"Man stört sich am Inhalt"

Elfie Siegl im Gespräch mit Katrin Heise · 10.02.2010
In der russischen TV-Serie "Schkola" gibt es Kritik an den Zuständen des Landes. "Die Schule wird angeschwärzt", sagt die frühere Russland-Korrespondentin Elfie Siegl über die Serie, die nun nicht mehr ausgestrahlt werden soll.
Katrin Heise: Schüler, vor denen die Lehrer Angst haben, die im Unterricht herumpöbeln, stören, ihn boykottieren, die Bier trinken, also Jugendliche, die nichts mit sich anzufangen wissen, die nicht mit ihren Problemen fertig werden. Aber wie denn auch? Erwachsene, inklusive Eltern und Lehrer, scheinen ja als Vorbilder, als Hilfe auszufallen. Fernsehserien, die ein solch drastisches Bild vom Schulleben zeigen, lösen in Deutschland regelmäßig empörte Debatten aus. Auch in Russland.

Seit Mitte Januar sorgt der Alltag einer Moskauer Mittelschule, gezeigt als Serie mit dokumentarischem Anstrich, im ersten Kanal des russischen Fernsehens für landesweite Aufregung. Eine solche Aufregung, dass die Serie jetzt in einigen Tagen aus dem Programm genommen werden soll. Den Stein des Anstoßes gesehen und die Diskussionen verfolgt hat Elfie Siegl. Jahrelang war sie Russland-Korrespondentin für das Deutschlandradio. Schönen guten Tag, Frau Siegl!

Elfie Siegl: Guten Tag!

Heise: Bevor wir jetzt über die Reaktionen auf diese Serie sprechen, geben Sie uns doch mal ein genaueres Bild: Was ist das für eine Sendung?

Siegl: Das ist eine Serie, auf 60 Folgen geplant. Sie spielt in einer konkreten Moskauer Mittelschule, in einer der Schlafstädte, also wo nicht reiche Leute wohnen. Und es wird gezeigt eine neunte Klasse, die Schüler sind 16 Jahre alt, weil man in Russland mit sieben Jahren in die Schule kommt, mit ihren Problemen - Sie haben das schon erwähnt. Da wird gezeigt, dass sie eben Alkohol trinken, dass sie kiffen, dass sie auch sexuelle Bedürfnisse haben und die auch ausleben, und vor allen Dingen, dass sie die Lehrer überhaupt nicht achten. Also von den Lehrern hat eigentlich keiner eine Autorität.

Die Schüler albern im Unterricht, die Lehrer sitzen im Lehrerzimmer, haben auch kein richtiges Interesse am Unterricht. Sie sind bestechlich, sie bessern ihre Gehälter auf mit Nachhilfeunterricht, der aber auch nicht richtig läuft. Und dann werden natürlich die Elternhäuser gezeigt, Schüler, die eigentlich kein Zuhause haben, die Familien, die in allerkleinsten, engen Wohnungen wohnen, die Väter, die oft Alkoholiker sind, die Mütter, die keine Arbeit haben, und die Schüler, die dann nach der Schule eben nur die Straße haben zum Leben.

Und das Ganze wird so aufgenommen, wie es im russischen Fernsehen bisher nicht üblich war, mit einer Handkamera. Also man sieht zum Beispiel nur halbe Gesichter, Ohren, Hände, dann sieht man Szenen in der Klasse. Man hat das Gefühl, es gibt gar kein Drehbuch, es ist sehr spontan. Der Dialog der jungen Leute, sie benutzen Verbrechersprache, Jargon, eine Sprache, die ältere Leute schon gar nicht mehr verstehen. Und verschiedene Handlungsstränge sind parallel nebeneinander, werden gegeneinander geschnitten, also es ist ein sehr großes Tempo und eine sehr große Unruhe eigentlich auch.

Heise: Vielleicht können wir uns ja mal ein Beispiel anhören. Sie haben eine Szene mitgebracht?

Siegl: Ja, das ist ein Trailer, der läuft, um darauf hinzuweisen, auf die Sendung im Fernsehen.

Trailer

Siegl: Aus diesem kleinen Ausschnitt hört man ganz deutlich, wie schnell, wie fetzig das Ganze gemacht ist.

Heise: Ist dieses Ungewohnte, dieses Fetzige das, woran sich die Kritik vor allem entzündet?

Siegl: Eigentlich nicht, das finden die Leute ganz gut, weil auch das ein Kontrast ist zu den eher gemütlichen anderen Serien im Fernsehen. Es wird im Allgemeinen gesagt, die Kameraführung ist toll und die Regie und das Künstlerische und die Umsetzung ist prima. Man stört sich am Inhalt.

Die Schule wird angeschwärzt, die Lehrer sind halb debil und schlecht ausgebildet, und die Schüler tanzen ihnen auf der Nase herum. Kurz und gut, das hat mit der Realität der russischen Schule eigentlich nichts oder wenig zu tun.

