bei Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte jetzt eingereicht. Die umfasst fünf Leitz-Ordner, mehrere Tausend Seiten, beschäftigt sich profund mit den rechtshistorischen und mit den tatsächlichen Gegebenheiten. Wir hoffen jedenfalls, auch mit dieser Klage jetzt zu erreichen, dass sich die deutsche Politik jetzt wirklich einmal zu einem Gespräch mit den Opfern des Conterganskandals bequemt.

König: Irgendwie klingt das unglaublich, Herr Stürmer, was Sie sagen, dass es nie solche Gespräche gegeben hat. Man ist fassungslos, wenn man das hört.

Stürmer: Ja, in der Tat ist das nicht zu glauben. Es gab Gespräche mit verkrusteten Strukturen, das heißt also mit dem Bundesverband der Contergangeschädigten. Aber die Contergangeschädigten als solche wurden nie komplett in einen Dialog mit einbezogen, obwohl sie lauthals danach gerufen haben.

König: Es wurde im Stiftungsgesetz ja festgelegt, dass mit der Gründung dieser Stiftung alle weiteren Ansprüche an die Firma Grünenthal, die damals Contergan hergestellt hat, erlöschen.

Stürmer: Richtig.

König: Ich hatte den Eindruck, als ich jetzt Ihre Internetseiten studiert hatte, dass es das vor allem ist, wogegen Sie vorgehen, was Sie geändert sehen wollen?

Stürmer: Ja, das ist das Zentrale, woran wir auch rechtlich eben anknüpfen. Nach Artikel 1 des ersten Zusatzprotokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention ist der Staat verpflichtet, das Eigentum zu achten. Indem er uns unsere Ansprüche gegen unseren Schädiger, die Firma Grünenthal, weggenommen hat, ohne sie durch vergleichbare Ansprüche zu ersetzen, hat er alles andere getan, als eben unser Eigentum zu achten. Er ist in Haftungsnachfolge, das räumt er selber ein, wir bringen da seitenweise Zitate dazu. Nur dieser Haftungsnachfolge kommt er nur unzureichend nach. Im Gegenteil, er stellt uns schlechter als vergleichbare Betroffenenkreise nach Zivilrecht, und er stellt uns zugleich sogar schlechter wie vergleichbare Personenkreise aus dem öffentlich-rechtlichen Leistungsspektrum. Beispielsweise zahlt der Staat für Opfer privater Gewalttaten mehr als für Contergangeschädigte, an denen er tatsächlich selber mit Schuld hat.

König: Und das, sagen Sie, verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention?

Stürmer: Unseres Erachtens nach in allerdeutlichster Weise.

König: Die Bundesrenten werden ja gezahlt aus dem Fonds der Conterganstiftung. Sie sitzen stellvertretend im Stiftungsrat. Wie ist generell das Contergannetzwerk in den Gremien dort vertreten, welchen Einfluss haben Sie dort? Denn das wäre doch eigentlich, dachte ich mir, der Ort, wo diese Auseinandersetzung geführt werden müsste?

Stürmer: Es wird gemauert nach wie vor. Die alten Strukturen, die es seit Jahrzehnten gab, um die Conterganopfer quasi klein zu halten, die werden jetzt in leicht veränderter Form weiter beibehalten. Wir werden einfach nicht ernst genommen. Man versucht, uns mit einem Butterbrot weiter abzuspeisen. Man wartet auf die biologische Lösung, bis die Conterganopfer endlich jetzt das Zeitliche gesegnet haben. Wir hier in Deutschland bekommen die geringsten Entschädigungen weltweit. Selbst in Brasilien bekommen die Leute eine höhere Entschädigung, Betroffene, die von dem Conterganskandal auch tangiert waren.

König: In Deutschland werden, haben wir vorhin gehört, maximal 1116 Euro monatlich gezahlt. Wie viel im Durchschnitt?

Stürmer: Ja im Durchschnitt, das lässt sich so jetzt schlecht sagen. Schwerstgeschädigte halt ohne Arme und ohne Beine bekommen 1116 Euro. Alleine die Assistenz eines Schwerfachgeschädigten kostet monatlich 12.000 Euro. Da braucht es drei Leute, um ein selbstbestimmtes Leben zu gewährleisten. Die deutschen Opfer werden auf die Sozialkassen verwiesen.