Heise: Sagen die Kritiker. Was sagen die Befürworter?

Siegl: Ja, interessant ist dabei zweierlei: Der russische Erziehungsminister, Fursenko heißt der, der hat zugegeben, er hat die Serie gesehen, ein, zwei Folgen, und findet sie nötig, gerade aus den Problemen heraus, die die Schule heute hat. Darüber müsste gesprochen werden, auch wenn es übertrieben ist, aber es ist die künstlerische Freiheit zum Beispiel.

Und er sagte, zitiert von einer Zeitung, einer Moskauer Zeitung, er habe sich mal mit Statistiken befasst, die Aussagen machen über Alkoholmissbrauch an Schulen und auch Drogenmissbrauch. Und er sagt, wenn er diese Statistiken liest, muss er sagen, dass in dem Film die krasse, die ganze Wahrheit noch nicht einmal gesagt worden ist.

Und dann gibt es noch den Beauftragten für Kinderrechte der russischen Föderation des russischen Präsidenten Medwedew, der selber vier Kinder hat übrigens, dieser Beauftragte, der hat sich auch positiv über die Serie geäußert und hat das Argument ein bisschen entkräftet, dass diese Serie, die am frühen Abend läuft und spät nachts, aber am frühen Abend, wenn sie von Kindern gesehen wird, schlechten Einfluss ausübt auf die Kinder.

Beauftragter Kinderrechte: Wer behauptet, die Kinder sehen es sich an und kopieren das dann, ist naiv. Leute, die das sagen, kennen sich in der Psyche von Kindern nicht aus. Ein Kind bewertet viel genauer als ein Erwachsener den Wahrheitsgehalt dieser Serie, weil es in dem entsprechenden Schulmilieu lebt. Deshalb ist es wichtig zu erfahren, was Kinder über die Serie denken.

Heise: Die Fernsehserie "Schkola" zeigt im russischen Fernsehen Zustände an russischen Schulen, die Empörung auslösen. Allerdings Empörung weniger an den Zuständen als darüber, was da jetzt also öffentlich gezeigt wird. Unser Thema im Deutschlandradio Kultur mit der Journalistin und Russland-Kennerin Elfie Siegl. Frau Siegl, wir haben ja jetzt schon das Pro und Kontra so ein bisschen gehört, wie sieht denn da tatsächlich die Wirklichkeit an russischen Schulen aus?

Siegl: Also die Wirklichkeit sieht so aus, dass die Schule eigentlich seit Ewigkeiten nicht reformiert worden ist. Es ist eine Paukschule, eine recht totalitäre Schule, wo Lehrer mit Einschüchterungsmethoden versuchen zu arbeiten, wo sie Lehrstoff vermitteln dahingehend, dass die Schüler einfach sehr viel auswendig lernen müssen und dann abgefragt werden.

Es gibt keinerlei Diskussionen, es gibt vor allen Dingen auch – vielleicht in Ausnahmefällen mag es das geben – keinerlei Gespräche über die Probleme der Jugendlichen. Es gibt zum Beispiel keine Sexualerziehung an den Schulen, weil die Eltern das ablehnen. Und es gibt immer wieder Versuche, auch jetzt vom Präsidenten Medwedew, zu sagen, wir müssen eine Schulreform machen, das muss alles anders werden, unsere neue Schule muss die Persönlichkeiten der Jugendlichen entwickeln und so weiter. Schöne Worte, und es gibt das Jahr des Lehrers in diesem Jahr, um den Lehrern was Gutes zu tun und ihnen zu sagen, wie toll sie doch sind, aber es wird eigentlich nichts gemacht an Reformen.

Heise: Dem Lehrer was Gutes tun, wäre ja zum Beispiel ein Ansatz, an der Bezahlung zu arbeiten. Wie sind Lehrer bezahlt, wie sind sie angesehen?

Siegl: Lehrer gehören zu den Angestellten des öffentlichen Dienstes in Russland, wie auch übrigens Ärzte, und sie sind sehr, sehr schlecht bezahlt. In Moskau bekommen sie vielleicht 300, 400 Euro umgerechnet im Monat, das ist die absolut untere Grenze.

Das Ergebnis ist, dass Lehrer normal davon nicht leben können, sie müssen zusätzlich sich was verdienen, etwa durch Nachhilfestunden, oder aber auch – und das klingt auch in der Serie an – auf dem Wege der Korruption, dass zum Beispiel gute Examensnoten verkauft werden.

Heise: Wenn man jetzt hört, dass eine solche Serie in einem staatsnahen Sender gezeigt wird und dass Medwedew und auch Putin sie sogar noch unterstützt haben, da wundert man sich ja schon. Also das heißt, die beiden gehören zu den Kritikern des russischen Schulsystems?

Siegl: Ja, das würde ich sagen, aber nicht nur die beiden, nur entscheidend ist, bleibt die Kritik nur, sind das nur Worte oder wird was getan, wird was umgesetzt. Und man hilft den Lehrern nicht, indem man das Jahr des Lehrers deklariert, sondern es wird ja auch gesagt, das Sozialprestige der Lehrer ist ganz schlecht geworden, also nach dem Zerfall der Sowjetunion.

Sie verdienen sehr wenig, junge Leute wollen nicht Lehrer werden, auch wenn sie pädagogische Hochschulen absolvieren, sie wollen vor allen Dingen nicht irgendwo in die Dörfer geschickt werden, wo die Situation noch viel kritischer ist. Die Serie spielt hauptsächlich in Moskau eben.

Und da muss man endlich mal ansetzen und was tun, also die Lehrer vor allen Dingen auch besser bezahlen. Und dass sie sich auch ihre Lehrbücher kaufen können, das können viele Lehrer heute auch nicht mehr in Russland, die haben nichts in der Hand, aufgrund dessen sie unterrichten.

Heise: Aber die gerade die Lehrer fühlen sich durch diese Serie ja massiv angegriffen, die Empörung ist groß, die Diskussion ist heftig, das könnte ja was Fruchtbares sein. Jetzt hat es tatsächlich aber dazu geführt, dass die Serie abgesetzt wird. Wie werten Sie das?

Siegl: Ich muss sagen, die Diskussion um die Serie hat es von Anfang an gegeben. Nach der ersten Folge haben, wie gesagt, Kommunisten, Abgeordnete und Lehrer gefordert: sofort absetzen! Dann lief sie eine Woche. Dann kamen wieder Forderungen. Jetzt ist immerhin ein Drittel dieser 60 Folgen schon gezeigt worden, jetzt wird sie abgesetzt, begründet wird das nicht.

Vermutlich ist auf den Direktor des ersten Kanals Druck ausgeübt worden, denn er hat sozusagen der Regisseurin Carte blanche gegeben, sie kann machen, was sie will und muss sich jetzt dafür rechtfertigen. Und offiziell begründet wird das: Es kommen die Olympischen Winterspiele jetzt, und wir brauchen mehr Sendeplatz. Aber das glaubt natürlich keiner.

Heise: Wie geht die Regisseurin eigentlich damit um, Waleria Germanika, ist ja selber noch eine ganz junge Frau?

Siegl: Ja, sie ist eine junge Frau, eine sehr unkonventionelle, die selber sagt, ich war nie auf russischen Schulen, ich würde mein Kind da auch nicht hinschicken – sie hat wohl Privatunterricht gehabt –, und ist sehr talentiert, was Kinowesen betrifft. Sie hat eine Schmalspurausbildung als Kinoregisseurin, hat drei Filme gedreht, zwei davon haben Preise bekommen.

Da ging es auch immer um Jugendprobleme. Und sie dreht in ihrer Schule, sie sind da wie in einer Festung, es ist alles abgeriegelt, da kommen keine Journalisten rein, sie will nicht gestört werden, dreht Folge für Folge und hat sich jetzt geäußert, als sie gefragt wurde, die Serie wird abgesetzt, sagt sie, ich weiß davon nichts, ich drehe weiter meine 60 Folgen. Das macht sie auch, und irgendwie – selbst sollten die dann nicht mehr gezeigt werden die letzten restlichen 40 – kommen die übers Internet natürlich schon an die Leute heran.

Heise: Glauben Sie, dass diese ganze Geschichte dann doch etwas bewirkt fürs russische Schulsystem?

Siegl: Es hat vor allen Dingen erst mal eine Riesendiskussion in der Gesellschaft bewirkt. Man hat sich zum Beispiel in Moskau getroffen in Cafés, bei Zeitungsredaktionen und Pro und Kontra diskutiert. Das hat es seit, ich möchte sagen zehn Jahren nicht mehr gegeben, dass eine Serie, dass die Gesellschaft irgendwo wach wird und – ihre Probleme und Schulprobleme sind ja wichtig – wirklich diskutiert und die Leute sich äußern und es eben nicht nur im Internet stattfindet in der Bloggerszene, was auch wichtig ist, sondern öffentlich, wo die Leute hingehen können, und keiner ist unbeteiligt. Und das ist erst mal wichtig. Der nächste Schritt ist natürlich, dass diese Kritik an der Schule dazu führt, dass jetzt wirklich mehr ernsthaftere Formen in Angriff genommen werden.

Heise: Eine Fernsehserie über die Zustände an einer Moskauer Schule erregt die russischen Gemüter. Vielen Dank an die Journalistin und Russland-Kennerin Elfie Siegl für die Informationen und Einschätzungen.

Siegl: Ja, vielen Dank, hat mich gefreut!