König: Also Hartz IV.

Stürmer: Und die zahlen natürlich ... Ja, Hartz IV oder was weiß ich was. Aber auf jeden Fall Beträge, mit denen nicht im Ansatz ein selbstbestimmtes Leben zu führen in der Lage sind.

König: Ich habe auf der Internetseite von Grünenthal, also von der Firma, die früher Contergan hergestellt hat, gelesen, Zitat: "Grünenthal sucht im Rahmen eines konstruktiven und vertrauensvollen Dialogs mit dem Bundesverband Contergangeschädigter e.V. sowie mit der Bundesregierung nach einer gemeinsamen Lösung, um die Lebenssituation der Betroffenen zu verbessern." Es gibt Kontakte, stand da jedenfalls, zwischen der Eigentümerfamilie Wirtz und dem Bundesverband Contergangeschädigter und Grünenthalopfer (BCG). Bestehen solche Kontakte auch zum Contergannetzwerk?

Stürmer: Nein, also es ist so, dass ich die Bundesvorsitzende noch im Ohr habe, als sie auf der Versammlung hier in Baden-Württemberg ...

König: ... Entschuldigung, die Bundesvorsitzende von was?

Stürmer: Von diesem Bundesverband. Sie hat da selbst erklärt, dass sie sämtliche Gespräche mit der Firma Grünenthal abgebrochen hat und jetzt gegenwärtig gar keine Gespräche mehr bestehen. Also von daher schreiben die da etwas, was nicht der Wahrheit entspricht. Da wird gemauert ohne Ende, auch vonseiten von Grünenthal. Die haben nichts gezahlt. Jahrzehnte haben die nichts gezahlt, die haben zugesehen, wie Leute mit 545 Euro bis zum 1.7.2008 im Monat darben mussten, Leute ohne Arme und ohne Beine, und haben sich die Milliarden in die Tasche gestopft.

König: Aber es soll eine freiwillige Spende von 50 Millionen Euro ...

Stürmer: Jetzt, ja natürlich. Aber die haben sich die Milliarden in die Tasche gestopft, die Familie Wirtz gehört zu den 30 reichsten Familien Deutschlands, haben 3,45 Milliarden angehäuft und haben zugesehen, wie Leute mit 545 Euro darben müssen ohne Arme und ohne Beine. Und jetzt nach dem Fernsehfilm "Eine einzige Tablette" hat der Staat ganz rasch aufgrund des öffentlichen Skandals die Renten verdoppelt. Und die Firma Grünenthal konnte da nicht außen vor bleiben, hat dann eine gnädige Spende in Höhe von 50 Millionen bei der Stiftung abgeliefert – unter der Auflage, dass diese Spende auf 25 Jahre verteilt wird. De facto bekommt davon ein Vierfachgeschädigter monatlich 300 Euro und ein Mittelfachgeschädigter – das sind Leute schon ohne Arme, ohne Beine – 191 Euro. Das soll eine befriedigende Lösung sein? Selbstverständlich nicht! Wir hier in Deutschland bekommen die geringsten Entschädigungen weltweit.

König: Man merkt Ihnen Ihre Erregung an. Wie gehen Sie mit dieser Wut – nennen wir es ruhig so – im Alltag um, wie kompensiert man so was?

Stürmer: Na ich bin Jurist. Und es ist einfach so, dass ich in der Sache natürlich auch emotional bin, das ist richtig. Aber also in meinem Alltag hat das eigentlich nun keine sonderliche Bedeutung, wenn man mal eben jetzt außen vor lässt, dass ich jetzt ziemlich viel Zeit dafür aufbringe, um jetzt unserer Sache jetzt Vortrieb zu leisten. Aber im Alltag selber hat das an sich eine rudimentäre Bedeutung.

König: Das Contergannetzwerk Deutschland verklagt die Bundesregierung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des deutschen Contergannetzwerkes, mit Christian Stürmer. Herr Stürmer, ich danke Ihnen!

Stürmer: Vielen Dank!
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